6. Vortrag: Über die Treue zu Gott und die Guten Mutter Marie de Sales Chappuis und Schwester Marie-Geneviève Labille
Donnerstag Abend, 5. September 1889
Meine Kinder, heute Vormittag sprach ich zu euch von unserer Guten Mutter Marie de Sales Chappuis. Versteht wohl, dass ihr versuchen müsst, diese Treue der Guten Mutter nachzuahmen und nicht in ihre übernatürlichen Zustände einzusteigen, da diese Zustände nur die Belohnung für ihre erprobten und angewandten Tugenden waren. Um dem lieben Gott zu gehören, muss man also unserer Guten Mutter Marie de Sales Chappuis ähnlich sein und keine von diesen lieblosen Seelen, die sich in Nichts abtöten können, die den täglichen Verzicht fürchten, den das Evangelium auferlegt, und die dennoch ganz von sich selbst erfüllt sagen, sie seien mit Gott vereint. Trotz all seiner Sanftmut erklärt der heilige Johannes, dass diese Lügnerinnen sind. Wenn ihr sagt, dass ihr mit Gott vereint seid, und wenn ihr nicht vor allem die Liebe habt, eine heldenhafte Nächstenliebe, verführt ihr euch selbst und täuscht die anderen. Ihr versteht also gut, meine Kinder, die Anlagen, die ihr haben müsst, um wahre Töchter der Guten Mutter Marie de Sales Chappuis zu werden, Anlagen zur völligen Selbstaufopferung für Gott und die anderen.
Nachdem ich das nun dargelegt und ihr verstanden habt, kann ich zu euch über das große Vertrauen sprechen, das ihr zu dieser Guten Mutter Marie de Sales Chappuis haben sollt. Ihr müsst sie um alles bitten, was für euch notwendig ist, vor allem für eure geistlichen Bedürfnisse, um alles, was ihr für eure Verwandten, eure Freunde erhalten wollt, möget ihr zu ihr in diesen tausend kleinen Umständen Zuflucht nehmen, in denen man sich nur an eine Mutter wenden kann. Eure Liebe zu ihr soll tief und innig sein, denn ihr seid nicht nur ihre Schutzbefohlenen, sondern die Kinder ihres Herzens. Übrigens handle ich selbst so. Ich vertraue ihr alles an, wenn ich verwirrt bin. Wenn jemand kommt, um mich zu bitten, für etwas Schweres, eine leidgeprüfte Person zu beten, sage ich ihr: „Meine Gute Mutter, nimmt dich dieser Person, dieser Sache an. Ich beauftrage dich damit.“ Ich verlange nicht mehr von ihr und alles kommt besser in Ordnung als ich hätte ahnen können.
Geht zu ihr, der liebe Gott wird zufrieden sein. Er machte ihr so gern eine Freude und gab ihr gerne, was sie sich wünschte. Aber noch einmal, hütet euch über die außergewöhnlichen Zustände ihrer Betrachtung zu urteilen und vor allem euch zu wünschen, damit beschenkt zu werden. Ihr würdet wie diese Wahnsinnigen, die in Bicêtre (eine Irrenanstalt in der Nähe von Paris) sind und sich einbilden, der König von Frankreich zu sein. Ich besuchte eines Tages die Einrichtung von Bicêtre und sah dort einen Herrn, der glaubte, Ludwig XVII. zu sein. Er hatte eine riesige weiße Kokarde [kreisförmiges militärisches Abzeichen], die er feierlich überall herumtrug, aber dennoch war er nicht Ludwig XVII. Und auch wir könnten vergeblich Kokarden der Heiligkeit anlegen, wir wären dennoch nicht die Gute Mutter Marie de Sales Chappuis. Seid nur schön ihre kleinen Kinder. Wenn euch der liebe Gott ein wenig verwöhnen will, will ich es wohl auch, aber wisst, um es zu erhalten, darf man nicht mehr sündigen, man muss immer die Gegenwart Gottes wahren, ihm alles geben, was er verlangt, und man darf nie auf den Gedanken kommen zu sagen: „O, aber ich bin doch dies … ich bin doch das …!“ Wenn man das macht, geht der liebe Gott so weit weg, dass man ihn nicht leicht wiederfinden kann, und ich nehme es nicht auf mich, ihn für solche Heilige suchen zu gehen.
So wird es das erste Kennzeichen jener sein, die eine wahre Tochter der Guten Mutter Marie de Sales Chappuis sein wollen, sich sehr demütig zu verhalten. Sie wird sich sagen müssen: „Ich bin eine elende Sünderin, unwürdig die Schuhbänder unserer Mitschwestern aufzuschnüren, denn ich bin weniger als alle anderen.“ Ich verlange nicht, dass ihr euch als in eurem Geist, in eurer Intelligenz als unter den anderen bezeichnet. Die Gute Mutter Marie de Sales Chappuis achtete kaum auf diese Eigenschaften. Ich will nur vom Verdienst sprechen, den man vor Gott haben kann, und dazu braucht ihr die Demut des Herzens. Sagt euch oft: „Ich bin die Letzte von allen, niemand ist unter mir.“ Und wenn ihr das vom Grund des Herzens wiederholen werdet, vor allem wenn ihr beginnen werdet, es auch zu glauben, werdet ihr euch unserem Herrn nähern, der sagte: „Lernt von mir, denn ich bin gütig und von Herzen demütig“ (Mt 11,29). Er wusste wohl, dass er Gott war, aber dennoch war er demütig von Herzen. Man fühlte, dass er sich demütigen wollte, als er mit den Worten des Psalmisten sagte: „Ich bin ein Wurm und kein Mensch“ (Ps 22,7). Wenn ihr dorthin gelangt sein werdet, meine lieben Töchter, werdet ihr mich besuchen und ich werde euch sagen, was ihr noch zu tun habt, denn es ist nur der Anfang. Dann werdet ihr vielleicht etwas von dem bekommen, was die Gute Mutter Marie de Sales Chappuis hatte.
Seht, wie diese Handlungsweise heiligt, wenn man ein sehr demütiges Herz hat, wenn man sich für nichts hält, wenn man sich demütigt. Das ist die wesentliche Bedingung. Betet also dieses so demütige, so erniedrigende Gebet, das Gottes Herz gewinnt. Fürchtet, ihm zu missfallen, seid dem Geistlichen Direktorium treu. Haltet euch an die Tugenden einer guten und einfachen Oblatin des heiligen Franz von Sales. Ich wiederhole es. Später werden wir sehen, aber damit muss man beginnen.
Ich werde euch, meine Kinder, noch weiterhin von der Guten Mutter Marie de Sales Chappuis erzählen, denn der liebe Gott selbst hat sie euch als Vorbild gegeben. Daher wird es ihm gefallen, durch ihre Hände die Gnade fließen zu lassen, die er für euch bestimmt. Ihr müsst also wissen, wie ihr handeln müsst, um ihm angenehm zu sein. Was müsst ihr machen, um ihr zu gefallen? Lieben, was sie liebte, und alles andere zurückweisen. Ich müsste euch also sagen, was sie nicht liebte. Das ist schwierig, denn nichts missfiel ihr. Sie war ganz Liebe zu den Leuten, ganz Zustimmung zum Willen des lieben Gottes. Sie ließ alles zu, war allem Elend willfährig.
Ich hörte sie nur einmal von einer Person sagen: „O, wie ist sie lästig!“ Ich kann euch also nicht sagen, was ihr missfiel, da ihr alles gefiel. Aber wie schaffte sie es, zu einer so völligen Ausgeglichenheit zu gelangen? Ich werde euch ihr Geheimnis verraten, und es euch durch einige Beispiele verständlich machen.
Wenn eine sehr mich sich beschäftigte Mitschwester, bei der sich alles um sich selbst drehte, kam, um ihr von ihren Schwierigkeiten zu erzählen, hörte sie ihr geduldig zu und sagte ihr dann: „Wollen Sie so weitermachen?“ „O, nein, meine Mutter Oberin, das will ich nicht, ich fühle wohl, das ich Unrecht habe.“ „Das ist gut. Machen sie also nicht so weiter, und jetzt gehen Sie.“ „Aber, Mutter Oberin …“ „Da es abgemacht ist, dass sie sich nicht mehr mit sich beschäftigen werden, gehen Sie zu ihrer Arbeit zurück. Alles, was wir jetzt noch sagen würden, wäre unnötig.“ Wenn sie verärgerte, von Worten oder Taten des Nächsten verletzte Mitschwestern sah, sagte sie zu ihnen: „Das ist wirklich sehr schmerzhaft. Aber habt ihr daran gedacht, es dem lieben Gott zu schenken?“ „Nein, Mutter Oberin.“ „Habt mehr Verstand und denkt beim nächsten Mal daran.“ „Aber Mutter Oberin …“ „Da wir übereingekommen sind, dass ihr beim nächsten Mal daran denken werdet, geht.“ Die Gute Mutter Marie de Sales Chappuis fand, dass man die Mitschwestern unterbrechen muss, dass das Thema tatsächlich beendet ist, wenn man alles dem lieben Gott schenkt. Man denkt nicht mehr daran und geht zu anderem über. Was machte sie, wenn sie es mit Leuten zu tun hatte, die sich nicht Gott ergeben wollten, die weder gut noch aufrichtig waren, sondern falsch und schlecht veranlagt? Sie ertrug sie, sie betete für sie und sagte ihnen immer ein kleines, ermutigendes Wort: „Versucht, dies oder das für den lieben Gott zu machen“. Dann betete sie wieder, aber manchmal rief sie aus: „O, wie ist es hart, die Seelen zur Umkehr zu Gott zu bewegen!“ Die Seelen werden nicht von selbst gegen die Gnade aufgebracht und daher war es hart, sie zur Umkehr zu bewegen. Sie musste vielmehr viel leiden, um ihre Umkehr zu bewirken.
Die Gute Mutter Marie de Sales Chappuis war also gut, willfährig mit den schwachen Seelen, und dennoch wolle sie nicht, dass man gegen die Ordensregel fehlte. Obgleich sie sanft war, war sie in diesem Punkt sehr strikt, sehr fordernd.
So handelte sie den Mitschwestern gegenüber, die in ihrem Ordensleben noch viele Fehler machten. Aber sehen wir jetzt, was sie für die machte, die demütig, aufrichtig, zum lieben Gott und der Oberin ehrlich waren, die ihren Zustand darlegten, so wie er war. Für diese hätte sie alles gegeben, so zufrieden und glücklich war sie, eine Seele mit solchen Anlagen zu sehen. Wenn man in aller Unbefangenheit wie ein kleines Kind zu ihr ging und seine Verfehlungen sagte, gewann das ihr Herz.
Diejenigen, die gut die Ordensregel beachteten, die ein Gespür der Achtung und der Verehrung des Ordenslebens und für ihre Oberinnen hatten, liebte und schätzte sie sehr. Vor allem die, die wirklich etwas vom lieben Gott erhalten hatten, hörte sie aufmerksam an und sagte: „Ja, diese Eingebung kommt von unserem Herrn, hütet das wohl, ihr werdet es später brauchen.“ Und sie dankte dem Heiland, wenn einer Seele tatsächlich seine Güte zuteilwurde. Aber wenn das nicht vom lieben Gott kam, sondern von der Einbildung oder einer gewissen Neugierde oder Eigenheit des Geistes, litt sie sehr darunter. Sie sagte: „Man muss diese arme Seele lassen; unser Herr wird ihr später ihre Einbildung deutlich machen.“ Ihr größter Schmerz wäre gewesen, zu sehen, dass man die Gabe Gottes durch Missbrauch entweiht, den man damit hätte machen können. Alles in allem liebte sie vor allem die kindliche Treuherzigkeit, die Offenheit der Seele. Das begeisterte sie, das liebte sie nach dem Heiland am meisten. Wollt ihr ihre Kinder sein? Dann habt diese Treuherzigkeit, diese Art, einfach und demütig zu sein, die so weit entfernt ist von allem, das nach Unabhängigkeit, Eigenliebe, Grobheit mit dem Nächsten riecht.
Was werde ich euch noch von unserer Guten Mutter Marie de Sales Chappuis sagen? Unter den Seelen, die sie am meisten liebte, war Schwester Marie-Geneviève Labille (eine Laienschwester im Heimsuchungskloster von Troyes). Sie liebte auch sehr Schwester Marie-Donat Poison (eine Laienschwester des zweiten Heimsuchungsklosters von Paris), weil sie viel vom lieben Gott empfing, aber dennoch zog sie Schwester Marie-Geneviève vor, weil sie etwas von dem hatte, was ich euch soeben sagte. Schwester Marie-Geneviève war nicht ohne Geist, aber sie war so aufrichtig, dass sie die Gute Mutter Marie de Sales Chappuis begeisterte … und den lieben Gott ebenfalls. Sie war so einfach, dass sie, als Bischof de Ségur sie besuchte und fragte, was sie von seinen Plänen zur Erhaltung des Glaubens in Frankreich halte [Ségur gründete dafür den Katholischen Verein des heiligen Franz von Sales, dessen Leiter in der Diözese Troyes Louis Brisson war], antwortete: „Herr Bischof, ihr Besuch ehrt mich sehr, aber zugleich bin ich sehr verwirrt und gedemütigt, denn ich weiß nicht, was ich Ihnen sagen soll.“ „Aber meine gute Schwester, was glauben Sie, soll ich für den Verein des heiligen Franz von Sales machen?“ „Ah, Herr Bischof, ich weiß es nicht.“ „Aber glauben Sie, dass der liebe Gott dieses Werk will?“ „Ah, sicher!“ „Versprechen Sie mir, dafür zu beten?“ „Ja, ich werde es machen, Herr Bischof.“ Er sagte ihr wieder: „Was denken Sie über diese Sache?“ „Ich weiß es nicht, Herr Bischof.“ „Aber wenn Sie den lieben Gott bitten würden? …“ „Ah, das will ich wohl, ich werde ihnen nach besten Kräften helfen.“ Diese Offenherzigkeit, diese Einfachheit machte sie beliebt. Die Gute Mutter Marie de Sales Chappuis sagte: „Mit ihr sieht man klar, sieht man alles, sind die Fensterläden immer offen.“
Auch diese gute Schwester Marie-Geneviève ist für euch wie eine zweite Beschützerin. Denkt oft an sie. Sie liebte euch sehr und empfing sehr viel vom lieben Gott für euch. Nach ihrem Tod, als ihre Taten etwas weniger fühlbar waren, sagte mir die Gute Mutter eines Tages: „Warum macht sie das nicht? Warum richtet sie das nicht? Da sie doch bei Lebzeiten einen so glühenden Eifer für die Oblatinnen des heiligen Franz von Sales hatte?“
Ich werde euch noch einen Charakterzug von Schwester Marie-Geneviève erzählen, der euch zeigen wird, wie sie die Dinge im lieben Gott sah. Eines Tages kam eine Nonne das Kloster besuchen. Schwester Marie-Geneviève hatte einige Tage vorher von einer sehr eigenartigen Geschichte des Verzichts gehört, den eine Nonne vorgelesen hatte. Dieser Bericht hat sie beeindruckt und sie hatte ihn sich abschreiben lassen. Als sie die Nonne bemerkte, die auf Besuch war, sagte sie ihr: „Warten Sie ein wenig, ich hole etwas, das ich für sie abschreiben ließ.“ Dann übergab sie ihr das Papier und fügte hinzu: „Bewahren Sie es sorgfältig auf.“ Diese Nonne fragte sich, was das bedeuten soll. Es handelte sich um einen Ordensmann, der ein bedauernswertes Unglück in seiner Familie gehabt hatte, der es mit viel Hingabe angenommen und in dieser Prüfung eine ganz besondere Gnaden von Gunst und Treue gefunden hatte. Sie fragte sich also, wozu ihr das dienen könne. Sie dachte, ein derartiges Unglück würde nie über ihre Familie kommen. Dennoch behielt sie dieses Blatt und nach fünfundzwanzig Jahren kam genau das gleiche Unglück über ihre eigene Familie. Das war eine klare Voraussage und gleichzeitig eine Aufforderung, diese Prüfung zu nützen, um sich zu heiligen.
Man sagte mir, ich soll ihre Lebensgeschichte schreiben. Das wäre sehr schwierig. Es müsste ein Gemälde ihrer Seele sein, ein mit Licht gemachtes Gemälde, wie es die Meisterwerke gewisser großer Künstler sind. Aber dazu müsste man etwas vom göttlichen Licht haben, etwas am Pinsel vom Glanz des Himmels. Warum hatte Schwester Marie-Geneviève eine so entzückende Seele? Weil sie nie in ihrem Leben etwas anderes beanspruchte, als die Letzte zu sein. Das sollt ihr an ihr nachahmen. Bemüht euch, immer diese Demut und diese Einfachheit zu haben. Und merkt euch gut, dass ihr euer ganzes Leben lang eine besondere Dankbarkeit zu unserer Guten Mutter Marie de Sales Chappuis und zu Schwester Marie-Geneviève haben sollt. Amen.