Exerzitienvorträge für die Oblatinnen 1887

      

7. Vortrag: Über die Betrachtung

Sonntag Vormittag, 4. September 1887

Meine Kinder, ich wünsche mir sehr, euch alle durch die Betrachtung mit unserem Herrn vereint zu sehen. Die Betrachtung ist das Leben der Nonne. Die Karmelitinnen verbringen täglich an die sieben Stunden im Chor. Die Heimsuchungsschwestern an die fünf Stunden. Das ist schon etwas. Wenn der Tag sechszehn Stunden hat, ist es fast ein Drittel des Tages. Und sieben Stunden ist die Hälfte. Das ist ein Leben des Gebetes. Auch ihr sollt ständig beten, wenn auch in einer anderen Weise.
Der Gedanke der Gründung der Oblatinnen wird wunderbar angenommen. Von allen Seiten erhalte ich Briefe von Oberinnen der verschiedenen Heimsuchungsklöster, die uns Kandidatinnen schicken, entweder weil das Kloster voll ist, oder weil die Person wegen ihres Temperaments ein aktives Leben braucht. Die Oberinnen fragen, ob sie bei den Oblatinnen vorsprechen können. Ich sehe, dass sie alle unsere Ordensgemeinschaft mit der geistlichen Grundlage der Heimsuchung ansehen, während er sich den äußeren Werken widmet. Sie verstehen gut den Gedanken unserer Gründung und hoffen, die ganze und vollständige Lehre des heiligen Franz von Sales durch die Oblatinnen verwirklicht zu sehen. Er liebte unseren Herrn so sehr, dass er wollte, dass sein Leben auf Erden durch eine religiöse Ordensgemeinschaft nachgeahmt werde. Es muss also unser Leben ganz genauso sein.
Die Gute Mutter Marie de Sales Chappuis hat mir für euch sehr schöne Dinge versprochen. Ich glaube daran. Ich werde sie nicht sehen, aber mein Nachfolger wird sie sehen. Ihr werdet sie sehen. Sie hat mir versprochen, dass ihr den wahren Geist des heiligen Franz von Sales haben werdet, dass man ihn von euch wieder haben wird, wenn er sich je in der Welt verflüchtigen sollte. Ich glaube, was sie mir sagte, meine Kinder. Dieses Wort, dieses Versprechen zwingt euch also, den Plan genau auszuführen, den der heilige Franz von Sales für die Oblatinnen erstellt hatte, das heißt, das innere Leben mit dem tätigen Leben vereinen. Ist es schwer, mit dem lieben Gott vereint zu sein, wenn man beschäftigt ist? Es ist vielmehr sehr leicht, und der Beweis dafür ist, dass die Laienschwestern und -brüder – wenn sie gut sind – oft mehr mit dem lieben Gott verbunden sind als die anderen Ordensleute.
Während seines apostolischen Lebens war unser Herr ständig mit seinem Vater vereint. Er trennte sich keinen Augenblick von ihm, und dennoch war er immer tätig. Solange ihr nicht Gebet und Tätigkeit miteinander in Gang bringt, wird euer Leben nicht vollständig sein. Es muss eure himmlische Lyra diese zwei Saiten haben, damit der Einklang vollständig ist. Ihr werdet mir sage: „Aber die Sorgen hindern uns, an den lieben Gott zu denken.“ Nein, die Sorgen können keine Hindernisse sein, sie sind nie ein Hindernis dafür. Und übrigens habt ihr keine Sorgen, ihr seid beschäftigt, ihr habt zu arbeiten, das ist alles.
Wie macht ihr es, den ganzen Tag ganz allein zu arbeiten? Ihr seid überlastet. Ich verstehe nicht, wie ihr eure Arbeit ohne Gott machen könnt, ohne ihn zu Hilfe zu rufen. Wie sagt ihr ihm nicht in jedem Augenblick: „Deus in adiutorium – mein Gott, komm mir zu Hilfe, erleuchte mich, inspiriere mich, mein Gott, komm zu mir, hilf mir!“ Ich verstehe nicht, dass eine Person, eine Nonne so bleiben kann, ohne den lieben Gott anzurufen. Ich verstehe nicht, wie das möglich sein kann. Je mehr überlastet man ist, desto mehr fleht man unseren Herrn an. Eine Überlastung kann also kein Hindernis sein für die Betrachtung, im Gegenteil.
Die Absicht des heiligen Franz von Sales, das innere Leben mit den äußeren Werken zu verbinden, ist hervorragend, denn es ist viel leichter, seine Betrachtung zu machen, wenn man sehr beschäftigt ist. Wenn man außer sich nichts zu tun hat, ist man bei sich, und man ist in sehr schlechter Gesellschaft. Man ist bei seiner Abscheu, seinen Versuchungen, seinen Schwächen, seinem Elend. Wenn man beschäftigt ist, denkt man nicht daran. Und glaubt ihr, dass dieses Elend, das euch belastet, ein Mittel ist, um Betrachtung zu machen? Vielleicht ist es für eine Oblatin leichter, ihre Betrachtung zu machen, als für eine klausurierte Ordensschwester. Wenn euch die Betrachtung von der Ordensregel auferlegt wird, so ist das, weil es außerhalb dessen nichts gibt, das sich mit eurer Lebensweise verträgt. Man muss es sich durch die Übung des Geistlichen Direktoriums, des Strebens nach der Gottesliebe zur Gewohnheit machen. Ich verstehe nicht, dass man einen Tag eine Stunde, eine halbe Stunde verbringt, ohne den lieben Gott zu brauchen. Ich verstehe es nicht. Denn was haben wir schließlich zu tun? Was bindet uns an die Erde? Welchen Sinn hat unsere Arbeit? Keinen, wenn sie nicht dazu dient, uns mit Gott zu vereinen. Also, meine Kinder, als der heilige Franz von Sales die Betrachtung als Grundlage unseres Lebens, aller Handlungen vorschrieb, hat er sich nicht geirrt. Er hat verlangt, was zu tun möglich ist. Ihr habt keine Entschuldigung, keinen Einwand vorzubringen. Die Betrachtung muss euer Element, die Atmosphäre, in der ihr leben wollt, sein.
O meine Kinder, kommen wir auf das oftmals Gesagte zurück, das man aber nie zu gut wissen wird. Eure Betrachtung beginnt bei eurem Aufwachen. Ihr werft eure Seele in den lieben Gott, das ist ein Akt der Betrachtung. Beim Ankleiden denkt ihr an den Punkt eurer Betrachtung; indem ihr euren Geist aufmerksam auf Gott gerichtet haltet, seid ihr in der Betrachtung. Ihr kommt zur Betrachtung. Was ist die Betrachtung? Nach der Guten Mutter Marie de Sales Chappuis ist es ein Gespräch mit Gott, bei dem man mit ihm auch über unsere Angelegenheiten reden kann. Wie werdet ihr den Tag verbringen? Ihr seid krank, leidet, ihr könnt euch nicht überwinden, warum sprecht ihr nicht mit dem liebe Gott über euer Elend? Warum sagt ihr ihm nicht: „Herr, hab Erbarmen mit meinem Elend, mit meinen Gebrechen, ich verweile zu deinen Füßen.“ Macht so eure Betrachtung. Das ist nichts Wunderbares, nichts Unmögliches. Wir sprechen zum lieben Gott über unsere Angelegenheiten, wir beschäftigen uns mit dem, was wir sind. Ihr könnt unserem Herrn nichts sagen? Bleibt vor ihm und bittet ihn am Ende eurer Betrachtung, er möge euer Herz segnen, euren Körper heilen wie auch eure Seele, und euch gewähren, was ihr braucht, um euren Tag zu verbringen, ohne ihn zu beleidigen, ohne bei jemandem Ärgernis hervorzurufen. Wozu ist es gut, seinen Geist zu zwingen, ein Geheimnis zu betrachten? Wenn ihr Heilige wäret, würde ich euch sagen: „Macht es!“, aber ihr würdet euch unnötig plagen.
An einem anderen Tag fühlt ihr euch besser. Wie werdet ihr dann eure Betrachtung machen? Warum prüft ihr nicht die Verpflichtungen eures Geistlichen Direktoriums? Fasse ich gut die Gedanken des Aufstehens? Erinnere ich mich an den Betrachtungspunkt? Halte ich meinen Geist mit Gott vereint? Mache ich meine Betrachtung, wie ich soll? Fasst dann euren Vorsatz für den Tag.
Seht am nächsten Tag das Kapitel der Heiligen Messe. Erinnert euch, was Gott euch früher während der Heiligen Messe ins Herz sagte und seht, wie verschieden ihr jetzt seid.
Denkt an einen anderen Tag an eure Beschäftigung. Ihr unterrichtet. Macht ihr es mit Herz und gutem Willen, wie es angegeben ist? Welche Beziehungen habt ihr zu den Kindern? Habt ihr euch Ablehnungen oder Bevorzugungen dieser oder jener vorzuwerfen? Fasst den Vorsatz, es besser zu machen. So spricht man zum lieben Gott, versteht das gut. Geht so euer ganzes Direktorium durch, und wenn ihr es bei der Betrachtung vier oder fünfmal ganz gesehen haben werdet, versichere ich euch, dass ihr es gut machen werdet. Es ist das Mittel, das wir gewohnheitsmäßig ergreifen.
Ich wiederhole es, die Betrachtung ist ein Gespräch mit dem lieben Gott. Worüber? Über die göttlichen Geheimnisse, die zu übenden Tugenden, aber auch über unser Elend, unsere Schwächen, unsere Versuchungen, unser Verhältnis zu dieser oder jener Person, die Verführungen unseres Herzens, die Verführungen, mit denen wir selbst unser Herz täuschen, um es glauben zu lassen, dass das, was wir machen, nicht schlecht ist. Wie steht euer Herz zu Gott? Ihr habt das Gelübde der Keuschheit abgelegt. Ihr wisst, wozu es euch verpflichtet. – Wir werden darauf zurückkommen, ich werde es euch erklären. – Ihr müsst auf einen unnötigen Blick achten, der Versuchung widerstehen, mit einer bestimmten Person zusammen zu sein, wenn es nicht nötig ist. Warum sprecht ihr nicht mit dem lieben Gott darüber, wenn ihr mehrmals in diesen Fehler zurückgefallen seid? Es sind eure Angelegenheiten, und Angelegenheiten, die euch nicht nur ins Fegefeuer, sondern wenn ihr nicht darauf achtet, sogar in die Hölle geleiten können. Das ist der Mühe wert, darüber mit Gott zu sprechen, euch auf den Kampf, den Sieg vorzubereiten.
Was verursacht, dass wir nicht übernatürlich, keine Töchter der himmlischen Gespräche sind? Weil wir keine Betrachtung machen können. Die Zeit für die Betrachtung ist uns gegeben, nützen wir sie. Erzählen wir dem Heiland unsere Widerwärtigkeiten, unsere Schwierigkeiten mit dem Gehorsam, mit der Beobachtung der Ordensregeln, unsere Schwierigkeiten mit dieser oder jener Mitschwester, deren Charakter oder Seinsweise uns nicht passt. Ist unsere Liebe ganz, zeigt unser Herz keinen Widerwillen, keine Zuneigung? Seid achtsam. Wenn es Widerwillen gibt, ist es etwas Schlechtes. Schauen wir uns das vor dem lieben Gott an.
Das ist der Stoff der Betrachtung, meine Kinder. Es ist sehr einfach. Sprecht zu unserem Herrn auch über eure Interessen, darüber, was ihr gemacht und was ihr vernachlässigt habt. Macht so eure Betrachtung und ihr werdet mit dem Heiland ein Gespräch führen, das eurer Seele und eurem Herzen sehr von Nutzen sein wird. Das hilft uns, uns zu bessern, es lässt uns Fortschritte machen. Ist es etwas Trockenes, Hartes? Ist es eine einfache Aufzählung? Aber nein, meine Kinder. Wenn man mit jemandem spricht, den man sehr liebt, spricht man mit Herz, man bittet ihn um Licht und Kraft. So muss man zu unserem Herrn sprechen, er ist unser ganzes Leben.
An den Feiertagen, en Jahrestagen, wenn wir vom lieben Gott berührt werden, legt er dieses Gefühl in unser Herz. Folgen wir ihm. Unser Herr will mit uns plaudern. Können wir seiner Einladung nachkommen? Ohne Zweifel. Wir sind zuhause, in unserem Zimmer, der Heiland ruft uns, er führt uns, wohin er will. Auf Kalvaria, um uns zu zeigen, wie viel er für uns gelitten hat; auf Tabor, um uns zu offenbaren, wie er in seiner Herrlichkeit ist; zum Allerheiligsten Sakrament im Tabernakel, um uns verständlich zu machen, wie sehr er uns liebt, und es ist gut. Wir gehen weg, wenn wir ihn gehört haben, wir bitten ihn um seinen Segen, und wir bewahren seine Gegenwart den ganzen Tag. Wenn die Betrachtung so gemacht wird, spricht unser Herr über seine Angelegenheiten, hat er das Wort. Er sagt zur Seele: „Alles, was ich gehört habe, sage ich dir. Ich spreche zu dir, weil ich die mich einer grenzenlosen Liebe liebe, ich habe dich erwählt, du bist meine Gemahlin, deshalb sage ich dir das.“
Meine Kinder, es ist nicht möglich, sich bei der Betrachtung zu langweilen, egal ob wir zum lieben Gott sprechen, oder ob der Heiland zu uns spricht. Aber dazu braucht man ein reines Herz und ein geradliniges Urteil. Das Herz rein von uns selbst und von jeder natürlichen Neigung; das Urteil geradlinig, das nicht aus uns selbst urteilt, sondern wie es der Gehorsam will.
Versteht gut, was die Betrachtung ist. Noch einmal, es ist das Gespräch unseres Herzens mit Gott über die Dinge, die uns betreffen. Die andere Betrachtung, über die ich euch soeben ein Wort sagte, heißt Beschauung. Unser Herr spricht selbst zu uns über seine Angelegenheiten, er führt uns auf den Tabor oder auf den Kalvarienberg, er zeigt uns, wie sehr er für uns am Ölberg gelitten hat, er führt uns vor Augen, wie sehr er von den Sünden beleidigt wird und wie sehr wir selbst ihn beleidigt haben. In seinem Sakrament der Liebe zeigt er uns seinen Gehorsam seinem Vater und sogar uns gegenüber. Da ihm der Priester gesagt hat, er solle in die Heilige Hostie kommen, verweilt er darin.
Versteht das wohl, was ihr dem Heiland zu sagen habt. Bittet ihn um die Gnade, die Betrachtung richtig zu verstehen und gut zu machen. Amen.