Exerzitienvorträge für die Oblatinnen 1889

      

3. Vortrag: Über die Hingabe bei der Übung des Geistlichen Direktoriums

Mittwoch Vormittag, 4. September 1889

Meine Kinder, macht eure Exerzitien aus ganzem Herzen; und wie ich euch gestern sagte, denkt daran, dass ihr einige Anlagen in eurer Seele habt, dass die Exerzitien die Exerzitien machen: sie bringen ihre Früchte mit. Es ist wie das in die Erde geworfene Weizenkorn. Es wächst allein, man braucht sich bis zur Ernte nicht mehr damit beschäftigen. Die Gnade der Exerzitien wird durch Gottes Wort in eure Seelen geworfen, das ihr hört, und es wird wirken, wenn ihr keinen bösen Willen habt. Und selbst wenn ihr traurig, mutlos seid, wird es nicht ohne Frucht bleiben. Habt also großes Vertrauen in die Exerzitien, macht alle Übungen, die Betrachtung, die Feier der Eucharistie, die geistlichen Lesungen, seid treu in der Stille. Lasst eure Seele bei Gott ruhen, hört gut auf die Vorträge; sie sind gemacht, um euch euer Leben lang zu erleuchten. Ihr werdet ohne Zweifel viele andere Vorträge hören, aber die der Exerzitien sind besonders für euch gemacht.
Heute Vormittag werde ich euch sagen, dass ihr sehr fromm sein müsst. Und ich werde euch dann sagen, welche Hingabe ihr haben sollt. Eine Nonne ohne Hingabe ist wie ein Körper ohne Seele. Was macht eine Nonne zur Nonne? Ihre Hingabe, ihre Liebe zu Gott. Was ist sie ohne diese in ihr? Nichts. Wenn ihr keine Hingabe habt, ist eure Seele nichts, wenn ihr dem lieben Gott nichts zu sagen habt, nichts für ihn zu machen bereit seid, wenn er euch nicht der Mühe wert ist, dann ist der Name, den ihr tragt, nichts wert. Eine Nonne und vor allem eine Oblatin des heiligen Franz von Sales muss also sehr fromm sein. Ihr Leben muss ganz innerlich sein. Unser Leben hat nichts Außergewöhnliches, nichts Bemerkenswertes im Äußeren. Das Bedeutsame ist in uns nach dem Wort der Heiligen Schrift: „Das Reich Gottes ist in uns selbst“ (vgl. Lk 17,21).
Unter der Hingabe, die ich euch empfehlen werde, meine Kinder, ist eine speziell für uns, es ist die Hingabe des Geistlichen Direktoriums. „Aber, mein Vater, Sie haben uns immer nur das zu sagen.“ Ja, meine Kinder, ich weiß euch nur das zu sagen. Ihr kennt die Geschichte vom heiligen Johannes, der sich in seinem Alter nach Ephesus zurückgezogen hatte. Er war damals sehr alt, er war 102 Jahre alt, und da er nicht mehr gehen konnte, trugen ihn seine Jünger zur Kirche, um dort den Gläubigen den Vortrag zu halten. Als jede Ermahnung gab sich der Greis zufrieden zu sagen: „Meine Kinder, meine lieben Kinderlein, liebt einander.“ Seine Jünger, die müde und gelangweilt waren, ihn so oft diese Worte wiederholen zu hören, sagten ihm eines Tages: „Aber, Vater, Sie sagen uns immer dasselbe.“ „Das ist wahr, meine Kinder, aber was ich euch sage ist das Gebot des Herrn. Haltet es, und ihr werdet nichts anderes zu machen brauchen, um ihm angenehm zu sein.“
Auch ihr, meine Kinder, übt euer Geistliches Direktorium. Aber man kann es nur gut tun, wenn es für uns zur Gewohnheit wird, und diese Gewohnheit eignet man sich nicht an einem Tag an. Es scheint mir, dass man dafür wohl dreißig Jahre verwenden muss. Dreißig Jahre lang müsst ihr euch also dasselbe wiederholen, dass ihr eurem Geistlichen Direktorium vollkommen hingegeben sein müsst.
Was ist die Hingabe zum Geistlichen Direktorium? Es ist die Hingabe zur Person des Heilands selbst, zu seinem Willen, zu seinen Absichten mit uns, zu dem, was er will, dass wir sind, was wir machen, was wir in jedem Augenblick denken. Er sagt uns: „Ihr müsst an dieses Wort meines Vortrags denken, an jenes Geheimnis meines Lebens, denkt daran, eure Handlungen nach meinem Vorbild zu machen.“ Das ist unser Leben mit unserem Herrn, wir haben kein anderes. Unser Herr sagt: Folgt mir. Wir müssen ihm also folgen. Aber wenn man jemandem mit einem Abstand von zwei Meilen folgt, dass man ihn nicht mehr hört und sieht, folgt man ihm nicht wirklich. Die Gute Mutter Marie de Sales Chappuis sagte daher: „Setzt eure Füße auf seine Fußspuren.“ Dafür müssen wir eine tiefe Frömmigkeit haben. Wenn wir so von Morgen an mit unserem Herrn leben, wird er uns durch unser Geistliches Direktorium sagen: „Fasst diesen Gedanken, macht euer Bett so, um euch dem anzugleichen, was euch empfohlen wurde, seid fleißig, aktiv, denkt an diesen Punkt der Betrachtung, an das, was ihr heute machen müsst.“ Bei der Heiligen Messe sagt er uns wieder: „Denkt an mich, an meinen Tod am Kreuz, an meine Liebe zu euch im Allerheiligsten Sakrament, denkt an eure Sünden, um sie zu verachten und mich dafür um Verzeihung zu bitten.“ Bei unseren Beziehungen zum Nächsten sagt er uns: „Passt auf, dass ihr euren Neigungen nicht folgt, wacht darüber, bei der Übung der Nächstenliebe nicht zu fehlen, euer Gefühl nicht zu verschenken.“
Und bezüglich des Mitteilens seiner Gefühle, seiner Eindrücke werde ich euch sogleich sagen, meine Kinder, dass der heilige Franz von Sales in diesem Punkt unerbittlich ist. Man kann seine Gefühle der Oberin, der Novizenmeisterin mitteilen, nicht aber anderen. Der heilige Franz von Sales will es keineswegs. Er verbietet dem Kapitel, die anzunehmen, die sich hinreißen lassen, ihre Eindrücke mitzuteilen, die einen bösen Geist haben, die die Dinge anders beurteilen als ihre Oberinnen. Seid also auf der Hut. Nichts ist mehr gegen den Geist des Geistlichen Direktoriums, denn dann folgt man sich selbst und nicht dem Heiland, man setzt die Schritte nicht auf seine Fußspuren. Und wenn man ihn aus den Augen verliert, wenn man ihn später nicht wiederfindet, was geschieht dann? Jedes Mal, wenn man mit der Zunge sündigt, ist man nicht mit unserem Herrn, ist man gegen ihn. Ihr müsst darüber euer Gewissen gut erforschen, meine Kinder, es ist ein großes Hindernis für das Ordensleben.
Übt also euer Geistliches Direktorium mit Milde aus, macht eure Ausrichtung der Absicht mit großer Achtung vor den Dingen, die ihr machen werdet. Wenn ihr eine Gabe aus der Hand unseres Herrn erhalten würdet, würdet ihr sie nicht einfach auf den Tisch werfen, ihr würdet euch vielmehr mit tiefer Achtung und viel Liebe damit beschäftigen, weil ihr sie aus der Hand des Heilands empfangen hättet. Nun ist das Geistliche Direktorium die Gabe des Heilands. Es ist unser Leben, die Gedanken an den Tod zu fassen, die Stoßgebete des Geistlichen Direktoriums zu machen, stets mit dem Heiland zu sprechen, als ob er da ist, ganz nah bei uns. Der heilige Franz von Sales will, dass wir die Stoßgebete des Geistlichen Direktoriums Wort für Wort wiederholen. Ihr werdet mir sagen: „Aber ich sehe ihn nicht.“ Das ist wahr, aber wartet ein wenig, und ihr werdet ihn sehen. Ich sehe ihn menschlich auch nicht, aber wenn ich seinen heiligen Willen erfülle, sehe ich ihn ständig durch das Geistliche Direktorium, ich sehe, was er will, ich fühle, dass er da ist, ich höre ihn, ich verstehe ihn und ich gehe auf seine Wünsche ein.
So müsst ihr fromm sein und ihre müsst euch voll und ganz den Übungen des Geistlichen Direktoriums hingeben. Wenn der heilige Franz von Sales sagt: „Sie müssen sehr fromm sein“, so will er vor allem sagen, man soll nicht nur in der Kapelle, bei der Heiligen Messe, bei der Betrachtung, bei der Besuchung des Allerheiligsten Sakramentes, beim Rosenkranzgebet fromm sein. Man muss vielmehr stets eine sanfte und milde Frömmigkeit haben und im Umgang mit dem Nächsten immer friedlich und liebevoll sein. Ich weiß wohl, dass es auch unsere Natur gibt, dass man Schwierigkeiten, Versuchungen empfinden kann, aber wartet ruhig ein wenig, diese Schwierigkeiten und Versuchung werden vorbeigehen, wenn ihr euch beherrschen könnt, wenn ihr treu seid. Seid besonders treu zum Geistlichen Direktorium, meine Kinder, denn dadurch spricht der Heiland zu uns. Der Heiland ist da uns sagt uns: „Denkt an den Tod; denkt dass ihr dieser Mitschwester gegenüber nicht in der Nächstenliebe fehlen dürft, dass ihr diese Sache machen müsst und zwar sehr gut, da ihr sie für mich macht.“
Fromm sein heißt, im Herzen für unseren Herrn eine Zärtlichkeit haben und im Willen den Wunsch, ihm treu zu sein. Das heißt, nicht gleichgültig, nicht eigenwillig sein. Denkt wohl daran. Wir werden unseren Herrn bitten, uns zu helfen, eine großen Tag der Treue zu halten, um die Gnade zu erlangen, mit ganzer Hingabe das Geistliche Direktorium zu leben.
Ein Hauptmann kam eines Tages zu unserem Herrn und sagte zu ihm: „Herr, mein Diener ist krank, ich komme, um dich zu bitten, ihn zu heilen.“ Jesus antwortete: Ich werde gehen und ich werde ihn heilen. Aber der Hauptmann erwiderte: „Herr, bemühe dich nicht, Herr, ich bin es nicht wert, dass du mein Haus betrittst; sprich nur ein Wort, dann wird mein Diener gesund. Auch ich muss Befehlen gehorchen und ich habe selber Soldaten unter mir; sage ich nun zu einem: Geh!, so geht er, und zu einem andern: Komm!, so kommt er, und zu meinem Diener: Tu das!, so tut er es“ (Mt 8,8-9). Wir müssen wie der Hauptmann handeln, ihr müsst seinen Glauben haben, wenn ihr den Heiland um Kraft und Unterstützung bittet. Er wird alles machen, alles in Ordnung bringen. Er wird sehr gütig, sehr gut zu uns sein, wie er es zu diesem Hauptmann war, als er zu ihm sagte: „Geh! Es soll geschehen, wie du geglaubt hast. Und in derselben Stunde wurde der Diener gesund“ (Mt 8,13).
Wenn wir unter allen Umständen zum Heiland gehen, um ihn um seine Hilfe anzuflehen, wird er auch uns alles gewähren, worum wir ihn bitten werden, und unser Leben wird sehr glücklich sein, da wir es ganz in der Vertrautheit unseres Herrn verbringen werden, wie ich euch soeben sagte. Amen.