2. Vortrag: Über die Gewissenserforschung
Dienstag Abend, 3. September 1889
Meine Kinder, heute Vormittag mussten wir uns sehr ernsthaft in die Exerzitien versetzen, von unserem Geist jedwede Sorgen entfernen, den Heiland in unser Herz rufen und den Tag mit ihm verbringen, um seiner liebevollen Einladung zu entsprechen: „Kommt mit an einen einsamen Ort, wo wir allein sind, und ruht ein wenig aus“ (Mk 6,31). Wenn dieser erste beim Heiland verbrachte Tag gut, sanft und milde war, müsst ihr ihm dafür danken. Es ist eine Gnade wie die, die er seinen ersten Aposteln schenkte, als sie ihn fragten: „Herr, wo wohnst du?“ Da antwortete ihnen unser Herr: „Kommt und seht!“ Und er bliebe jenen Tag bei ihnen (vgl. Joh 1,39). Wenn also der Heiland während des Tages zu uns gesprochen hat, danken wir ihm. Wenn aber der Tag mühsam, anstrengend, trocken, hart war, warum sollten wir ihm dann nicht auch danken? Ist es nicht eine große Gunst, am Fuße des Kreuzes des Heilands zu sein? Ohne Zweifel ist es eine große Gnade, beim Abendmahl bei ihm zu sein, die erste Kommunion aus seiner Hand zu empfangen; aber diese große Gunst wurde von allen Aposteln geteilt, während wie viele von ihnen am Fuß des Kreuzes bei ihm waren? Ein einziger! Der, der Jesus am meisten geliebt hatte. Unser Herr hat diese schmerzhafte Gnade dem gewährt, den er am meisten liebte.
Vergessen wir es nicht! Verlieren wir in den Augenblicken der Angst, der inneren Trockenheit, der Unruhe nicht den Mut! Denken wir daran, dass es der Teil ist, den der Heiland dem geliebten Jünger gab. Als er von seinem Kreuz herabschaute, sah er nur einige Personen: die heilige Jungfrau Maria, den heiligen Johannes, die heilige Maria Magdalena und die anderen heiligen Frauen. Die berufen sind, dem Heiland auf Kalvaria zu folgen, müssen ihm dafür dankbar sein und sagen: „Danke, Herr, obgleich ich nicht würdig bin, an deinem Opfer, an deinem Leiden teilzunehmen.“ Das ist unsere Art, im geistlichen Leben, im Ordensleben Nutzen zu haben. Meine Kinder, wie also auch der Platz sei, wo ihr dem Heiland begegnet, wo er euch sagt: „Kommt!“, wo auch der Ort sei, wo ihr den Tag mit ihm verbracht habt, dankt unserem Herrn dafür!
Verbringt dann diesen Tag, der zu Ende geht, diese Nacht, diese Augenblicke, die bis zum Vortrag morgen vergehen werden, mit euch selbst. Forscht, was ihr dem lieben Gott schuldet, die Schulden, die ihr bei ihm eingegangen seid, die Fehler, deren ihr euch schuldig gemacht habt, und die euch von ihm trennen. Macht eure Gewissenserforschung nicht kurz, sondern ganz ausführlich. Überdenkt euer Leben seid eurer Kindheit, seid ihr im Alter der Vernunft seid. Seht eure Undankbarkeit, seht, wie viele verlorene Gnaden, wie oft der liebe Gott zu euch kam, und wie oft ihr nicht auf ihn gehört habt. Erforscht euch ernsthaft, indem ihr einerseits auf euer Gewissen schaut, andererseits auf die Gebote Gottes, der Kirche, auf die Hauptsünden, die Pflichten, die euch auferlegt sind, um eure Beichte gut vorzubereiten.
Manchmal erscheinen uns unsere Fehler in weiter Ferne zu sein, aber während der Exerzitien müssen wir sie zurückrufen, sie uns wieder vorsagen, sie mit dem lieben Gott am Herzen unseres Vaters sehen. Sehen wir, wie oft wir ihn betrübten, wie oft wir gegen die Dankbarkeit fehlten, gegen die Herzlichkeit, die wir ihm schuldeten.
Erforscht euch sehr sorgfältig. Geht nicht leichtfertig über das eine oder das andere hinweg. Seid aber nicht skrupelhaft. Skrupel ist eine Krankheit der Seele. In der Zeit, in der wir leben, ist diese Krankheit kaum noch auf der Tagesordnung. Es haben nur noch sehr wenige Leute Skrupel. Denkt also sorgfältig an alles, was ihr seid eurer frühen Kindheit gemacht habt, damit in eurem Gedächtnis alles gut geordnet ist.
Im Kloster der Heimsuchung sagte die 94-jährige Schwester Thérèse-Emmanuel, dass man sich auf eine gute Beichte gut vorbereiten muss. Sie selbst bereitete ihre Beichte also sehr sorgfältig vor, und da sie ein wenig taub war, sagte sie manchmal ihre Sünden ganz laut. Die Mitschwestern, die es hörten, fragten sie also: „Aber was sagen Sie denn da, meine Schwester? … Es wird schon gut gesagt sein.“ „O! Es wird nie zu gut gesagt“, erwiderte sie. „Man muss alles sorgfältig machen, aber vor allem seine Beichte, denn das ist etwas sehr Ernstes.“ Dafür war sie ein sehr schönes Beispiel und so hat sie lange die Gemeinschaft erbaut, da sie 89 Jahre lang im Kloster lebte. Sie war schon mit fünf Jahren ins Internat eingetreten. Sie beichtet also mit großer Achtsamkeit, mit großer Sorgfalt. Sie wiederholte oft: „Da man zum lieben Gott spricht, muss man gut zu ihm sprechen.“
Bringt eurer Beichte auch diese Sorgfalt entgegen, die ich materielle Sorgfalt nennen werde und die darin besteht, äußerlich die Achtung zu bezeugen, die wir unserem Herrn in der Person des Priesters schulden, der sein Vertreter ist. Am heiligen Altar hält der Priester die Hostie in seinen Händen und die Worte der Wandlung kommen aus seinem Mund, aber er ist nur das Organ unseres Herrn, seine Macht kommt von oben. Ebenso ist er im Beichtstuhl der Vertreter Gottes und die Worte, die er spricht, werden seinem Herzen von Gott selbst diktiert, Gott inspiriert ihn.
Beichtet also einfach, kurz, klar, deutlich, demütig, erniedrigt, wie es sich für ein Kind des heiligen Franz von Sales gehört. Er selbst beichtete jeden Tag. Eure Beichten sollen gut vorbereitet sein, wie es das Geistliche Direktorium sagt. Sammelt all eure Fehler in der Gewissenserforschung am Morgen und am Abend, um sie im Gedächtnis gegenwärtig zu haben und sie alle sehr genau sagen zu können. Mögen eure Beichten die Beichten einer wahren Nonne sein.
Vergesst dann nicht, euch zur Reue, zur Zerknirschung anzuregen. Die Reue ist die Gnade, die Kraft des Sakramentes. Es ist auch ihre wesentliche Bedingung. Es gibt keine Vergebung der Sünden ohne Reue. Wie soll man diese Reue haben? Man kennt viele Mittel, ich aber werde euch nur ein einziges nennen. Warum seid ihr Nonnen geworden? Um euch Gott zu schenken, um nur ihn zu lieben. Und wenn ihr ihn nun liebt, werdet ihr dann keinen Kummer, keinen Schmerz empfinden, ihn gekränkt zu haben? Werdet ihr dann nicht die Verfehlungen bedauern, die ihr gemacht habt, die geringsten Fehler bedauern, die ihr begangen habt? Wenn ihr also um Verzeihung bitten müsst, erbittet sie bei unserem Herrn, der in seiner Krippe an der Kälte litt, erbittet sie bei unserem Herrn, der arbeitete, um sein Brot zu verdienen, der der heiligen Jungfrau, dem heiligen Josef gehorsam war, wie der Letzte der Menschen denen gehorsam war, die ihm zu arbeiten befahlen. Wenn ihr bereuen müsst, geht auf den Ölberg, wo er leidet, wo blutiger Schweiß seinen Körper nässt, wo er sich bei Gott beklagt: „Mein Vater, wenn es möglich ist, gehe dieser Kelch an mir vorüber“ (Mt 26,39). Wenn ihr noch nichts fühlt, dann geht zum Fuß des Kreuzes, wo Maria Magdalena weint. Sagt ihr, sie möge euch einige von ihren Tränen geben. Das ist keineswegs etwas Erfundenes. Es ist derselbe Heiland, den ihr beleidigt habt. Es ist derselbe Blick, der auf euch ruhen wird, es sind dieselben Lippen, die euch sagen werden: „Ich verzeihe dir!“
Warum hatten wir dann, meine Kinder, in unserem besonderen Evangelium keine sehr ruhigen, sehr sanften Augenblicke, keine Umstände, um uns zu berühren, um uns zu bewegen? Warum nicht zu unserer Erstkommunion gehen, wo uns der Heiland sagte: „Komm!“ Warum nicht zu unseren Schmerzen, unseren Prüfungen gehen? In diesen Erinnerungen werden wir unseren Herrn finden.
Ihr werdet von euren Fehlern nicht berührt, denn sie scheinen euch nicht groß, nicht beträchtlich. Doch diese Fehler sind manchmal sehr schwer. Ihr habt nicht Theologie studiert, ihr wisst nicht, wie sehr ihr dadurch die Hölle verdient hättet, ihr wäret beinahe hineingefallen, wenn Gott euch verlassen hätte. Und wenn er euch nicht den Glauben gegeben hätte, wenn er euch nicht gerufen hätte, wenn er euch nicht die Ordensberufung gewährt hätte, wo wäret ihr dann?
Welche Folge hat diese Zerknirschung für uns? Ihr fühlt es wohl. Wenn wir, nachdem wir unseren Herrn beleidigt haben, zu ihm zurückkommen, wenn wir den Blick des Heilands auf unser zerknirschtes Herz, auf unsere gebrochene Seele lenken, wird er uns dann nicht noch mehr lieben? War die reumütige Maria Magdalena dem guten Meister nicht lieber als Marta, deren Leben immer rein und unschuldig gewesen war? Welch göttliches Geheimnis liegt in dieser Reue! Welch unsagbares Geheimnis befindet sich in der Versöhnung unseres Herzens mit Gott, in der Bitte um Verzeihung, im Glück sie zu erhalten! Man ist versucht, mit dem heiligen Augustinus zu sagen: „Herr, man ist unglücklich, dich beleidigt zu haben, aber die Rückkehr zu dir hat etwas Unsagbares! …“
„Herr, ich schenke mich dir am Anfang dieser Exerzitien, gewähre mir, gut zu beichten, tief zu bereuen. O Jesus, nimm mich auf in deine Liebe wie an jenem Tag, an dem ich meinen letzten Atemzug tun werde, an dem ich meine Seele in deine Hände legen werde, damit ich nur für dich lebe.“ Amen.