5. Vortrag: Über die Keuschheit
Mittwoch Vormittag, 5. September 1888
Heute Vormittag, meine Kinder, werde ich euch ein Wort über das Gelübde der Keuschheit sagen. Das Gelübde der Keuschheit ist das Gelübde allen Trostes. Das Gelübde des Gehorsams ist manchmal schwer zu ertragen, das Gelübde der Armut ist eine Last, das eine und das andere haben ihre Kämpfe, ihre Schwierigkeiten, aber das Gelübde der Keuschheit ist die Belohnung, das Glück und die Sättigung der reinen, vom Heiland erwählten und geliebten Seelen. Es ist ihr Liebesvertrag, ihr Glück, ihr Ruhm, ihr ganzes Leben.
Der heilige Franz von Sales erklärt das Gelübde der Keuschheit gut mit den Worten: „Nur für den himmlischen Gemahl atmen“. So gibt er dafür nicht nur die Definition, sondern auch das treue Bild. Das ist wohl der Sinn unseres Gelübdes der Keuschheit. Wir schenken uns Gott, und Gott schenkt sich dafür uns. Also haben unsere Zuneigungen keinen anderen Hang, keine andere Neigung mehr als zu ihm. Er gehört uns ganz und wir gehören ganz ihm. Die beiden anderen Gelübde sind die der Arbeit, der Abtötung, des Opfers. Dieses aber ist das des Frohsinns, der Fröhlichkeit. So gesehen ist es sozusagen kein Gelübde mehr, es ist die ganze Befriedigung, die völlige Sättigung unseres Herzens. Das Gelübde der Keuschheit führt ohne Zweifel zur Übung dieser Tugend, die daraus besteht, jede Sinnlichkeit, jede Suche des Herzens, jede menschliche und private Zuneigung zu vermeiden. Aber andererseits ist es die große Ruhe der Seele, die den Herrn als ihren Teil gewählt hat, der Seele, die sich Gott vertraulich und köstlich schenkt.
Man kommt nicht sofort zu diesem unvergleichlichen Glück. Man muss mit der Basis des Gelübdes der Keuschheit beginnen. Wir versprechen vor allem dem lieben Gott, auf unsere Sinnlichkeiten zu verzichten, unseren persönlichen Neigungen nicht zu folgen. Die erste Neigung unseres Herzens ist das Bedürfnis, geliebt zu werden. Ist das etwas Schlechtes? Nein, meine Kinder. Wenn Gott diesen Wunsch in unser Herz gelegt hat, so ist es richtig, hervorragend. Aber wir werden es wie unsere Gute Mutter Marie de Sales Chappuis machen, die unter dem Leinentuch der Toten (damals wurde bei der Profess über die Schwestern ein Leichentuch gebreitet als Zeichen dafür, dass sie nun der Welt gestorben und nur mehr für Gott leben) verlangt hatte, nie natürlich geliebt zu werden. Dennoch wurden sehr wenige Personen je mehr geliebt als sie. Aber man liebte sie übernatürlich, weil sie keusch war, weil ihr Herz und ihre Seele rein waren. Sie liebte jede im Herzen Gottes und suchte in keiner Weise, sich die Zuneigung von irgendjemandem zuzuziehen. Es war nicht ihr Bedürfnis, geliebt zu werden, sondern dass Gott allein es wird. Was sie betrifft, so wollte sie es in übernatürlicher Weise werden, wie es von Gott gewollt wird. Ihr werdet mir sagen: „Sie war eine Heilige.“ Das ist möglich, meine Kinder, aber ich kann euch versichern, dass alle, die diesen Weg beschreiten werden, geliebt werden, wie es die Gute Mutter wurde.
Das erste Bedürfnis unseres Herzens ist, uns beliebt zu machen. Unser Herz braucht Zuneigung, das ist sein tägliches Brot. Panem nostrum quotidianum da nobis hodie – Unser tägliches Brot gib uns heute. Mit diesen Worten des Vaterunsers bitten wir nicht nur um das materielle Brot, sondern um das Brot unserer Seele, unseres Herzens. Wir möchten das Brot unseres Herzens alle Tage haben. Machen wir uns also beim lieben Gott beliebt, meine Kinder, machen wir alles dafür, er wird es dann auf sich nehmen, uns bei denen, die uns umgeben, im entsprechenden Maße beliebt zu machen. Und ihr werdet sehen, dass die Mittel, die er anwendet, um euch das Brot eures Herzens zu geben, die weit übertreffen, die ihr in eurem Verstand, in euren persönlichen Quellen hättet finden können. Seid eifersüchtig, geliebt zu werden, wie der liebe Gott will, dass man euch liebt und nicht wie ihr es euch wünschen würdet, es zu werden. Und sagt nicht: „Ich mache nichts Böses, wenn ich suche, mich an dieses Kind, dieses Mädchen zu binden. Ich folge einem Gefühl, das gut, natürlich und rechtmäßig ist.“ Euer Gelübde gestattet es euch nicht.
Das ist der erste Punkt des Gelübdes der Keuschheit. Wahrt nicht das Recht, euch natürlich geliebt zu machen, es ist ein Recht, das ihr unbedingt verliert, das ihr dem Heiland durch euer Gelübde überlasst. Sucht nur geliebt zu werden, wie der liebe Gott es will, und ihr werdet wirklich glücklich sein. Die aufrichtige, wahrhaftige Zuneigung kommt aus der Gnade, der göttlichen Liebe und kann der Seele Gutes tun. Wenn aber von einer Mitschwester zu einer anderen ein ganz natürlicher Hang besteht, selbst gegründet auf etwas ganz Intellektuellem, habt Acht. Sagt dem lieben Gott, dass ihr ihm diese Zuneigung opfert. Erstickt sie nicht, sondern bittet ihn, sie selbst zu ordnen, damit ihr immer Herrin über die Zuneigung bleibt, die man euch entgegenbringt, und dass ihr euch nie durch sie von eurer Pflicht abbringen lasst. Glaubt wohl, meine Kinder, dass Gott die Opfer, die man ihm bringt, hundertfach zurückgibt. Er gibt in Fülle alles, was sich das Herz in dieser Hinsicht wünschen kann. Also, meine Kinder, fürchtet sehr die Falle, die ich euch soeben aufgezeigt habe, es ist eine gefährliche Falle. Wenn ihr euch davon fangen lasst, verliert ihr die Zartheit eurer Seele, eine Menge Gnaden und vielleicht sogar eure Berufung.
Der liebe Gott ist eifersüchtig auf alle Herzen und besonders auf eures. Und diese Eifersucht treibt er auf einen Punkt, von dem ihr euch keine Vorstellung machen könnt. Lebt also in dieser ganz reinen, ganz himmlischen Atmosphäre des Gelübdes der Keuschheit, wo man Gott in seiner ganzen Fülle, in der Sanftheit der göttlichen Liebe, in der vertrauten Einheit mir seinem Willen, in seinen Absichten findet. Ich wiederhole es nochmals, mögen die, die das Gelübde der Keuschheit ablegen, und die, die es schon abgelegt haben, verstehen, dass sie sich selbst das Recht nehmen, sich beliebt zu machen, dass sie es sich ganz versagen. Sie müssen die natürlichen Zuneigungen fürchten, denn es ist die gefährlichste Falle im Ordensleben. Es ist so wahr, dass man daran seine Berufung verlieren kann. Der Friede der Ordensgemeinschaft wird geschädigt, die Liebe wird verbannt, die Spaltung schleicht sich ein, wo die Einheit herrschte. Und warum? Weil man sich bevorrechtet glaubte, sich beliebt zu machen, weil man diesen kleinen Teil des Herzens suchen wollte, den Gott allein geben kann.
Diese Frage ist wesentlich in den Beziehungen der Oberinnen mit den Untergebenen, von Gleichen mit Gleichen. Ihr versteht wohl, nicht wahr? Offensichtlich muss man seine Gefährtinnen lieben, muss man seine Oberinnen lieben und mit einer vorzüglichen Liebe. Gott erlaubt es nicht nur, er befiehlt es. Wenn diese Liebe nicht für uns, nicht zur Befriedigung unseres Herzens ist, sondern für den lieben Gott, tut es nichts Böses. Wenn sie aber persönlich ist, wenn wir uns dabei wohl fühlen, ist sie ein großes Unglück für uns, für die Ordensgemeinschaft, für alle, die um uns sind, weil es nicht nach dem Willen des lieben Gottes ist. Versteht wohl, meine Kinder, dass ihr nicht mehr das Recht habt, euch bei euren Oberinnen, bei euren Gefährtinnen beliebt zu machen. Es ist ein Raub, es ist ein Vergehen gegen die Keuschheit.
Das Wort Keuschheit (lateinisch Castitas) kommt, sagte man früher, vom Wort Kastanie. Warum benannte man diese Tugend nicht mit dem Namen einer duftenden Blume, einer Lilie zum Beispiel? Warum wählte man eine Frucht, die man nicht berühren kann, ohne sich die Finger zu verletzen? Die Kastanie wächst in einer Hülle, die mit Stacheln bedeckt ist, dessen Rinde rau und stechend ist. Warum gab man der liebenswertesten aller Tugenden gerade diesen Namen? Um uns zu zeigen, dass jedes Mal, wenn unser Herz versucht, sich menschlich einem anderen Herzen zu nähern, es einen Stachel fühlen muss und etwas zu leiden findet, um seine Keuschheit zu hüten. Es muss unser Herz jedes Mal, wenn es eine Zuneigung außer zum lieben Gott empfindet, von einer Verletzung, die sich ständig neu öffnet, angefressen werden, es muss sich so unglücklich fühlen, dass es so nicht bleiben kann. Ich sage euch, dass ihr nicht das Recht habt, euch bei euren Gefährtinnen, bei euren Oberinnen natürlich beliebt zu machen, sondern nur übernatürlich. Euer Herz gehört euch nicht mehr, ihr habt es dem lieben Gott geschenkt, ihr habt nicht mehr das Recht, darüber zu verfügen. Durch das Gelübde der Armut verzichtet ihr auf eure Güter, auf euer Vermögen. Nun ist euer Herz euer kostbarster Schatz. Das heilige Evangelium sagt es: „Denn wo euer Schatz ist, da ist auch euer Herz“ (Lk 12,34). Es ist also wohl euer größtes Vermögen, und ihr habt nicht mehr das Recht, darüber zu verfügen, genau wie über eure Güter, euer Leben. Ihr könnt aus eurem Herzen und dessen Schatz keine Zuneigung abziehen, die nicht für Gott ist. Infolge eures Gelübdes der Keuschheit gehört euch euer Herz nicht mehr.
Diese Unterhaltung ist von größter Wichtigkeit. Ich werde sie also fortsetzen. Wenn wir leben, so durch unser Herz. Es ist das wesentliche Organ unseres Körpers. Wenn es zu schlagen aufgehört hat, ist alles aus. Und in moralischer Hinsicht leben wir auch nur durch unser Herz, unsere Zuneigungen. Es ist der Mittelpunkt unseres Lebens. Nun, meine Kinder, ich wiederhole es, infolge eures Gelübdes der Keuschheit gehört euch euer Herz, euer kostbarster Schatz, nicht mehr. Ihr seht, wie dieses Gelübde Großes bewirkt. „Ihr müsst in einem sterblichen Körper eine engelhafte Seele tragen“, sagt der heilige Johannes Chrysostomus. Unsere Tugend steht sogar über der der Engel, denn sie üben die Keuschheit ohne Kampf, während wir kämpfen müssen, um unser ganzes Herz dem lieben Gott zu schenken, um nicht nur seine Freiheit darüber zu behalten. Das ist das größte aller Verdienste, denn der liebe Gott schaut auf unser Herz, und nichts kann ihm angenehmer sein als das Opfer, das wir ihm darin darbringen.
Bleibt also auf der Hut. Alle, die die Gabe, das Talent haben, sich beliebt zu machen, sollen sie fürchten, es ist sehr gefährlich. Müssen sie den lieben Gott bitten, diese Gabe von ihnen zu nehmen? Nein, nein, aber sie müssen aufpassen. Sie sind in Gefahr wie Personen, die mitten durch Diebe gehen und in ihren Händen wertvolle Edelsteine tragen. Oder um einen noch stärkeren Vergleich zu verwenden: sie sind wie jene, die in Kriegszeiten die Bomben vorbereiten, die dazu bestimmt sind, zum Sieg beizutragen. Wenn unglücklicherweise ein Funke auf diese Bomben fällt, beginnen sie, die zu töten, die sie herstellen, und die, die dabei helfen. Die Gute Mutter Marie de Sales Chappuis fühlte in sich diese Kraft der Anziehung der Herzen. Sie erfasste ihre Gefahr. Daher bediente sie sich ihrer nur, um die Seelen zu Gott zu führen, aber nie zog sie jemanden zu sich. Ich sage es euch wieder, mögen diejenigen, die dieses Können haben, ob sie nun ein Amt haben oder nicht, sehr vorsichtig sein, denn sie sind in großer Gefahr, sie tragen eine schwere Verantwortung. Was soll man da tun? Man muss sich tief demütigen, von äußerster Wachsamkeit sein, sehr über sein Herz, über alle seine Gefühle wachen und wie es die Gute Mutter Marie de Sales Chappuis machte, sich in dieser Hinsicht die geringste Befriedigung verweigern, um seine Seele durch eine ganz übernatürliche Liebe in tiefem Frieden, in großer Reinheit zu halten. Keine Mitschwester wäre auf den Gedanken gekommen, zur Guten Mutter zu gehen, um sich in ihr Denken einzuschleichen, um ihre Zuneigung zu nützen, um dieses oder jenes zu erhalten. Keine einzige wäre auf den Gedanken gekommen, zu versuchen, sie gegen eine andere aufzuwiegeln. Sie hätte gesagt: „Vade retro Satanas! – Weiche Satan!“ Dennoch ist es geschehen, dass eine Amtsschwester kam, um sich vor ihr zu beklagen. Sie ärgerte sich über ihre Gehilfinnen – und im Grunde hatte sie Recht –, aber die Gute Mutter antwortete: „Es ist gut, es ist gut, genug davon. Was lässt Sie das alles sagen? Ihr Geist? Sie glauben, viel davon zu haben, aber der Teufel hat viel mehr als Sie.“ Ein anderes Mal sagte sie: „Lassen Sie, lassen Sie! Sie machen auf mich den Eindruck eines Esels, der vor mir dahintrottet.“ Die Gute Mutter Marie de Sales Chappuis ließ sich nie von irgendwem in ein Gespräch hineinziehen, nie, nie. „Sie war eine Heilige“, werdet ihr mir sagen, aber jede muss beginnen, eine kleine Heilige zu werden.
Meine Kinder, es ist eine große Gnade, die Herzen anziehen zu können. Aber die, der Gott sie gab, muss auf der Hut sein! Sie soll mit dem lieben Gott verbunden bleiben und sich dieser Anziehungsmacht nur bedienen, um die Seelen an den Heiland zu binden. Diese Macht hatte Gott der Guten Mutter Marie de Sales Chappuis in sehr hohem Grad gegeben. Aber sie benützte sie immer nur ganz übernatürlich. Die Personen, die sich ihr näherten, fühlten in ihr immer nur die Handlungen Gottes.
Ich werde auf dieses Thema in der Beziehung zu den Internatsschülerinnen zurückkommen. Ich fasse zusammen, meine Kinder. Kraft des Gelübdes der Keuschheit haben wir nicht mehr das Recht, unser Herz zu benützen, so wie wir Kraft des Gelübdes der Armut kein Recht mehr haben, unser Vermögen zu benützen. Unser Herz ist unser Leben, unser größter Schatz. Wir haben nicht mehr das Recht, darüber zu verfügen, genauso wenig wie über unsere zeitlichen Güter. Es ist unser Reichtum, wir haben nicht mehr das Recht, von ihm zu leben, wie wir von unseren Renten oder unserer Arbeit gelebt hätten, wenn wir in der Welt geblieben wären.
Mögen die, die diese Herzensmacht besitzen, die Seelen anzuziehen, sich ihrer mit großer Gewissenhaftigkeit und Wachsamkeit bedienen. Sie sollen sich ihrer bedienen, um sie mit dem Heiland zu vereinen, und es möge in ihnen nur der göttliche Wille handeln. Mögen sie eine große Treue zur Gnade, zum Geistlichen Direktorium, zu den kleinen Beobachtungen der Ordensregel haben. Mit einem Wort: sie sollen sehr auf der Hut sein, denn diese Macht ist eine Gabe, die unheilvoll sein kann, zehnmal, hundertmal unheilvoll. Sie tragen einen Blitz bei sich, sie müssen große Vorsichtsmaßnahmen treffen, um nicht alles um sich herum zu entzünden. Bitten wir unseren Herrn, meine Kinder, euch gut verständlich zu machen, was ich euch soeben sagte. Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.