Exerzitienvorträge für die Oblatinnen 1889

      

5. Vortrag: Über die Treue der Guten Mutter Marie de Sales Chappuis zu Gott

Donnerstag Vormittag, 5. September 1889

Meine Kinder, setzen wir die Exerzitien gut fort, legt euer ganzes Herz hinein, damit sie einen glücklichen Einfluss auf euer ganzes Leben haben. Im Priesterseminar wiederholte man uns immer, dass die Exerzitien zu den Weihen Hauptexerzitien sind. Bei jeder dieser Exerzitien – und es gibt mehrere, da man sie für die Tonsur, das Subdiakonat, das Diakonat und die Priesterweihe macht – schreiben alle Weihekandidaten die Vorträge mit, fassen Vorsätze, denn diese Exerzitien geben den Anstoß für ihr ganzes Priesterleben. Abbè Beaussier, dessen Weihehefte ich gelesen habe, hat sehr Schönes und Gutes geschrieben. Man sieht, dass diese Exerzitien aus ihm einen Heiligen machten. Eure Exerzitien zur Einkleidung und zur Profess werden also einen sehr großen Einfluss auf euer ganzes Leben haben. Deshalb dränge ich euch so sehr, sie gut zu machen.
Gestern empfahl ich euch, fromm zu sein, und ich sagte euch, dass eine große Hingabe von euch dem Geistlichen Direktorium gelten muss, das euch stets bei unserem Herrn hält. Was gibt es denn Besseres, als stets in seiner göttlichen Gesellschaft zu sein? Ich sagte euch auch, dass man bei der Betrachtung des Gespräches mit dem Heiland oder bei der Betrachtung der Ruhe bei ihm ganz hingegeben und fromm sein muss.
Heute Vormittag werde ich zu euch von der Guten Mutter Marie de Sales Chappuis sprechen. Aber ehe ich dieses vertrauliche und heikle Thema anschneide, halte ich es für unerlässlich, einen Gedanken klarzustellen. Alles, was ich mir vornehme, euch über die Verdienste der Guten Mutter Marie de Sales Chappuis zu sagen, unterwerfe ich in aller Demut dem ermächtigten Urteil der Heiligen Kirche (Dieser Vortrag und der folgende wurden, wie der Text bereits angibt, unter ausdrücklichem Bezug und im vollen Gleichklang mit den Dekreten von Papst Urban VIII. über die Heiligsprechungen gehalten). Aber um uns eine kluge Zurückhaltung aufzuerlegen, darf uns diese Unterwerfung nicht hindern, die großen Tugenden zu bewundern, deren beeindruckter Zeuge ich so viele Jahre und in so großer Nähe war. Mit diesen Tugenden hat Gott unsere Gute Mutter Marie de Sales Chappuis nicht nur für sie geschmückt, sondern auch hinsichtlich des ganzen aus ihrem Eifer hervorgegangenen Instituts [die Oblatinnen und Oblaten des heiligen Franz von Sales]. Auf die Ansichten der Vorsehung einzugehen, heißt also, unsere Geister der Betrachtung so vieler schöner Beispiele zu öffnen und unsere Herzen dem Wunsch hinzugeben, sie mit ganz kindlichem Vertrauen nachzuahmen. Denn – ich bin davon fest überzeugt – das Ansehen, das diese bevorzugte Seele oben beim Herrn genießt, entspricht voll der Aufgabe, die ihr der Himmel anvertraut hat. In diesem Sinne fürchte ich mich nicht, über sie zu euch zu sprechen.
Um das Leben der Guten Mutter Marie de Sales Chappuis zu verstehen, muss man sich auf das beziehen, was ich geschrieben habe [seine Biografie über Marie de Sales Chappuis], das muss man kennen, lieben und vor allem nachahmen. Einige schlecht ausgerichtete Geister können kommen und euch sagen: „Ah! Die Gute Mutter Marie de Sales Chappuis war eine große Heilige! Sie hatte Offenbarungen! Geht ihren Weg und ihr werdet auch welche haben!“ Die Gute Mutter Marie de Sales Chappuis hatte zwar große Verbindungen mit dem lieben Gott, aber warum? Weil sie nie schwere Sünden beging, weil sie ihr ganzes Leben lang nie, nicht einmal durch das geringste Wort gegen die Nächstenliebe fehlte, weil sie nie egal in welchen Umständen auch immer einer Verfehlung gegen die Liebe nachgab. Wenn ich nicht selbst mein Gewissen zu diesem Thema erforscht hätte, könnte ich nicht so viel darüber sagen, denn ich habe weder ihre Heiligkeit noch ihre Tugend. Wenn die schlecht ausgerichteten Geister nur die außergewöhnlichen Gnaden sehen, die die Gute Mutter Marie de Sales empfing, werden sie zu euch sagen: „Macht es also wie sie … und dann werdet auch ihr glauben, ebenfalls Offenbarungen zu haben.“ Ich aber werde euch sagen: „Wenn ihr diesen Weg einschlagen wollt, dann handelt auch wie die Gute Mutter Marie de Sales Chappuis, das heißt: sündigt nicht, sprecht nie schlecht über den Nächsten und folgt in nichts eurer Eigenliebe.“ Der Himmel ist offen für jene Seelen, die dieses Leben der großen Treue führen. Sie sehen, was dort geschieht. Gott ist ihnen so nahe, dass sie auf Erden ein vorweggenommenes Paradies auskosten.
Wenn also ein laienhafter Bekannter der Guten Mutter Marie de Sales Chappuis euch raten würde, diesen Weg der Erhabenheiten einzuschlagen, würde ich die Türe schließen und euch sagen: „Macht vorher ein Jahr lang genau das, was sie ohne die geringste Untreue tat. Folgt kein einziges Mal eurer Eigenliebe, fehlt kein einziges Mal gegen die Nächstenliebe und gegen das Geistliche Direktorium, und nach einem Jahr werdet ihr dann wieder zur Tür kommen, die euch offen stehen wird.“
Die Illusion, die euch diese Geister vorgaukeln, ist sehr gefährlich. Sie lässt nämlich glauben, dass man alles machen kann, dass man zu allem fähig ist, dass man befreit ist, die Nächstenliebe oder den Gehorsam zu üben, und schließlich verliert man den Kopf. Aber die Biografie der Guten Mutter Marie de Sales Chappuis, die ich geschrieben habe, sagt euch klar und deutlich, dass ihr in jedem Augenblick den völligen Selbstverzicht, die vollkommene Demut üben müsst.
Was die Gute Mutter Marie de Sales Chappuis hatte, weiß ich besser als jeder andere, da ich vierzig Jahre in ihrer Nähe lebte. Und was verstehe ich darunter, wenn ich sage: „Folgt ihrem Weg“? Ich will damit sagen, dass ihr das Geistliche Direktorium üben, dass ihr unterwürfig, demütig und abgetötet sein sollt, so wie die Gute Mutter Marie de Sales Chappuis. Und wenn euch dann der liebe Gott mit Offenbarungen und Erhabenheiten seinen Himmel öffnet, werde ich auch nichts Anderes verlangen, sondern wieder damit beginnen. Es anders machen zu wollen, ist nichts Anderes als mit dem Aufzug anstelle der Treppe die höchste Spitze des Eiffelturms besteigen zu wollen, was unmöglich wäre. Es ist also äußerst wichtig, sich von diesen Dingen fern zu halten, die nicht wahr sind und nur den Stolz nähren.
Da ich so lange in der Nähe der Guten Mutter Marie de Sales Chappuis war und so gut wusste, was Gott ihr bedeutete, hätte ich mir gut vorstellen können, dass auch unsere Gnadengaben gemeinsam wären, und ich hätte also auch Offenbarungen haben können. Aber damit hätte nur die Arbeit eines Wahnsinnigen gemacht. Was die Gute Mutter Marie de Sales Chappuis an Offenbarungen hatte, ging mich nichts an. Ich habe meinen eigenen Anteil und ich liebe ihn. Ich soll mein Geistliches Direktorium üben, nicht gegen die Nächstenliebe fehlen, nicht meinen Neigungen folgen und immer unter dem Joch des Willens Gottes leben. Das ist mein Anteil. Macht es ebenso, damit jede sehr demütig, klein und dem lieben Gott hingegeben ist. Ich sage es euch, meine Kinder, denn ich möchte, dass ihr der Guten Mutter Marie de Sales Chappuis wirklich ähnlich werdet, dass ihr zu dem Grad der Nächstenliebe und der Demut kommt, den sie erreicht hat. Also wird der liebe Gott mit euch auf Erden machen, was er will und viel mehr noch im Himmel. Folgt diesem kleinen Pfad, er ist der sicherste. Noch einmal, versucht nicht anders als über die Treppe auf den Eiffelturm zu steigen. Zu den höchsten Dingen des geistlichen Lebens gelangen zu wollen, ohne über die Stufen des Opfers, des täglichen ständigen Verzichts zu steigen, heißt sich dem Sturz auszusetzen und von sehr hoch zu fallen …
Ich sagte oft zur Guten Mutter Marie de Sales Chappuis: „O, ich glaube nicht, dass das viel wert ist!“ Und sie antwortete mir: „O doch, denn sie lieben Gott sehr!“ Es ist gut, Gott zu lieben, aber man darf sich nicht selbst lieben, sich vorstellen, dass man etwas wert ist. Versteht es wohl, der Weg der Guten Mutter Marie de Sales Chappuis ist nichts anderes als was ich euch soeben sagte. Bleibt sehr demütig, sagt dem lieben Gott: „Ich habe mich dir geschenkt, ich werde tun, was ich kann, um dir angenehm zu sein, hilf mir mit deiner Gnade.“ Erinnert euch an meinen Vergleich mit dem Eiffelturm. Um zur Spitze zu gelangen, sind vielleicht tausend Stufen zu steigen, aber um zur Vollkommenheit zu gelangen, werdet ihr viele andere tausend Stufen zu erklimmen haben. Ich beharre darauf, denn ich sah manchmal Frauen, die in ihrer Selbstgefälligkeit verstrickt waren und dachten, sie wären die heilige Teresa von Avila. Wenn man dann nicht einmal auf den Grund, sondern nur unter die Rinde schaute, waren sie alles andere als die heilige Teresa! Lieben wir also die Gute Mutte Marie de Sales Chappuis wie kleine Kinder, gehen wir auf dem Weg des Verzichts, den sie uns gespurt hat. Und wenn dieser Weg hart und mühsam ist, wenn wir dort keinen Trost finden, beklagen wir uns nicht. Auch die Gute Mutter Marie de Sales Chappuis hatte viele Prüfungen. Viele Heilige glauben, dass die Seelen, die auf Erden wenig empfangen, im Himmel viel erhalten werden. Ich glaube es auch. Ich glaube, dass die Seelen, die Schwierigkeiten, Trockenheiten, Dürre, Dunkelheiten haben, wie die Heilige Schrift sagt: „im Himmel im Licht sein werden.“
Eine Oblatin soll eine brave und einfache Frau sein, ausgeglichen, zart, anmutig, tief demütig, großmütig zum Nächsten und ganz dem lieben Gott hingegeben. Sie soll ihre kleine Person richtig wertschätzen und sagen: „Herr, ich bin nur das wert, aber ich gehöre ganz dir.“ Das sei wohl euer Geist. Vorausgesetzt, dass ihr dem lieben Gott gehört, das Übrige ist weniger wichtig für euch. Seht, wie die Gute Mutter Marie de Sales Chappuis ganz einfach war, gut mit dem Heiland und dem Nächsten verbunden, wie jeder durch ihre Fürsprache vom lieben Gott beschenkt wurde. Wenn man sich an sie wandte, wurde seine Beziehung zum lieben Gott vertrauensvoller, einfacher verbundener.
Ich sage euch das, meine Kinder, denn während der Exerzitien müsst ihr eure Seele bilden, euer Ordensleben ausrichten, wie wir während der Priesterexerzitien unsere Seele formten und unser Leben ausrichteten. Vor allem in diesen Augenblicken, wo man dem lieben Gott näher ist, empfängt man das Licht und sieht den Weg, dem man folgen soll. Ich habe noch einen guten und heiligen Freund, P. Bonaventure, den ehemaligen Guardian der Franziskaner von Versailles. Ich sah bei ihm seine Weihehefte und ich las darin, dass die Exerzitien der Ausgangspunkt des Weges sind, den man durcheilen muss. Man wird sein ganzes Leben lang weiterhin in die Richtung gehen, die man während der Exerzitien eingeschlagen hat.
Ich wiederhole, wenn es unter euch eine gäbe, die glaubt, Offenbarungen zu haben, würde ich ihr sagen: „Das ist möglich, aber ehe Sie sich dabei aufhalten, arbeiten Sie zuerst an diesen drei Punkten: Folgen sie nicht ihrem Eigenwillen, fehlen Sie nicht gegen die Nächstenliebe und seien sie treu im Gehorsam und in der Beobachtung der geringsten Ordensregeln, und dann werden Sie vielleicht einen außergewöhnlichen Weg beschreiten.“ Die Gute Mutter Marie de Sales Chappuis empfing oft Mitteilungen vom Himmel, aber sie hat auch getan, was dafür notwendig war. Glaubt mir, meine Kinder, folgen wir diesem kleinen Weg mit ganzer Treue, es ist der sicherste. Die Apostel und vor allem der heilige Petrus wären gerne auf dem Berg Tabor geblieben, aber wenn die Essenszeit gekommen wäre, hätten Sie wieder herabsteigen müssen. Deshalb sagt das Evangelium über Petrus, er wusste nicht, was er sagte. Die Ekstasen von Tabor dauern nicht an, beim Abstieg von diesem Berg hat unser Herr von seinem Leiden und Tod erzählt.
Liebt also den Heiland, so wie er ist, liebt ihn in seiner Krippe, liebt ihn als Arbeiter in er Werkstatt von Nazaret. Sein Leben war ganz einfach, er wartete den von seinem Vater vorgegebenen Augenblick für sein öffentliches Reden und Handeln ab, ohne diesen Zeitpunkt irgendwie vorziehen zu wollen. Ich wiederhole es, lieben wir den Heiland, wie er ist, machen wir uns keinen Heiland nach unseren Vorstellungen und Phantasien. Merkt euch das, meine Kinder, es ist von absoluter Wichtigkeit. Ich habe besondere Gründe, es euch zu sagen. Es gibt Leute – Gott sei Dank nicht hier –, die den Weg der Guten Mutter Marie de Sales Chappuis missbrauchen und sagen: „Diese da ist verklärt, sie hat Ekstasen, Offenbarungen, denn sie ist auf dem gleichen Weg wie die Gute Mutter Marie de Sales Chappuis.“ Sie verstehen nicht, dass das Leben mit dem lieben Gott kein Theaterspiel ist. Ich bin euer Vater und euer Gründer und an mir liegt es vor allem, euch zu sagen, was ihr machen und wie ihr handeln sollt.
Ich fasse zusammen: die Gute Mutter Marie de Sales Chappuis ist ein Vorbild, dem ihr folgen sollt, aber es steht in der Biografie, die ich geschrieben habe – und nur da –, dass ihr verstehen werdet, wie ihr sie nachahmen sollt. Ihr Weg darf nicht anders ausgelegt werden. Diese Biografie wurde in Rom durchgesehen und der Berater sagte mir: „Es ist kein Wort zu ändern.“ Man machte mir nur einen leichten Einwand wegen des Wortes „Wunder“, das in einem Bericht über eine Heilung verwendet wurde, da nur die Römische Kurie das Recht hat, etwas Wunder zu nennen. Aber dennoch ließ man den Ausdruck, denn er stammt aus dem Brief eines Arztes, den ich angeschrieben hatte.
Die Gute Mutter Marie de Sales Chappuis war immer einfach und ganz demütig, sie verlangte nie einen anderen Seelenführer außer den Beichtvätern des Klosters, in dem sie lebte. Das macht die wahre Nonne aus. Ihr wollt handeln wie die Gute Mutter? Nichts ist besser, schöner. Habt also nichts Besonderes, nichts Persönliches, nichts, was euch über die anderen erhebt. Die Gute Mutter Marie de Sales Chappuis stellte sich immer hinter die andere, so zum Beispiel, wenn die Ratsschwestern versammelt waren und jede ihre Meinung sagen konnte. Hatte sie ihre, sagte sie diese nicht. Nachdem sie alle angehört hatte, sagte sie: „Diese Mitschwester hat gut gesprochen, so muss man handeln.“ Und sie stand zu dieser Meinung, aber nie sagte sie ihre Meinung. Die einer anderen Mitschwester war immer die Bessere.
Folgt der Guten Mutter. Ich finde sie so richtig, so gut. Wenn man bei ihr war, hatte man den Eindruck, beim lieben Gott zu sein. Aber man darf nicht handeln wie Luzifer, der sich Gott ähnlich machen wollte. Wenn man beim lieben Gott ist, fühlt man, dass man sehr klein ist. Haltet euch also auch ganz klein bei der Guten Mutter Marie de Sales Chappuis und sagt: „Ich werde versuchen, dich nachzuahmen, dein Kind zu sein, dich um Fürsprache bitten, dich zu lieben.“ Auf diese Weise wird euch die Gute Mutter Marie de Sales Chappuis auch lieben, sie wird uns alle segnen, und die Kongregation wird die richtigen Früchte hervorbringen, die dieser Guten Mutter Marie de Sales Chappuis von Seiten des Heilands aufgrund eurer Treue versprochen wurde. Amen.