Exerzitienvorträge für die Novizinnen der Oblatinnen 1879

      

7. Vortrag: Über die vertraute Einheit mit Gott

Donnerstag Vormittag, 11. September 1879

Meine Kinder, bis jetzt haben wir gemeinsam nur über eine einzige unserer Ordensübungen nachgedacht. Dennoch sind wir bereits bei der Hälfte unserer Exerzitien angekommen und haben und nur mit der Betrachtung beschäftigt. Warum haben wir uns so lange bei demselben Thema aufgehalten? Weil die Betrachtung der Ausgangspunkt des ganzen Tages ist. Sie ist die wichtigste Übung, ich sage nicht die heiligste, die erhabenste, aber die wichtigste des Tages.
Wenn ihr wegen einer Arbeit, die der Gehorsam euch gab, die Betrachtung nicht machen könnt, ersetzt sie, indem ihr dem lieben Gott sagt: „Da ich heute Morgen nicht mit dir sprechen konnte, will ich es den ganzen Tag lang machen.“ Nichts ist besser, als diese Betrachtung. Die Erfahrung beweist, wenn wir am Morgen die Betrachtung nicht machen konnten, beschäftigen wir uns innerlich mit den Dingen Gottes, während wir unsere Beschäftigungen verrichten, unser Herr ist dann zu uns von einer väterlichen Güte, von einer unvergleichlichen Güte wie eine Mutter, die am Morgen ihr Kind nicht küssen konnte, es umso mehr am Tag liebkost. In dieser Handlungsweise liegt das Geheimnis unseres Lebensglücks. Wir haben nicht die weltlichen Freuden, wir müssen den Zerstreuungen der Zeit ganz fremd sein. Als Gutes für unser Herz haben wir die Gegenwart Gottes. Als Glück haben wir die Verbindung mit dem lieben Gott. Das ist unsere ganze Sache. Welche Vergnügungen, welche Freuden haben wir außerdem, da uns alle anderen verboten sind? Und selbst wenn sie es nicht wären, würden sie uns nicht glücklich machen.
Wenn ihr also eure Betrachtung am Morgen nicht werdet machen können, macht sie den ganzen Tag durch die treueste Übung des Geistlichen Direktoriums, durch alles, was ich machen werdet, und indem ihr gut annehmt, was sich an Mühsamen und Schmerzhaftem bietet. Dann wird eure Einheit mit Gott vollständig sein.
Macht so eure Betrachtung den ganzen Tag und hütet die Gegenwart Gottes sehr liebevoll, sehr vertraulich. Durch dieses Leben der Innerlichkeit werdet ihr dem lieben Gott angenehm sein. Die Schönheit der Königstochter ist nicht nach außen; nicht durch die Diamanten, mit denen sie geschmückt sein kann, soll sie glänzen. Die Heilige Schrift sagt es: Die Schönheit der Königin ist ganz innerlich; aus diesem vertraulichen, verborgenen Leben besteht ihr Glück. Und vor allem für euch gibt es kein anderes. Wenn ihr gut in eurer Berufung seid, hoffe ich, dass ihr dort hingelangen werdet; und dann werdet ihr so sein.
Versteht also gut unsere Seinsweise. Sie ist da, im Ruhen der Seele in Gott, im völligen Gehorsam, der uns durch Wasser und Feuer gehen lässt, und uns sogar zum Martyrium gehen lässt, ohne uns dafür unseren Frieden, unsere Ruhe, unsere innere Rast zu nehmen. Unser ganzes Leben ist da, das der Zeit und das der Ewigkeit, denn wir haben nicht zwei Leben.
Meine Kinder, als ich euch gründete, hatte ich für euch keinen Gedanken der Eigenliebe, keinen Anspruch auf „Super Vorzüglichkeit“, aber ich hatte einen sehr großen Ehrgeiz. Oftmals, ich würde fast sagen ständig sagte mir die Gute Mutter Marie de Sales Chappuis, was sie vom lieben Gott erhielt, war nicht für sie, gehörte ihr nicht, es sollte für andere sein und sie beauftragte mich, es zu vermitteln. Was sie mir sagte, hat meine Ansprüche auf euch sehr gesteigert. Ich wünsche also, dass eure Seelen ganz heilig sind, das heißt gut, gefügig, Gott ganz hingegeben; die Gnaden, die mir die Gute Mutter Marie de Sales Chappuis versprochen hat, werdet ihr in Fülle erhalten, wenn ihr tugendhaft werdet. Das wird geschehen, wenn ihr es wollt, aber ihr müsse es aufrichtig und innig wollen. Diejenigen, die diesen Willen Gottes für sie verstehen werden, werden ihn leichter erfüllen. Die, welche nicht gut verstehen werden, werden es dem lieben Gott sagen.
In einer Familie betet man gemeinsam. Der Vater, die Mutter verstehen völlig, was sie sagen, warum sie den lieben Gott bitten. Die älteren Kinder verstehen es ebenfalls, aber die kleinsten verstehen nichts. Sie können noch nicht beurteilen und dennoch ist ihr Gebet vor dem lieben Gott gut und wunderbar, weil sie es wie ihr Vater, ihre Mutter machen wollen. Sie verstehen nicht, was sie machen, aber sie wissen, dass man es machen muss. In der Ordensgemeinschaft ist es ebenso. Es sollen die, die nicht gut verstehen, ihren Willen dem Gehorsam geben. Sie werden die kleinen Kinder, die Auserwählten, die Freundinnen des lieben Gottes sein, die, von denen unser Herr sagte: „Lasst die Kinder zu mir kommen; es werden nur die ins Himmelreich eingehen, die ihnen gleichen“ (Vgl. Mt 19,14).
Ich sage euch das, weil ich mir wünsche, dass jede sehr großmütig ist. Fürchtet nicht das ein wenig harte Leben, das abgetötete, demütige, abhängige Leben. O, fürchtet das nicht, es bringt die Einheit mit Gott. Nicht die Handlung des Geistes, das Mühen des Willens erreicht das, sondern der Gehorsam. Ihr sagt: „Die Ordensregel, der Gehorsam, das ist hart!“ Ich wünschte, dass es das hundert Mal mehr wäre. „Es ist hart, demütig zu sein!“ O, wie möchte ich hundert Mal mehr Demut sehen! Wenn man nicht mit sich ist, ist man mit dem lieben Gott, ist man bei ihm. Ich möchte, dass es euch so unangenehm ist, bei euch zu wohnen, damit ihr nicht mehr dort bleiben könnt. Dann werdet ihr mit dem lieben Gott sein.
Wenn ihr wüsstet, wie gut die Betrachtung für jene ist, die aus sich selbst herausgehen wollen. Hört gut zu! Diejenigen, die mich verstehen werden, die handeln werden, wie ich es sage, werden Anteil haben an dieser großen Ausgießung der Gnade Gottes, die sich in der letzten Zeit durch die Fürsprache der Guten Mutter Marie de Sales Chappuis vollzog. Sie hatte diese Gewohnheit, mit Gott zu sprechen, alles aus seiner Hand zu empfangen. Sie konnte reichlich und sicher aus dem Gnadenschatz schöpfen, den ihr unser Herr zur Verfügung stellte. Wenn ich euch einen Teil dieser Reichtümer verspreche, verspreche ich euch nichts Unmögliches. Ich bin der Verwahrer des Schatzes, ich habe seine Kassette und den Schlüssel dazu, aber es liegt nicht an mir, euch diese Güter zu geben, ihr müsst sie holen. Kommt aber, um sie zu übernehmen. Ich werde den lieben Gott bitten, euch den Teil zu geben, den er für euch ausgewählt hat, und noch etwas hinzuzufügen. Es steht geschrieben, dass man dem gibt, der hat, dem, der nicht hat, noch nimmt, was er hat, damit  er in der größten Armut ist. Aber dass er, der hat, überhäuft wird, dass er überquillt, damit sein Maß überfließt und nach allen Seiten austritt.
Das ist nicht aus der Luft gegriffen, was ich euch sage. Es ist sicher, was ich behaupte, und was der liebe Gott im Vertrauen denen bestätigen wird, die treu sein werden. Ich hoffe, ihr entnehmt euren Teil den Worten, die ich euch sagte. Für euch sind sie Geist und Leben, beschäftigt euch damit.
Ich denke, ihr habt gut verstanden, meine Kinder, wie man die Betrachtung tagsüber machen muss, wenn man sie am Morgen nicht machen konnte. Den Seelen, die von der ständigen Betrachtung leben, wird alles gegeben. Es steht ihnen zu, aus den Schätzen zu schöpfen, die Schätze sind, die der liebe Gott bis jetzt verborgen hielt, und die er der Welt schenken will. Ihr seid die ersten Eingeladenen. Überlasst euren Anteil nicht anderen, nehmt ihn ganz und ihr werdet eurerseits neue Zwischenhändler sein, um in eurer Umgebung alle diese Güter zu verteilen.
Denkt heut daran und werdet sehen, dass mehrere vom lieben Gott erleuchtet werden, wenn sie gut darauf hören, was er ihnen auf dem Grund ihres Herzens sagen wird. Amen.