9. Vortrag: Über die Abtötung
Freitag Vormittag, 12. September 1879
Meine Kinder, gestern Abend sagte ich euch, was man tun muss, um vom lieben Gott den Geist der Betrachtung zu erhalten und dieses vertrauliche Gespräch voll Liebe und Vertrauen zu führen, das das Glück des Ordenslebens ausmacht. Das Stillschweigen ist dafür eine wesentliche Voraussetzung. Es ist unmöglich, dass wir von ihm diese wertvolle Gabe erhalten, wenn unsere Zunge nicht schweigen kann. Einige werden vielleicht sagen: „Aber ich habe keinen Anspruch, sie zu erhalten.“ Nun, ihr liebt Gott nicht.
Warum werdet ihr Nonnen, wenn nicht deswegen? Es ist also, um ein leichteres Leben zu führen, um euch einem Teil der Schwierigkeiten der Welt zu entziehen, um euch von den Aufgaben, den Lasten zu befreien, die euch das weltliche Leben auferlegen würde, um nicht verpflichtet zu sein, für das Leben jener zu sorgen, denen ihr beistehen müsstet? Wenn ihr nicht an diesem Geist der Betrachtung festhaltet, habt ihr nicht das Gefühl dafür, was das Ordensleben ist, so als ob ihr Nonnen werdet, wie ihr jedweden anderen Beruf ergreifen würdet.
Sagt also nicht, dass ihr nicht ähnliche Ansprüche habt. Es ist unmöglich, dass wir nicht das Bedürfnis empfinden, Gott zu lieben. Wir dürfen uns nicht selbst genügen, wir müssen das Bedürfnis haben, Gott zu lieben, aus ihm zu leben, ihm ständig ganz zu gehören. Das ist das Ordensleben. Um dorthin zu gelangen, ist es unerlässlich, das Stillschweigen zu wahren. Und wieder, das genügt nicht, es ist nur ein Teil unserer Verpflichtungen. Es bedarf unter anderem, dass wir ein abgetötetes Leben führen.
Man muss sich durch die Ausübung des Geistlichen Direktoriums abtöten. Wir müssen uns darauf vorbereiten, anzunehmen, was uns der liebe Gott in der Fülle seiner Liebe schicken wird. Unser Leben muss ein leidendes Leben sein und wir müssen uns gerne abtöten. Ist das ein unglückliches, bitteres Leben? O, nein! Ist es ein glückliches Leben? Ja, es ist das Paradies auf Erden, es ist der Teil, den der gute Meister auf Erden für sich selbst wählte. Um im Himmel einen guten Teil der Anschauung Gottes zu haben, muss man den Teil des lieben Gottes auf Erden haben. Nun war dieser Teil das Leiden, die Arbeit, die Agonie, der Tod. Ist es denn so traurig, so schwer? Es ist überhaupt nicht traurig. O nein! Sagte nicht die heilige Teresa von Avila: „Entweder leiden oder sterben, weil ich nicht ohne leiden leben will“? Müssen wir leiden wie die heilige Teresa? Ohne von ihren inneren Qualen zu sprechen, sie war der Migräne sehr unterworfen, sie hatte so heftige Zahnschmerzen, dass sie sagte: „Ich muss einen sehr harten Kopf haben, um dem zu widerstehen.“
Welche unter euch würde bei heftigsten Zahnschmerzen sagen „Immer, mein Gott, ich will immer so leiden“? Niemand. Die heilige Teresa sagte es, denn sie verstand das Glück, unseren Herrn zu lieben, das Glück, für ihn zu leiden. Und dennoch schrieb sie in ihren Briefen: „Unmöglich weiter zu machen, denn ich habe Zahnschmerzen, die mich hindern, klar zu denken.“ Wenn sie nicht gelitten hätte, würde man sagen, dass es nicht schwer zu wünschen war, aber sie litt unsäglich, und sie fand darin ihre Wonne. Es ist tatsächlich das Paradies, mit dem lieben Gott zu sein. Es ist sehr schön, an allen seinen Glückseligkeiten, an seinem ganzen Ruhm teilzuhaben, aber es ist auch sehr gut, auf Erden Anteil an seinem Leiden zu haben. Wer hat den größten Schmerz empfunden? Er, er sagte es selbst durch seine Propheten: „Ich bin der, der sühnte, der litt.“ Der heilige Franz von Sales, dieser von Gott so sehr erleuchtete Kirchenlehrer, will, dass wir vor allen wichtigen und unwichtigen Handlungen die Ausrichtung der Absicht machen, die die Annahme aller Mühen und Abtötungen im Vorhinein vorausahnt, auf die man dort stoßen wird.
Wenn ihr gute Oblatinnen des heiligen Franz von Sales sein wollt, müsst ihr verstehen, dass man nicht in das Ordensleben eintritt, um nicht leiden zu müssen. Wenn wir bis jetzt bezüglich der Abtötung nicht mehr verlangt haben, so weil ihr nicht verstanden hättet, was zu machen ist. Das Ordensleben ist ein Leben des Gehorsams, des eigenen Absterbens. Das war das Leben des heiligen Franz von Sales, es ist das Leben, das wir alle führen müssen. Sucht also nicht, das Leiden zu vermeiden. Ich glaube sogar nicht, dass es gestattet ist, zufrieden zu sein, weil man nichts Verwirrendes, Ärgerliches hat. Nein, das ist der Geist der Welt, das ist nicht der Ordensgeist. Schlagt eine andere Gangart ein, habt kein zerstreutes Aussehen, ein Aussehen, das nicht den lieben Gott fühlen lässt. Ich habe euch schon von der Guten Mutter Marie de Sales Chappuis erzählt. Ich habe euch gesagt, dass sie, wenn sie die Heilige Messe verließ, ganz erfüllt von Gnaden schien. Sie verbreitete nach dem schönen Ausdruck des heiligen Paulus den Duft Jesu Christi (vgl. 2 Kor 2,14). Wir müssen ihr gleichen. Und wie werden wir dahin gelangen? Durch die Abtötung. Wir müssen immer leiden. Die Nahrung ist nicht nach unserem Geschmack, die Schuhe drücken uns, man hat uns gedemütigt … Seien wir zufrieden. Es soll keine Oblatin des heiligen Franz von Sales, ohne eine Vierteilstunde zu leiden, eine halbe Stunde, ohne zu leiden, ist schon sehr lang.
Seht, man zeigt euch immer unseren Herrn, der ans Kreuz geheftet ist. Man stellt ihn euch nicht immer im Himmel oder auf dem Berg Tabor dar, aber wohl überall gekreuzigt, weil das Kreuz sein ganzes irdisches Leben war. Er trug das Kreuz seit dem ersten Augenblick seines Lebens hier auf Erden. Es war in seinem Herzen, da er wusste, dass er daran geheftet wird. Versteht das gut, denkt daran. Ist es ärgerlich? Nein. Ist es beglückend? O ja, tausendfach beglückend! Lasst also keinen mühevollen Umstand vorbeigehen, ohne ihn zu nutzen. Da ist das Mittagessen, das euch nicht so sehr zusagt, seid glücklich. Die Kinder sind schwierig, das ist gut. Diese Erholung ermüdet euch, das ist köstlich! Da seid ihr nun mit Arbeiten überhäuft, der Tag ist lang, ihr könnt nicht mehr, o, wie ist das gut! Sagt mir unserem Herrn: „Mein Joch ist süß und meine Last ist leicht“ (vgl. Mt 11,30).
Lieben wir es, etwas zu entbehren, lieben wir die innere Abtötung, die Bitternisse, die innerlichen Beunruhigungen, dadurch lässt uns der liebe Gott vorwärts kommen. Wenn wir von unserer frühen Kindheit bis zu diesem Tag immer gelitten hätten, o, wir wären wir glücklich! Wenn es auf Erden ein kleines Geschöpf gäbe, das von seiner Geburt bist zu seinem Tod nur Schmerzen, Ängste und Qualen hätte, würde es der liebe Gott im Himmel am meisten lieben und es würde verdienen, die ganze Ewigkeit gesegnet und gepriesen zu werden wegen der Leiden, die es erduldet hätte.
In der Biografie unseres seligen Vaters [Franz von Sales] sehen wir, wie sehr er abgetötet war. Er machte das ganz einfach und nahm alles an, das sich anbot. Eines Freitags hatte man ihm Eier gekocht, aber sie wurden aus Versehen zurückgezogen und man brachte ihm nur das heiße Wasser, in dem sie gelegen waren. Er tauchte sein Brot ein und aß es, ohne etwas zu sagen. In seinem Heiligsprechungsprozess ist zu lesen, dass er sich auf ein Stück Holz kniete. Er hatte Schwindelanfälle und betete auf den Knien, bis er umfiel, so sehr war er darauf bedacht zu leiden. Wenn er zur Ehre Gottes zu arbeiten hatte oder dem Nächsten einen kleinen Dienst erweisen musste, erlegte er sich wahre Opfer auf, und so wurde sein Leben ein andauerndes Leiden.
Wohlan, meine Kinder, das ist wahr, das ist sicher, das ist gut. Habt den Glauben, und dieser Glaube lasse euch ständig die Abtötung suchen. Das wird für euch weniger hart sein als ihr denkt. Die Leute, die immer gesalzene Speisen essen, gewöhnen sich daran. Gewöhnt euch also an die Abtötung. Nichts ist beglückender und gibt so viel Kraft und Glück. Die Franziskaner, die Karmeliter, die Angehörigen der härtesten Ordensgemeinschaften sind die fröhlichsten. Die gut abgetöteten Personen sind nicht traurig. Alle Heiligen waren so. Der liebe Gott gestattet es so.
Im Heimsuchungskloster von Troyes kannte ich auch sehr abgetötete Seelen. Schwester Marie-Louise, deren Familie zum Rückkauf des Klosters nach der großen Revolution beigetragen hatte, war sehr abgetötet. Sie hatte von unserer Guten Mutter Marie de Sales Chappuis die Gnade erhalten, von den Resten der Klostergemeinschaft zu leben, von dem, was man in den Tiegeln gelassen hatte. Sie sagte: „Ich bin sehr eigenwillig, aber mein Magen ist es noch mehr als ich. Er braucht ein Gemisch.“ Am Ende ihres Lebens bemerkte man, dass sich ihr Magen dem kaum anpasste, und man machte ihr ganz absichtlich ein kleines Haschee, aber sie glaubte immer, dass sie die Reste ihrer Mitschwestern aß. Sie war auch sehr arm in ihrer Kleidung. Eines Tages sahen Arbeiter, die im Kloster arbeiteten, bei ihr durchlöcherte Taschentücher. Einer von ihnen sagte zu seiner Frau, sie solle ihr einige gute Taschentücher für eine arme Klosterschwester geben, die keine hätte, und er brachte sie ihr. Diese „arme Klosterschwester“ war die Tochter des Gerichtspräsidenten von Auxerre, die Wohltäterin des Klosters.
Wenn man eine schwache Gesundheit hat, kann man solche Härten nicht machen. Dann dient das Übel, das man erleidet, als Abtötung. Diese Abtötung sei euer ganzes Glück, meine Kinder. Wenn es einem gut geht, muss man sich selbst leidend machen. Das ist härter.
Macht das. Ich werde euch gern haben, wenn ihr so ohne Mühe, sanft abgetötet seid, um unserem Herrn ähnlich zu sein, der uns durch sein Leiden zurückkaufte. Bittet die heilige Jungfrau um diese Gnade. Sagt ihr: „O Maria, lass mich alle deine Schmerzen teilen, damit ich mit dir leiden, dulden und verzichten kann.“
Bittet heute darum, und dass etwas davon in euer Leben eingeht. Ich rechne damit, und in dieser Hoffnung segne ich euch. Amen.