1. Vortrag: Über die Bedingungen von guten Exerzitien
Dienstag Vormittag, 3. September 1889
Meine Kinder, wir sind hier beisammen wie die Jünger im Abendmahlssaal, um auf das Kommen des Heiligen Geistes zu warten, um uns vorzubereiten, die Gnaden zu empfangen, die er für uns bestimmt hat, um zu warten, dass der liebe Gott kommt, um sich uns zu schenken, nicht nur um uns selbst zu heiligen, sondern um uns zu befähigen, in der Welt seine Gnaden, sein Licht, den Geist des Evangeliums, den Geist des heiligen Franz von Sales und – ich wage hinzuzufügen – auch den Geist eures Gründers zu verbreiten, wozu mich der Heiland beauftragt hat. Es ist die Aufgabe, die der Heilige Vater euch anvertraut. Als ich ihn in Rom besuchte, sagte er mir: „Ich schicke euch überall hin, aber besonders nach Frankreich, damit ihr dort das Werk Gottes ausführt, damit ihr dort ein ganzes und vollständiges Apostolat ausübt.“ Ich würde also gegen meine Pflicht fehlen, wenn ich die Wünsche des Heiligen Vaters nicht erfüllte, wenn ich euch nicht auf die Aufgaben einschulte, die er euch anvertraut, da er der Vikar und der Vertreter unseres Herrn auf Erden ist.
Seht, meine Kinder, wie wichtig diese Exerzitien sind. Wenn ihr sie verlassen werdet, werdet ihr von Gott eine Aufgabe erhalten, wie die, welche die Apostel erhalten haben. Der liebe Gott von damals ist derselbe wie von heute, und die Menschen haben sich auch kaum verändert. In jener Zeit herrschte Herodes in Galiläa, Pilatus in Judäa, wohin unser Herr ging, um zu leiden und durch die Todesstrafe am Kreuz zu sterben. Die Leute waren stolz, gottlos und schlecht. Sie töteten ihn. Die Leute von heute sind nicht besser. Sie wollen nichts mehr vom lieben Gott wissen, sie arbeiten daran, ihn überall auszuschließen. Unser Herr hat zu seinen Aposteln gesagt: „Ich sende euch wie Schafe mitten unter die Wölfe“ (Mt 10,16). Ihr müsst also, meine Kinder, die Sanftmut und Einfachheit des Lammes haben, wie kleine Kinder sein. Seid auch vorsichtig und fürchtet, dass durch euch durch unüberlegte Handlungen das Ordensleben, der christliche Glaube und die heilige Kirche falsch beurteilt werden.
Eure Exerzitien sind etwas Großes, meine Kinder, da ihr so wichtige Gnaden empfangen werdet, vor allem ihr, die ihr kommt, um euch Gott zu schenken, die ihr seine Bräute, seine Gemahlinnen werdet. „Herr, wie gut ist es, nur dir zu gehören!“ Wie ist man frei, wenn man dem Heiland gehört! Wie kann man ihn maßlos lieben, wie köstlich ist seine Liebe für unsere Herzen!
Ihr sucht hier nicht nur die Wissenschaft des Apostolatslebens, sondern das Geheimnis eures Glücks, eurer Glückseligkeit. Das Leben einer Oblatin hat kein anderes Ziel als sich rückhaltlos dem Heiland zu schenken. Es ist euer Anspruch, so die Gemahlin des Heilands zu sein, dieser Anspruch ist alles für euch. Ihr wollt unseren Herrn, er ist euer Leben, das Übrige ist nichts. Wir Priester haben kein anderes Leben als eures. Unser Zweck ist nicht so sehr zu lehren, uns mit der Wissenschaft zu beschäftigen, als uns Gott zu schenken, um mit ihm zu sein, wie er zu leben, ihn überallhin zu begleiten, bis zum Fuße des Kreuzes, wo ihn alle verlassen. Wir dürfen ihn nie verlassen. Dann können wir ihn leichter den anderen verkünden.
Versteht eure Berufung, meine Kinder, seht, wie schön sie ist! Aber denkt auch an alles, was sie von euch verlangt! Während der Exerzitien lässt uns der liebe Gott seinen Willen und seine Treue erkennen, die er von jedem von uns fordert. Es ist also äußerst wichtig, sie sehr gut zu erfüllen. Wie werdet ihr euch dazu stellen? Zu aller erst, seid still, um den Heiland nicht von euch zu entfernen, still in eurem Herzen, in euren Gedanken. Seid gern allein in Gesellschaft mit unserem Herrn. Wenn man jemanden liebt, kostet es nichts, bei ihm zu sein. Sorgen wir uns um nichts; es ist unwichtig, in welchem Zustand ihr sein werdet, ob ihr traurig, müde, krank seid, was macht das? Bleibt immer beim Heiland in der Einsamkeit. Er hat gesagt: „Kommt weg von hier.“ „Warum, Herr?“ „Um euch ein wenig auszuruhen“ (Mk 6,31). Macht eure Exerzitien in diesem Geist des Ausruhens und der inneren Sammlung. Ihr müsst den Herrn da suchen, wo ihr ihn gewöhnlich findet: die einen im Gedanken an ihre Erstkommunion, die anderen in der Erinnerung an eine Prüfung; mit einem Wort dort, wo er euch besonders gut tut. Wenn ihr so handelt, werden eure Exerzitien hervorragend sein und wie die Heilige Schrift sagt: „ihr werdet reichlich aus den Quellen des Heilandes schöpfen, wie der ängstliche Hirsch“ (Vgl. Jes 12,13; Ps 42,2). „Herr, ich bin zu die gekommen, weil du die Quelle, die Fülle des Lebens bist. Herr, ich fühlte mich allein, und ich bin zu dir gekommen, weil du gesagt hast: ‚Kommt zu mir, ihr alle, die ihr leidet und Schmerzen habt, und ich werde euch erleichtern‘ (vgl. Mt 11,28).“
Meine Kinder, ich werde heute Vormittag von nichts anderem zu euch sprechen, damit ihr die große Wichtigkeit eurer Exerzitien gut versteht. Es ist keine einfache Frömmigkeitsübung. Ihr seid hier für den Beginn eines großen Werkes vereint. Die Apostel waren im Abendmahlssaal versammelt, um Kräfte für ihr ganzes Leben zu schöpfen, um sich auf ihre apostolische Aufgabe und sogar auf das Martyrium vorzubereiten. Es ist also etwas Großes, im Abendmahlssaal der Exerzitien zu sein. Aber bedenkt wohl, ihr seid nicht nur für die Seelen gekommen, denen Gutes zu tun ihr berufen sein werdet, sondern auch für euch, damit ihr auch für euer ganzes Leben mit dem Heiland vereint seid. Hier werdet ihr das Geheimnis dieser Einheit mit ihm finden. Ich wiederhole es, es ist alles für euch. Sucht nichts anderes, ihr würdet nichts finden, das den Bedürfnissen eurer Seele entspricht.
Um eure Exerzitien gut zu machen, werdet ihr euch also still, gesammelt, ruhig halten; ihre werdet den Heiland da suchen, wo er euch am nächsten gewesen sein wird. Ihr werdet ihn rufen, ihr werdet nach ihm verlangen, ihr werdet euch mit ihm verstehen; eure Exerzitien werden vom lieben Gott gesegnet werden, wenn ihr sie so verbringt, werden euch wirksam vorbereiten, euer Amt nach dem Willen Gottes und mit dem Segen eure Freunde und Beschützer des Himmels zu erfüllen.
Als ich die Oblaten des heiligen Franz von Sales gründete, war ich sehr verwirrt, da ich weder Untertanen noch Geld hatte; doch die Gute Mutter Marie de Sales Chappuis hatte mir gesagt, ich solle einfach beginnen und ich wollte ihr gehorchen. Ich ging also nach Annecy und als ich in dieser Stadt angekommen war, wollte ich zu allererst die Gräber des heiligen Franz von Sales und der heiligen Johanna Franziska von Chantal besuchen. Als ich in die Kirche des Heimsuchungsklosters eintrat, gab es für mich eine sehr unangenehme Überraschung, da die Kirche voller Gerüste war. Ich war sehr verärgert, denn es war mir unmöglich, weiterzugehen und vor allem mich zu sammeln. Und plötzlich sah ich die heilige Johanna Franziska von Chantal ganz strahlend vor mir, die mir die Arme reichte und mir ihre große Zufriedenheit bezeugte, zu sehen, dass sich der Geist ihres heiligen Gründers wieder auf der Erde verbreiten werde. Diese Erscheinung dauerte einige Augenblicke. Nachdem ich gut zugehört hatte, was mir die Heilige sagte (diese Begebenheit erzählte Louis Brisson auch in seiner Biografie über die Gute Mutter Marie de Sales Chappuis), versprach ich ihr, alles zu tun, was sie wünschte. Deshalb wurdet ihr gegründet: damit sich der Geist des heiligen Franz von Sales in der Welt verbreitet. Wenn ihr gute Nonnen werdet, werdet ihr alle Wünsche der heiligen Johanna Franziska von Chantal erfüllen, denn ihr werdet dann diesen Geist mit einer großen Ausstrahlung sehr wirksam für das Wohl der Seelen verbreiten.
Diese Erscheinung war ein sehr großes Zeichen der Güte Gottes für uns. Er hat seit unserem Anfang noch viele andere gegeben. Man würde schwer eine Kongregation finden, die so viele Gnaden empfing wie wir. Mögen euch, meine Kinder, alle diese Gunstbeweise eine Ermutigung sein, gute und heilige Exerzitien zu machen. Amen.