Kapitelvorträge für die Oblaten 1873-1899

      

Kapitel vom 19.05.1897: Wie man einem salesianischen Kloster gut vorsteht

„Die Hausoberen bleiben drei Jahre im Amt… Der Generalobere soll alle drei Jahre die Häuser des Institutes visitieren.“

In unserer Zeit lässt sich die Welt nicht mehr wie früher regieren. Die Autorität genießt wenig Achtung. Es genügt, das Wort Autorität in den Mund zu nehmen, um allgemeine Unzufriedenheit und allseitige Beschwerden zu erregen. Wir müssen infolge dessen andere Methoden wählen.

Zunächst ist es erforderlich, dass der Obere selbst ein guter Ordensmann sei, die hl. Regel treu befolge, bevor er sie von seinen Untergebenen beobachten lassen will. Das erste und hauptsächliche Mittel ist das Gebet, das Gebet in allen Anliegen.

Du bist Direktor eines Kollegs. Damit hast du eine erdrückende Verantwortung und eine Last zu tragen, die dich zermalmen könnte. Du hast deine persönlichen Ansichten, hast diese oder jene Schwierigkeit: bete also! Ohne Gebet kannst du nie Erfolg haben. Es wäre Torheit, dies überhaupt versuchen zu wollen. Die Zeiten sind schwierig. Gehässigkeit und Böswilligkeit umgibt euch. Dieser böse Wille ist vielleicht noch nicht bis zu euren Untergebenen vorgedrungen… Dennoch aber: singt nicht jedermann heutzutage in etwa die gleiche Melodie? So betet denn! Man muss an erster Stelle und jederzeit beten! Empfehlt Gott die Dinge, Menschen und Geschäfte, die euch angehen! Denkt daran in eurer Betrachtung, beim Breviergebet, bei der hl. Messe und bittet Gott um Hilfe! Seien wir übernatürliche Menschen. Soweit über das erste (Hilfsmittel der Leitung).

Es gibt aber noch ein weiteres: Der Obere muss jene, die ihn umgeben, lieben. Zu denen, über die wir gesetzt sind, müssen wir Liebe hegen. Wie soll man aber einen Charakter gern haben, der dem euren diametral entgegengesetzt ist? Er hat Ansichten, die den euren widersprechen. Selbst rein natürlich seid ihr einander unähnlich: er liebt die Ruhe, ihr die Aktivität. Er lautes Getue, ihr das Stillschweigen… Nun gut, in der Liebe müsst ihr das Mittel finden, diese Unterschiede auszugleichen. Gerade diese Schwierigkeiten sollten zu einem Mittel werden, um euch in der Einheit mit ihm zu erhalten. Denn ihr selbst habt nicht alles, was ihr bräuchtet… Er kann euch ergänzen. Sagt zu euch selbst: Hätte ich einen, der mir in allem gleich wäre, würde es dann etwa klappen? Bestimmt nicht. Lieben wir also jeden! Nehmen wir Rücksicht auf andere Charaktere, auf die Umgebung, in denen jene gelebt haben, deren Mitarbeit euch zuwider ist. Legt all das, wie der hl. Stifter sich ausdrückt, in den Schmelzofen, in die Retorte… Sagt also zu euch selbst: Den und den Vorteil muss mir das einbringen an gutem und reinem Cognac (Anm.: „französische Redewendung; im Deutschen schlecht zu übersetzen.“)! Lieben wir im fehlerhaftesten Mitbruder das Gute, das Gott in ihn gelegt hat, die Gabe Gottes. Betrachten wir ihn von dieser Seite in all unseren Beziehungen zu ihm, in unserer Einschätzung und unserem Urteil. Gewiss, macht er sich straffällig, so darf man das nicht einfach übergehen. Die Liebe darf nicht zur Schwachheit werden. Müssen wir ihn tadeln, so geschehe es mit Liebe, sodass er immer unser Wohlwollen spürt.

Auf diese Weise sollen wir unsere Untergebenen lieben. Was wird die Folge davon sein? Unsere Umgebung wird uns zunächst einmal hochschätzen. Sodann wird man uns gehorchen und wieder lieben. Man hat Vertrauen zu uns gefasst.

Im kleinen Seminar hatte ich als Lehrer Herrn Auger, einen heiligmäßigen und gelehrten Priester. Was mich bei ihm am meisten überraschte, war die Ehrfurcht, die er all seinen Schülern bewies, selbst den Unbegabtesten. So müssen auch wir, meine Freunde, unsere Schüler hochachten, alle, die uns anvertraut sind. Niemand ist so arm, dass er in sich nicht einen Strahl Gottes bergen könnte. Davon heißt es ausgehen, von diesem Strahl, um ihn jederzeit mit aller Ehrfurcht zu behandeln. Seid euch aber wohl darüber klar, dass es dazu eines guten Urteils bedarf, eines gesunden Hausmannsverstandes, der freilich nicht jedermanns Sache ist. Wir sollen nicht den tatsächlichen Wert desjenigen unterschätzen oder verachten, mit dem wir es zu tun haben.

Und noch einmal: Hier handelt es sich um einen bedeutsamen Punkt. Diese Einstellung sollen wir auf alles anwenden, was uns im Leben begegnet, auf rein alles… Angenommen, wir sind in einem Konvent angestellt: Unterstützen wir die Oberin bei ihren Schwestern und schlagen wir keine Breschen in ihre Autorität. In der Familie kommt es darauf an, Vater und Mutter recht zu geben, oder wenigstens, wo Wahrheit und Gerechtigkeit dies verbieten, zu versuchen, sie zu entschuldigen, zu verteidigen. Denn die Ehrfurcht gilt es immer zu retten, wenn wir schon nicht immer die Autorität retten können. Befolgen wir diese Regel, dann ziehen wir uns Vertrauen zu und tun viel Gutes. Unsere eigene Person muss in den Urteilen, die wir fällen, zurücktreten, und die Gabe Gottes heißt es vor allem anderen ins Auge fassen. Das sollt ihr beachten, bevor ihr die Persönlichkeit irgendjemandes beurteilen wollt. Und dann stellt vor allem eure eigene Person in den Hintergrund, um der göttlichen Wirksamkeit Raum zu lassen.

Das gilt für alle Bereiche. Wenn ihr zum Priester geweiht werdet, die Würde des Priestertums empfangt, sagt zu euch: „Ihr müsst vorstehen, leiten.“ Wie aber vorstehen? Nun, ihr müsst eben die Seelen leiten, die euch unterstellt sind, die Angelegenheiten jener, die euch unterstehen, entscheiden, das Kloster oder Haus, deren Oberer ihr seid, verwalten, die Schüler, die ihr unterrichtet, lenken… Was heißt also vorstehen, leiten? Es heißt vor ihnen und über ihnen stehen, um zu sehen, zu erkennen, zu beurteilen, zu unterstützen, zu verteidigen… Unser Ich darf da nicht zu einem Dämpfer, zu einem Kerzenlöscher werden, der das göttliche Licht, den Hl. Geist in den Seelen zum Erlöschen bringt. Das ist die Hauptbedingung, um ein guter Vorsteher zu sein.

Und die erste Folgerung aus diesem Vorgehen? Es ist die Ehrfurcht, die wir unseren Mitbrüdern und Schülern, allen uns anvertrauten Seelen bezeigen sollen. Auf diese Weise bereiten wir auch die Kinder der ersten heiligen Kommunion vor. In jedem dieser Jungen liegt eine Gabe Gottes verborgen, die zu achten ist. Diese Ehrfurcht, die wir dem Kind erzeigen, wird in seinem Gedächtnis haften bleiben. Gern wird er später an diesen großen Tag zurückdenken, denn der damalige Eindruck ging tief und bleibt bestehen.

Das ist unsere Erziehungsmethode, unsere Verhaltensweise denen gegenüber, die unsere Autorität auf irgendeine Weise untergeordnet sind. Da wo jemandes Fähigkeiten aufhören, wo er spürt, dass wir diese Grenze respektieren, wird er uns Dank wissen und uns tief verbunden bleiben. Seelenführung ist keine Verwaltungssache, die mit Hilfe eines mehr oder weniger offiziellen Formulars erledigt wird. Hier geht es um Seelen, um Intelligenzen, um Herzen. Nicht weil man irgendeine Geschicklichkeit, eine Vervollkommnungsprozedur oder ein angeblich unfehlbares Mittel erfunden hat, wird alles klappen. Um ein Haus zu bauen, muss man das Material da nehmen, wo es liegt. Mit den Seelen, mehr als mit Hilfe eurer eigenen Ideen und Fertigkeiten, mit den Seelen, so wie sie sind, mit der Gabe Gottes in ihnen, werdet ihr etwas zustande bringen.

So mache sich jeder an seine Aufgabe und sage sich: Das ist zu tun. Das ist mit vorgeschrieben, das ist mir aufgetragen worden… Und das soll ich von anderen ausführen lassen, und dem, der es ausführen soll, will ich in seiner Schwachheit beistehen. Die Oblaten sollen Männer von Herz und Urteil sein, die die Tatsachen und das zu erreichende Ziel klar ins Auge fassen. Mit Gebet, Nachdenken und Klugheit erreichen sie etwas und tun Gutes.

D.s.b.