Kapitel vom 26.05.1897: Brüderliche Zurechtweisung und Rechenschaftspflicht
„Jeden Monat soll der Obere oder sein Stellvertreter alle Oblaten wegen ihrer Fehler oder Verstöße gegen die Regel und Satzungen im Kapitel oder allein brüderlich zurechtweisen.“
Das ist ein Artikel, den wir bislang kaum beachtet haben: jeden Monat soll der Obere öffentlich tadeln. Wir haben das nicht regelmäßig getan, weil es für den Oberen nicht leicht ist und für den Untergebenen ganz und gar nicht angenehm. So steht es also damit… Es wird unvermeidlich sein, dass wir uns auch daran machen.
Formell bestimmen unsere Satzungen, die Rechenschaft sei nicht obligatorisch. Das Dekret des Papstes „Quemadmodum“ bestimmt, dass ein Oberer, der nicht Priester ist und sie dennoch verlangt, sich Schuld und damit eine kanonische Strafe zuzieht. Dieses Dekret, das uns also nicht betrifft, sondern nur Frauen- und Brüderkongregationen, wie die Christlichen Schulbrüder, wurde vor einigen Jahren verkündet, weil in mehreren Frauen- und Brüdergenossenschaften Missbräuche vorgekommen sind. Ich selbst erhielt Kenntnis von einigen wirklich sehr schweren Missbräuchen dieser Art. Kardinal Verga ergriff daraufhin eine bedingungslose und allgemeine Maßnahme, und wie alle Maßnahmen solcher Art trifft sie auch Kommunitäten, die sich nichts vorzuwerfen haben. Es wäre vielleicht auch schwer, eine ungleiche Maßnahme zu treffen, eine, die unterscheidet zwischen verschiedenen Kongregationen und die eine darin ein-, die andere davon ausschließt. Das Dekret macht also keinen Unterschied und betrifft alle Schwestern- wie Brüderkongregationen. In diesen Orden werden die Oberen und Oberinnen mit schweren Strafen belegt, die die Gewissensrechenschaft verlangen.
Das Dekret fügt aber hinzu, es stehe den Untergebenen frei, aus eigenem Antrieb diese Rechenschaft abzulegen. Will man den Vorteil einer religiösen Übung haben, dann muss man natürlich zwangsläufig auch diese Übung vornehmen. Die Rechenschaft, die sich auf die äußere Beobachtung der hl. Regel beschränkt ohne eine Offenlegung des Gewissens, fällt ganz und gar nicht unter die Bestimmungen des Dekretes. Sie kann infolgedessen auch von den Oberinnen sowie den Oberen der genannten Brüderkongregationen verlangt werden. Was nun uns betrifft, so sagen die Satzungen, der Obere oder sein Stellvertreter sollen allmonatlich die vorgefallen Fehler rügen.
Andererseits drücken sie auch aus, der Untergebene könne jeden Monat seinem Oberen Rechenschaft ablegen. Die Rüge ist also verpflichtend, die Rechenschaft freiwillig. Wenn Rom einerseits einen Abstrich gemacht und die strikte Pflicht zur Rechenschaft abgeschafft hat, so hat es andererseits, was den Tadel betrifft, eine Last hinzugefügt, und eine Pflicht daraus gemacht. Und das ist sehr gut so.
Soll das nun heißen, dass infolge des Dekrets und der dadurch veränderten Satzungen der religiösen Kongregationen die Rechenschaft, ihre Bedeutung verloren hat und vor allem, dass sie nicht mehr Geist der Kirche entspricht? Nein, die Kirche verbietet keineswegs die Rechenschaft, da sie ausdrücklich die freiwillige Eröffnung des Herzens vor dem Oberen gutheißt. Sie verbietet lediglich den Vorgesetzten, die Eröffnung des Herzens und Gewissens zu verlangen. Das Dekret sagt: „Das hindert die Untergebenen nicht im Geringsten, spontan und aus freien Stücken ihr Herz den Oberen zu eröffnen, in der Absicht, von deren Klugheit in ihren Zweifeln und Ängsten Rat und Leitung zu erhalte, zum Erwerb der Tugend und Fortschritt in der Vollkommenheit.“
Wir sollten darum die Heimsuchungsschwestern ebenso wie die Oblatinnen immer zu größter Einfachheit, Vertrauen und Offenheit gegenüber ihren Oberinnen anhalten, natürlich nicht in Dingen, die zum eigentlichen Gewissensbereichen gehören. Niemals hätte die Gute Mutter einer ihrer Töchter in der Rechenschaft erlaubt, ihr theologisches Vergehen zu enthüllen. Dieses Vertrauen steht in keiner Weise im Gegensatz zum Geist der Kirche und widerspricht nicht dem Dekret. Im Gegenteil bejaht und billigt es die Kirche, falls es frei und ungezwungen geschieht. Das entspricht völlig dem, was ich in der Heimsuchung die ganze Zeit praktizieren sehen und was bei den Oblaten und Oblatinnen geschehen sollte. Rechenschaft ablegen heißt nicht seine Sünden bekennen, sondern seine Seele und sein Herz aufschließen, seine inneren Neigungen, seinen guten Willen aufzeigen, und Licht und Rat erbitten.
Es gibt Seelsorger von Ordensfrauen, die das Dekret „Quemadmodum“ falsch interpretiert haben, um diese Herzenseröffnung der Oberin gegenüber in Misskredit zu bringen. Das ist ein schwerer Irrtum, besonders bezüglich der Heimsuchung, ein ganz beträchtlicher und kapitaler Irrtum.
Unterschied doch da Hausgeistlicher, dem es etwas an Urteil gebrach, in seiner Ordensgemeinde ganz öffentlich zwischen den „Töchtern der hl. Kirche“, die die Rechenschaft verweigerten und „Töchtern des hl. Stifters“, die vom Artikel III des Dekretes profitierten, um sie weiterhin zu üben…
Nach dem Wortlaut des Dekretes ist für die Ordensfrauen, Laienbrüdergenossenschaften wie auch bei uns den Satzungen gemäß die Rechenschaft nicht verpflichtend. Unterlässt man sie also, so begeht man keine Sünde, ja verstößt nicht einmal gegen die Regel. Aber begreifen wir wohl, meine Freunde, wenn wir die Rechenschaft unterlassen, verzichten wir damit auch auf die Gnaden, die mit ihr verbunden sind und die nach Aussage unseres Direktoriums von großer Wichtigkeit sind, um den Geist des Institutes in seiner Vollkommenheit zu erhalten. Fehlt also die Rechenschaft, so wird der Geist der Kongregation Schaden leiden. Dieser Geist wird aber, so er beachtet wird, den Himmel mit Seelen bevölkern.
Das ist also die Einstellung, die es zu wahren gibt gegenüber Ordensleuten. Niemals dürfen wir eine Ordensfrau ihrer Oberin entfremden und ihr Herz wie ihren Mund vor ihr verschließen helfen. Natürlich soll man sie nicht zur Oberin schicken, dass sie ihr die Sünden beichte und ihr Gewissen offenbare. Wohl aber soll unser Bemühen dahin gehen, dass sie ihr Herz der eröffne, die ihre Mutter ist. Bei der Verkündigung des bewussten Dekretes wurde viele Torheiten und üble Dinge gesagt und getan: der Beichtvater sei künftig dafür da, alles zu tun und zu entscheiden, wenn er den Geist der Kirche sich zu eigen machen wollen, die Oberin sei nichts mehr. Es fehlte nicht viel, dann hätte der Beichtvater alle Erlaubnisse erteilt, alle Rügen ausgesprochen in eigener Regie die Ordensgemeinde geleitet. Der Oberin stand kein Recht mehr zu… Jeder von uns hat nur so viel Wert, als er sich innerhalb der Grenzen seiner Jurisdiktion und seiner ihm übertragenen Amtsverrichtungen hält. Verharren wir also in bedingungsloser Übereinstimmung mit dem, was die Regeln und Satzungen vorschreiben. Nur so werden wir nützliche Menschen sein. Seid überzeugt, aus euch selbst habt ihr nur eine sehr bescheidene Kapazität. Und verfüget ihr über höchste Fähigkeiten, so müsstet ihr euch allezeit auf das stützen, was euch vorgezeichnet ist, wie man in der Heimsuchung sagt, auf das also, was in den Regeln, Satzungen und im Direktorium steht. Auf diesem Boden heißt es unsere Talente, unsere kleinen und großen Fähigkeiten entfalten. Es geht wahrlich nicht darum, dass wir Neues schaffen. Wer sind wer denn, dass wir Neues einführen wollten…
Diese hl. Regel hat ja der hl. Franz v. Sales für sich selbst aufgezeichnet. Tausend Mal sah ich, wie die Gute Mutter sich an Priester, Professoren der Theologie, Verheiratete, junge Mädchen und Weltleute wandte, die sie um Rat fragten, und ihnen immer die natürlichsten Mittel anempfahlen, den Gehorsam gegenüber der Pflicht. Das war ihr das erste Gebot von allen. Das hatte sie in der besten Theologie geschöpft. Die Vollkommenheit lag für sie immer in der absoluten Übereinstimmung mit den Geboten der Kirche, mit den Satzungen, mit den Familienpflichten.
Immer, wenn wir in der Seelsorge tätig sind, in Beichte, Seelenführung, Predigt, denken wir dann immer an jene, an die wir uns wenden wollen. Die Menschen, die da vor uns stehen, gilt es ins Auge fassen. Nehmen wir keine Rücksicht auf uns, sondern nur auf sie!
Wir haben im richtigen Augenblick das Patronage St. Charles bekommen (Anm.: „Patronage ist ein Heim, in das die Eltern ihre Kinder schicken, damit sie dort nützlich unterhalten und beaufsichtigt werden.“). Es ist eines der bedeutendsten und ältesten Jugendwerke von Paris. Wie oft hat mir der Herr Legentil gesagt: „Pater Brisson, bilden Sie Oblaten aus, und zwar viele! Füllen Sie die Welt mit Oblaten! Damit werden Sie die Kräfte der Kirche verdoppeln. Zehn Hausgeistliche sind hier aufeinander gefolgt in St. Charles, doch alle haben sich mit dem Direktor überworfen, und der Erzbischof konnte uns keinen neuen mehr geben. Seit die Oblaten hier sind, seit P. Delage und P. de la Charie Hausgeistliche sind, haben wir Ruhe und alles klappt. Sie erfüllen ihre Aufgabe, ohne sich in etwas einzumischen, was sie nichts angeht. Sie stellen sich gern in den Hintergrund, um dem Direktor seinen vollen Platz einzuräumen. Sie bleiben schön auf dem ihren und vergessen ganz ihre persönlichen Meinung und Gewohnheiten. Ich danke Ihnen vielmals, dass Sie uns Oblaten gegeben haben.“ Es klappt dort also ausgezeichnet.
Unsere Art zu urteilen und zu handeln, unser Tun und Wollen sollte sich jederzeit in der Richtung bewegen, die in den Häusern, wo wir arbeiten, in den verschiedenen Situationen und Kongregationen eingehalten wird. Tut, was man von euch verlangt, was eure Aufgabe und eure Pflicht ist. Mischt euch nicht Dinge, die euch nichts angehen.
Ein Vorfall: Der Bischof versetzt einen Geistlichen an einen Schwesternkonvent. Er war da, um die hl. Messe zu lesen, die Beichte zu hören, einige Vorträge zu halten. Der Hausgeistliche aber wirft sich Hals über Kopf in die Verwaltung der zeitlichen Geschäfte der Ordensgemeinde, in Fragen, die das Finanzamt und die Steuern betreffen. Er stellt das ganze Haus auf den Kopf und betreibt offene Rebellion gegen den Bischof. Soeben hat man ihn seines Amtes enthoben. Hätte er demütig seine kleine Arbeit getan, sein Brevier gebetet, seine Nonnen beichtgehört, er wäre auf seinem Posten geblieben, das Haus hätte Frieden bewahrt und er mit ihm.
Ich komme auf den kleinen Artikel der Satzungen zurück, den ich soeben vorgelesen habe: „Jeden Monat soll der Obere oder sein Stellvertreter alle Oblaten wegen ihrer Fehler oder Verstöße gegen die Regel…zurechtweisen.“
Ich bin euer Gründer und darf meine Meinung vortragen: Sobald wir hinreichend gute Ordensleute geworden sind, werden wir alle öffentlich diesen Tadel hinnehmen. In der Heimsuchung nennt man das „Ermahnung im Kapitel“. Eine Schwester steht beim Kapitel auf und bittet um die Erlaubnis, dieser oder jener Schwester, die z.B. zu spät zum Offizium oder sonst zu einer Übung kommt, eine Ermahnung auszusprechen. Solch eine Ermahnung erteilen ist schwer. Wir können es noch nicht durchführen, wir sind nicht eifrig genug, glaube ich. Sobald man in einem Haus imstande ist, diese Ermahnung zu erteilen und zu empfangen, wird man es auch tun müssen. Das Ordensleben lässt uns nach außen hin erst dann Wunder vollbringen, wenn wir anfangen, sie auch im Inneren des Klosters zu wirken. Darum möge man die brüderliche Zurechtweisung unter vier Augen oder bei der Rechenschaft vornehmen, bis wir genügend in der Tugend gefestigt sind, sie auch öffentlich durchzuführen.
Es gilt, die Gesetze des Gleichgewichtes wohl zu beachten. Legt auf die eine Schale einer Waage 100 Kilogramm. Lege ich nun auf die andere Schale das gleiche Gewicht, so herrscht Gleichgewicht. Lege ich aber 110 Kilogramm darauf, so sinkt diese Schale, und das Gleichgewicht ist gestört. Mit dem moralischen Gleichgewicht verhält es sich ähnlich. Angenommen ihr wollt etwas Großes vollbringen, große Gnaden von Gott erlangen, eine Mission zum Erfolg führen, die Seelen eines Sünders retten, eine Sache von großer Wichtigkeit durchsetzen, dann müsst ihr auf die andere Waagschale ein hinreichend schweres Gewicht legen, das das Gleichgewicht herstellt… und sogar noch mehr… Es heißt also Gott an Tugenden, an Opfern und Verzichten ein bisschen mehr anbieten.
Wir müssen Herz, Energie und Ausdauer beisteuern, um etwas zustande zu bringen. Ohne das geht es nicht. Reden ist ja gut, denn es zeigt den einzuschlagenden Weg an. Das heißt aber nicht, dass man darauf den Weg auch schon geht. Wollen wir zum Reden also auch das Gehen auf diesem Weg hinzufügen, dann müssen wir jemand bei der Hand nehmen und ihn gewissermaßen tragen, müssen unsere Person einsetzen.
Wie soll das geschehen? Mit der Methode des hl. Franz v. Sales. Wir wählen also die passendsten Mittel, jene, die nicht demütigen und den Nächsten nicht abstoßen, sondern ihn im Gegenteil ermutigen, zur Pflicht „Ja“ zu sagen. Wir lernen ihn die Art und Weise, wie er sich dabei verhalten hat. Nur so werden wir Erfolg haben. Wir gehen dann selber den Weg und bringen auch die anderen dazu, ihn zu gehen.
Der sittliche Mensch muss sich in uns formen und mehr und mehr festigen. Für uns ist der sittliche Mensch aber der Ordensmann, der gute Ordensmann. Trainieren und arbeiten wir an uns selbst. Nur so gelingt es uns, eine wirkliche und mächtige Persönlichkeit aus uns zu formen.
Erbitten wir das vom hl. Franz v. Sales und der Guten Mutter. Wendet euch oft an die Gute Mutter. Aber das war doch nur eine Frau… Meine Freunde, ich bin bereits etwas alt und zähle bald achtzig Jahre. Ich kannte sehr viele Männer und ebenso viele Frauen in meinem Leben. Wenn ich all meine Erinnerungen wachrufe, alles, was ich gesehen und gehört habe, so kann ich sagen: Es gibt sehr wenige Menschen, die die moralische Kraft und die praktische Intelligenz der Guten Mutter erreicht haben. Ich kann sagen, dass die Gute Mutter für mich eine Persönlichkeit, ja eine starke Persönlichkeit darstellte.
„Gib mir Herr die Weisheit, die an deiner Seite thront.“ Betet oft darum (um Weisheit). Dann wird euch zum Lohn ein weites Herz geben, so weit wie das Meer. Er wird euch eine Intelligenz verleihen, die alle Geheimnisse durchdringt, vom Ysop bis zur Eiche und zur Zeder des Libanon, von der Ameise bis zum Elefanten, wie es in der Geschichte des Königs Salomon heißt.
D.s.b.
