Exerzitienvorträge für die Novizinnen der Oblatinnen 1879

      

6. Vortrag: Über die Betrachtung – Fortsetzung; Über das vertrauliche Gespräch mit unserem Herrn

Mittwoch Abend, 10. September 1879

Meine Kinder, in unserem vorangehenden Vorträgen sagte ich euch, was ihr bei der Betrachtung zu machen habt, und die Methode, die ich euch angab, ist die, die ihr befolgen sollt. Wenn man sein Ordensleben beginnt, ist es gut, seine Betrachtung über die Übungen der Ordensregel zu machen. Ich habe euch also gelehrt, diese erste Stunde des Tages gut zu verwenden, sie nützlich zu verwenden wie ein Kaufmann, der am Morgen sieht, was er wird machen müssen, um seinen voraussichtlichen Verkauf zu organisieren, damit ein gutes Ergebnis erzielt wird.
Ohne Zweifel gibt es für die Betrachtung eine andere Art, sie zu machen. Wenn ihr fromm seid, wenn ihr unseren Herrn gern habt, wenn etwas in euch ist, das eure Seele berührt, wenn ihr gerne beim Heiland bleibt, um mit ihm von der Fülle eures Herzens zu sprechen, verbiete ich euch dann, dieser Anziehung zu folgen? O, nein, ich segne diese Betrachtung und kann euch nur ermutigen und auf diesem Weg stärken. Ich werde euch nicht sagen, was dann zu machen ist, ich will euch nur verpflichten zu hören, was euch unser Herr auf dem Grund eurer Seele sagen wird, denn es ist gut, so bei seinem göttlichen Meister zu sein. Verweilt nicht Maria von Betanien so zu seinen Füßen? O, wie tut es gut, still zu Füßen des Heilands zu verweilen! O mein Gott, ich fühle wohl, was in dir für mich vorgeht! Meine Kinder, diese Dinge sind unerklärlich …. Wenn ihr also das eine oder andere Mal in eurer Betrachtung einen dieser Besuche des Herrn habt, wenn ihr eines dieser Gefühle empfindet, die euch zu ihm tragen, o, hört gut zu, was er euch dann sagen wird.
Ist die Gabe der Betrachtung etwas sehr seltenes? O nein, jede Seele, die den Heiland sehr liebt, erhält diese Gabe. O, in welchem Grade besaß sie unsere Gute Mutter Marie de Sales Chappuis! Wenn sie nach ihrer Betrachtung kam,  um mit mir zu sprechen, hatte sie in ihrer ganzen Person etwas, das den lieben Gott fühlen ließ, sie war ganz erfüllt davon. Man hätte gesagt, dass die heilige Salbung, die Gnade, die göttliche Balsamierung über sie geflossen war. In ihrem Blick, sogar in ihrer Kleidung ließ alles Gott fühlen. Warum das? Weil sie soeben mit dem lieben Gott gesprochen hatte. Ich bin nicht erstaunt, dass ihr unser Herr so erhabene Dinge offenbarte. Sie erklärte sie so einfach, dass sie ein kleines Kind verstanden hätte. Es war das Geheimnis der göttlichen Liebe, das Geheimnis der Gnade, das Geheimnis der Erlösung. Sie erklärte diese Dinge in einfachster und klarster Weise. Durch ihre große Treue war sie dorthin gelangt. Als Novizin übte sie vollkommen ihr Geistliches Direktorium, lebte in einer sehr großen Abhängigkeit, einer sehr großen Abtötung und handelte nie aus einem persönlichen Gefühl heraus. Man sagte ihr: „Mache dies, mache das!“ Sie gehorchte immer, ohne jegliche Überlegungen anzustellen. Man hatte ihr eine Zelle gegeben, von der aus man die schönste Landschaft von Fribourg sehen konnte. In diesem Teil der Schweiz ist der Boden so reich, die Sonne so schön, die Saane, die zu Füßen des Klosters vorbeifließt, ist so klar. Sie beschreibt wunderbare Windungen, ganz bedeckt von Grün, gesäumt von Tannen. Nun, die Gute Mutter hatte nie erfahren, dass die Saane unter ihrem Fenster vorbeifloss, wenn nicht eine Mitschwester mit ihr darüber gesprochen hätte, denn sie hatte sie nie angeschaut. Als unsere Gute Mutter Marie de Sales Chappuis viele Jahre später einige Tage in ihrem geliebten Kloster in Fribourg verbrachte, besuchte sie ihre erste Zelle und betete dort an einer bestimmten Stelle auf den Knien. Ich war bei ihr. „Hier“, sagte sie, „hat mir der liebe Gott so viel gegeben und zum ersten Mal zu mir gesprochen.“ Und sie versagte sich wieder, diese wunderbare Aussicht durch das Fenster zu betrachten.
Wenn man die Dinge Gottes sehen will, darf man nicht mehr die Dinge der Erde betrachten. Man muss sich von seinen persönlichen Neigungen lösen, die Demut und die Loslösung üben, und dann hat man den lieben Gott, wie ihn die Gute Mutter Marie de Sales Chappuis hatte. Macht also eure Betrachtung, indem ihr alles vorbereitet, damit euer Tag gut vergeht. Wenn aber der liebe Gott euch ruft, einem Gedanken zu folgen, wenn er eure Seele zu seiner Liebe verlangt, macht, was er von euch will. Wenn er euch sagt: Komm, geht zu ihm, sagt ihm mit dem Hauptmann: „Herr, du kannst alles, was du willst, sprich nur ein Wort und meine Seele wird geheilt sein“ (vgl. Mt 8,8).
Meine Kinder, fragt unseren Herrn, was ihr machen sollt, bittet ihn, euch zu befehlen, euch zusagen, wohin ihr gehen sollt, hört dann, was er euch antworten wird. Diese Betrachtung der Guten Mutter Marie de Sales Chappuis lernt man nicht aus einem Buch, man gelangt nur durch die Mittel hin, die ich euch angebe. Man lernt es nur durch den Verzicht auf seinen eigenen Willen. Dann wird man eine Tochter des Gebetes und der Betrachtung. Die Betrachtung ist eine Leiter, die weiter reicht als die Jakobsleiter. Die Jakobsleiter reichte nur von der Erde zum Himmel, mit der Leiter der Betrachtung steigt man bis in die göttlichen Tiefen, den Glanz Gottes, man steigt bis in die Höhen der Ehre, des Lichtes Gottes. Möge sich jede den Kopf zerbrechen, um ihre Betrachtung gut zu machen. Wenn ihr nicht betrachten könnt, bereitet euren Tag vor, nehmt eine Übung besonders, eure Erholung, eure Arbeit, eure Beichte.
In der Erholung habt ihr euer Gefühl stolz kund getan, ihr seid in wenig angemessenes Lachen ausgebrochen, ihr habt für eine Mitschwester Abneigung empfunden, ihr habt eine Problem damit, herzlich zu ihr zu sein. Sprecht darüber mit unserem Herrn schon am Morgen in eurer Betrachtung, und ihr werdet gestärkt werden. Fasst einen guten Vorsatz und der liebe Gott wird zu euch sprechen. Ihr werdet euch gut bei ihm aufhalten und er wird euch fühlen lassen, wie nahe er bei euch ist. Er wird euch sagen, wie ihr ihm folgen müsst, er wird die Gefühle in euch legen, die ihr haben müsst, er wird euch die Worte eingeben, die ihr sagen sollt. Hört ihm zu, bleibe bei ihm, dort müsst ihr sein.
Wenn bei der Betrachtung euer Herz trocken ist, verliert nicht den Mut, denn alles wird bezahlt, alles wird gekauft. Was sehr selten und sehr schön ist, wird sehr teuer bezahlt. Da ist zum Beispiel eine Bäuerin, die eine mit einem gewöhnlichen Stein geschmückte Nadel kauft, sie bezahlt sie vielleicht mit 25 Sous. Da ist eine große Dame, die ebenfalls eine Nadel kauft, die aber mit einem Diamanten geschmückt ist. Anstatt 25 Sous wert zu sein, kostet sie 25.000 Francs. Diese Summe findet sich nicht so einfach wie 25 Sous, man muss sehr reich sein, um eine solche Ausgabe machen zu können.
Meine Kinder, wollt ihr den wertvollen Stein haben, wollt ihr den Diamanten um 25.000 Francs haben? … Ihr werdet mir sagen: „Aber, mein Vater, ich habe diese Summe nicht zu meiner Verfügung.“ Doch, ihr habt sie. Legt ein wenig Demut in euer Leben, ein wenig Abtötung in eure Arbeit, in eure Mahlzeiten, und ihr werdet diesen schönen Diamanten kaufen können. Wenn ich so zu euch spreche, übertreibe ich nicht, ich wiederhole nur die Versprechen unseres Herrn.
Macht euch sehr treu an die Übung der Betrachtung. Versucht, von Zeit zu Zeit einen Augenblick, eine Minute zu haben, um mit dem lieben Gott zu sprechen, um ihm ein kleines gutes Wort zu sagen. Wenn ihr ihm etwas geben könnt, werdet ihr sehen, was er euch in der Betrachtung geben wird. Fürchtet nicht, euch zu demütigen, o nein, auf dem Weg nach Betanien werdet ihr dem Heiland begegnen. Fürchtet nicht, was euch etwas kostet, was euch überlastet; mit dem kommt man zur Anschauung, dadurch kommt der liebe Gott zu uns, es ist der Weg seiner Freunde, da werdet ihr ihm begegnen. O, wie machtvoll wirkt das unter diesen Bedingungen gesprochene Gebet auf das Herz Jesu! Finden wir dafür nicht einen Beweis im Bericht über die Auferweckung des Lazarus (Joh 11,1-44)? Maria spricht weniger Worte als Marta, und dennoch scheint ihr Schmerz das Herz des göttlichen Meisters mehr zu rühren, der ohne direkt auf ihr Gebet zu antworten, sogleich ihren Wunsch erfüllt und ihren Bruder ins Leben zurückruft.
Das vermag das Gebet. Versteht also das Geheimnis des Gesprächs der Seele mit Jesus, versteht, was dieses Wort ist, das kaum eindringt und dennoch Gott zum Weinen bringt. Es ist so mächtig, dass es ihn veranlasst, die Ordnung der Natur zu verändern.
Seid ihr euch, meine Kinder, jetzt klar über die Macht der Betrachtung? Wenn wir unsere Betrachtung gut gemacht haben werden, wenn wir unser Geistliches Direktorium wahrhaftig geübt haben werden, wenn wir uns gut abgetötet haben werden, werden wir den göttlichen Meister an uns ziehen. Zuerst wird er nicht lange bleiben, dann wird er zurückkommen und seinen Aufenthalt in uns festlegen. Ist das wohl wahr? O ja, er hat es selbst gesagt: „Wenn ihr meinen Willen erfüllt, werde ich zu euch kommen, und dort meine Bleibe einrichtet.“ Ihr werdet es nicht vergessen, meine Kinder.
Möge euch Jesus das Verständnis für diese Dinge verleihen, und wenn ihr sie versteht, werdet ihr glücklich sein, ihr werdet auf Erden einen Teil des Himmels haben. Versetzt euch in die Lage, zu erhalten, was ich euch so glühend wünsche. Amen.