6. Vortrag: Über die Zuneigungen, die erforderlichen Bedingungen, um Betrachtung machen zu können
Samstag Abend, 3. September 1887
Meine Kinder, heute Abend werde ich euch ein Wort über ein anderes großes Mittel zur Heiligung sagen, nämlich über die Betrachtung. Aber vorher will ich euch verständlich machen, dass es, um die Betrachtung gut zu machen, notwendig ist, ein reines Herz und ein redliches Urteil zu haben. Man muss das Herz rein von ungeordneten Zuneigungen haben, ein gerades und gesundes Urteil haben, denn wenn das Herz nicht rein ist, wenn das Urteil nicht gerade und gesund ist, ist es nicht leicht, Betrachtung zu machen.
Was brauchen wir denn, damit unser Herz rein ist? Meine Kinder, das ist schwer zu sagen. Das kann uns fast nur der liebe Gott zeigen. Wenn wir jemand oder etwas irgendwie lieben, bilden wir uns ein, dass es gut ist. Wir passen auf unsere Zuneigung nicht mehr auf. Das ist ein Irrtum. Wie oft geschieht es, dass wir in Wirklichkeit nur uns lieben, weil wir diese Person, diese Sache nur für uns lieben? Das kommt sehr oft vor und es ist so wahr, dass der kleineste Umstand, das kleinste Missgeschick uns das Gefühl ändern lässt. Wir lieben diesen Menschen, wir glauben, ein reines Herz zu haben. Wir verharren in dieser Zuneigung und glauben, mit dem lieben Gott ganz in Ordnung zu sein. Dieser Irrtum kommt davon, dass wir uns selbst lieben und uns selbst suchen. Das Gefühl, dass wir empfinden, geht nicht von der Zuneigung zu der Person aus, sondern von einer wahren Zuneigung zu uns selbst.
Wenn wir eine derartige Zuneigung haben, fällt es uns sehr schwer, mit Gott zu sprechen. Unser Herz ist nicht wahrhaftig, nicht aufrichtig. Wir glauben, diese Person zu lieben und lieben uns, wir geben uns Illusionen hin und im Grunde kehrt diese Zuneigung zu uns selbst zurück. Wie entdecken wir, ob unsere Zuneigungen gut oder gefährlich sind? Wenn die Zuneigung, die wir zu einer Person, einem Gegenstand empfinden, unser Herz immer an seinen Platz lässt, uns jede unserer Mitschwestern lieben lässt, uns nicht von der Zuneigung zur Gemeinschaft ablenkt, zu denen, die die Autorität haben, ist unsere Zuneigung wahrhaftig und gut. Das ist der Probierstein.
Wenn man ein Schmuckstück zum Goldschmied bringt, nimmt er seinen Probierstein. Wenn das Gold gelb bleibt, ist es reines Gold, wird es hingegen schwarz oder grün, verblasst oder oxydiert es, sagt man: „Das ist kein Gold.“ Ich bringe auch eure Zuneigungen zum Probierstein. Wenn es wirklich Gold ist, behält sie den Charakter der Zuneigung, gleicht sie der, die ihr für eure Oberinnen, eure Mitschwestern habt, ist sie gut. Wenn es aber schwarz wird, brennt, schlecht riecht – was bei gewissen Metallen geschieht –, ist es keine wahre Zuneigung, liebt ihr euch nur selbst, macht euch etwas vor.
Könnt ihr damit Betrachtung machen? Es ist nicht die Liebe zu Gott in eurer Seele, sondern die Suche nach euch selbst. Hütet euch jedes Mal, wenn es einen parteiischen Geist gibt, was man Auswahl nennt, die darin besteht, ein Korn, einen Stein zu wählen, und die anderen zu verweigern, was etwas wählen und etwas anderes zurückweisen heißt, und das ist nicht gut. Wenn ihr diese Wahl trefft, ist es sicher nicht die Nächstenliebe.
Ist es nicht gestattet, eine Person mehr zu lieben als eine andere? Doch, die Gute Mutter Marie de Sales Chappuis liebte diese oder jene Mitschwester sehr, die heiliger waren, aber das entfernte sie nicht von den anderen. Sobald diese Zuneigung nicht hindert, die anderen zu lieben, sobald sie euch mehr und mehr mit den Mitgliedern der Gemeinschaft verbindet, könnt ihr sie aufrechterhalten, sie sogar mehr beleben. Wenn diese Zuneigung euch dazu bringt, eure Mitschwestern zu lieben, ist eure Seele rein, könnt ihr Betrachtung machen, könnt ihr euch Gott nähern. Bringt sie euch hingegen zur Zurückweisung der anderen, ist sie nichts wert, ist sie in den Augen Gottes verachtenswert. Das zerstört alles. Das ist der Probierstein, diese Dinge sind sehr heikel.
Meine Kinder, ich liebe euch alle, aber ich ziehe sicher welche vor, weil in ihnen die Gabe des lieben Gottes sehr genützt wird, weil sie tugendhafter sind. Das besagt nicht, dass ich die mehr liebe, die vom lieben Gott mehr erhalten haben, sondern die, die treuer sind. Hindert mich das zufällig daran, den anderen Zuneigung entgegen zu bringen? Es ist für mich viel mehr ein Grund für sie zu beten, um sie mehr für den lieben Gott zu gewinnen. Warum? Weil dieser Grund der Bevorzugung nicht von mir kommt, sondern von der Gnade Gottes in den Seelen. Hat der liebe Gott nicht seine Vorlieben, kann man nicht auch welche haben? Diejenigen, die von Gott bevorzugt werden, die sich mehr geliebt fühlen, sollen glücklicher, dankbarer zu ihm gehen, das soll sie sehr für die göttliche Liebe beleben.
Das sind ein wenig abstrakte Überlegungen, meine Kinder, aber sie sind notwendig. Hütet euch also gut vor jeder Zuneigung, die euch von anderen Zuneigungen abwendet. Man muss sie also nicht immer opfern, aber sie mit dem Probierstein erproben, reinigen und heiligen. Sie darf euch nicht hindern, die anderen zu lieben. So soll es in der Gnadenverordnung sein. Der heilige Franz von Sales gibt uns zu diesem Thema einen schönen Vergleich. Da ist ein Rosenstock, der verschiedene Rosen trägt, die einen frisch, gut entfaltet, die anderen weniger schön. Er trägt sie alle, er erträgt die, die blühen, wie die, die verwelkt sind, die, die stirbt, wie die, die soeben geboren wurde. Auch die Liebe erträgt alle Nächsten in gleicher Weise. Doch da ist ein Sünder. Werde ich ihn ebenso lieben, wie den, der gut ist? Nein, ich habe Angst vor der Sünde, aber er möge gut werden und ich werde ihn lieben wie einen anderen. Es gibt keinen gleichen Fall aufzustellen, man liebt Gott in den Seelen, mögen sie Gott in sich aufnehmen, und man wird sie lieben.
Der liebe Gott ist sehr heikel. Um Verbindung mit ihm zu haben, muss die Seele vorbereitet und das Herz vor allem von natürlichen Zuneigungen rein sein. Und das Mittel, sich darüber klar zu werden, ist die Prüfung, ob die Zuneigung, die ihr für eine Person empfindet, euch Abneigung für andere gibt. Versteht das, denn der heilige Franz von Sales wollte, dass das einzige Band seiner Töchter die Liebe ist. Jede hat, wenn sie in die Ordensgemeinschaft eintritt, ein Recht auf die Zuneigung der Gemeinschaft, und diese Zuneigung, diese Liebe ist das Vermögen der Gemeinschaft. Also noch einmal: Wollt ihr erkennen, ob eure Zuneigung rein ist, so ist hier das Kennzeichen: schaut, ob sie so ist, dass sie euch keine Zurückweisung anderer eingibt, dann ist sie gut. Aber wenn sie euch Zurückweisungen eingibt, liebt ihr euch selbst, ist eure Zuneigung nicht aufrichtig. Würde diese Person eine andere lieben, würdet ihr sie verlassen. Es ist also euer Herz nicht aufrichtig, ihr irrt euch, ihr verführt euch selbst, ihr bildet es euch ein. Ihr könnt keine Betrachtung machen, denn dazu braucht man ein reines Herz.
An zweiter Stelle braucht man ein gerades Urteilsvermögen. Man soll sein Mäntelchen nicht in jeden Wind hängen und sich vorstellen, Offenbarungen zu haben, sondern ein geradliniges und sicheres Urteilsvermögen haben. Wie weiß man, ob man ein geradliniges Urteilsvermögen hat? Jedes Mal, wenn ihr liebt, was der liebe Gott will, was er macht, was er von euch verlangt, urteilt ihr richtig. Wenn ihr dem Geistlichen Direktorium folgt, in euren Gesprächen die Nächstenliebe beachtet, wenn ihr bei Unerwartetem nicht eurer Vorstellung sondern dem Gehorsam folgt, urteilt ihr richtig. Was ist die Betrachtung? Es ist ein Gespräch unserer Seele mit Gott über unsere eigenen Angelegenheiten. Wenn euer Herz nicht gut eingestellt ist, könnt ihr mit Gott nicht sprechen. Wenn euer Urteil nicht gerade ist, könnt ihr es auch nicht. Was ihr sagt, hat keinen allgemeinen Sinn, und der liebe Gott spricht nicht mit jemand, der keinen allgemeinen Sinn hat.
Man muss also ein richtiges Urteilsvermögen haben. Jedes Mal, wenn ihr wie der Gehorsam, das Geistliche Direktorium, die Oberen urteilt, könnt ihr mit Gott sprechen, habt ihr die Sprache, die Grundlage des Gesprächs. Was werde ich euch sagen, um euch das verständlich zu machen. Nie in meinem Leben habe ich gesehen, dass eine Nonne, die kein reines Herz, nur ihre eigenen Zuneigungen und Vorlieben hatte, Betrachtung machen konnte. Ich sah auch einige, die kein richtiges Urteilsvermögen hatten, die sich außerhalb des Gehorsams aufhielten. Diese konnten auch nie Betrachtung machen. Sie kauerten in ihrem Chorstuhl, schliefen, machten nichts. Noch einmal, ich sah einige Nonnen, die unüberwindliche Schwierigkeiten hatten, Betrachtung zu machen. Sie hatten ein schlecht ausgerichtetes Herz, übel gelenkte Zuneigungen. Die Früchte konnten auf diesem unfruchtbaren Boden nicht gedeihen. Versteht die Wichtigkeit dessen, was ich euch da sage, meine Kinder, denn Betrachtung machen ist alles bei uns. Das Leben unseres Herrn war eine ständige Betrachtung. Und die ständige Betrachtung machte auch die Gute Mutter Marie de Sales Chappuis so heilig. Die ständige Betrachtung macht die Oblatinnen, denn die Gedanken des Geistlichen Direktoriums, die Erinnerung an die Gegenwart Gottes, die Gedanken an den Tod sind nichts anderes als eine ständige Betrachtung, eine Verwirklichung dieses Wortes unseres Herrn: Man muss immer beten und nie ermüden.
Ich wiederhole es: die Bedingung, um dieses innere Leben genau zu führen ist die Reinheit des Herzens, die Aufrichtigkeit des Urteils. Ich gebe euch das Mittel, zu erkennen, ob ihr diese Bedingung erfüllt. Habt ihr ein reines Herz? Also sind alle eure Zuneigungen gut. Gute Zuneigungen geben keinerlei Abweisungen gegen ihre Berufung oder gegenüber irgendeiner Mitschwester ein. Sie vermitteln euch vielmehr Zuneigung zum Guten und Abneigungen zum Schlechten, aber nie zu den Mitschwestern der Gemeinschaft. Denn jede von ihnen hat beim Eintritt in die Ordensgemeinschaft ein Recht auf die Liebe der Gemeinschaft wie sie das Recht auf Nahrung, Kleidung und ein schützendes Dach hat.
Ist euer Urteil richtig? Also fällt ihr euer Urteil im Sinn der Ordensregel, der Oberinnen, des Gehorsams? Die Oberen sind nicht unfehlbar, sie können sich irren, aber wenn ihr gehorsam seid, irrt ihr euch nie. Und selbst wenn sich die Oberinnen irren, zieht Gott Nutzen daraus, und schreitet in direkter Weise ein, die ans Wunderbare grenzt.
Die Betrachtung ist ein Gespräch mit Gott. Und um mit Gott zu sprechen, darf man keine Zurückweisungen, keine ungeordneten Zuneigungen haben, sondern ein gerades Urteil und einen natürlichen Sinn. Ich wiederhole es oft, um es euch gut verständlich zu machen. Wenn man Dinge ohne allgemeinen Sinn sagt, kann man kein Gespräch anknüpfen.
Habt also ein reines Herz und ein geradliniges Urteil wie Salomo, der ein gerades Herz und einen klugen Willen forderte, um den Willen Gottes, die göttlichen Dinge zu lieben und uns führen zu lassen. Diese Anlage ist wesentlich, wenn man Betrachtung machen können will. Wir handeln oft unüberlegt, impulsiv, von einem unvernünftigen Gefühl getrieben, und oft ist dieses Gefühl schlecht. Betrachtete eure Seele vor der Betrachtung, um Gott darin zu empfangen, um mit ihm zu sprechen. Besichtigt das Haus, nehmt die Fackel der Wahrheit, des Glaubens und der Aufrichtigkeit, schaut, ob es keine ungeordneten Zuneigungen, keine schiefen Urteile gibt. Achtet darauf, ihr wisst, dass eure Zuneigung zu einer Person richtig ist, wenn sie euch nicht von eurer Pflicht ablenkt. Wenn sie es tut, ist es eine natürliche Zuneigung. Ich habe Angst vor diesen Zuneigungen, sie sind in ihrer Wurzel böse, sie zerstören das Ordensleben.
Diejenigen, die sich rühmen, Herz zu haben, sollen sich fragen, ob das ihr Herz ist. Es fängt bei der ersten Versuchung Feuer und die Auswirkungen sind umso schrecklicher je stärker sie empfunden werden. Meine Kinder, es gibt zwei Wesen, vor denen ich mich hüte: einen Mann, der seine Rechtschaffenheit rühmt, und eine Frau, die immer ihr Herz rühmt. Das sind zwei gefährliche Wesen, vor denen ich mich hüte. Die Rechtschaffenheit, deren man sich rühmt, ist keine Rechtschaffenheit. Das Herz, dessen man sich rühmt, ist kein Herz. Es ist eine geheime Liebe zu sich selbst, zu seiner Einbildung, seinen Sinnen – fast immer seiner Sinne – so dass die Person, die sich so rühmt, ein von sich selbst und den anderen gefürchtetes Wesen ist. Ich betreibe da Philosophie, aber die Philosophie ist die Grundlage der Theologie. Man lernt sie vor der Theologie. Man muss mit der Grundlage beginnen; ohne Grundlage gibt es nichts Solides.
Wollt ihr Töchter der Betrachtung werden, die Betrachtung verstehen und gut machen? Wer macht sie gewohnheitsmäßig gut? Wer findet Gott in seinem Herzen? – Ich sage nichts gefühlsmäßig – aber wem gibt Gott Licht und Mut? Welche Seele verwöhnt er so? Die, die sich ihres Herzens rühmt, die sich von ihren Oberen trennt, die die Ordensregel verachtet? Ich sammle in meinen Gedanken die Seelen, die Gott mir von nah und fern zur Führung gab. Ich erkenne sie und erinnere mich, dass diejenigen, die in dieser Beziehung zu wünschen übrig ließen, wie der Strauß über den heißen Sand vorbeigingen, der ein wenig Wasser suchte, um sich zu erfrischen. Und anstatt in der Oase am Brunnen zu suchen, gingen sie immer weiter ins verlassene Gebirge, in die unzugänglichen Felsen.
Meine Kinder, ihr werdet darüber nachdenken, und da ihr Töchter der Betrachtung sein wollt, werdet ihr eure Zuneigungen, euer Urteil prüfen. Ihr werdet an den Zeichen, die ich euch angegeben habe, gut sehen, ob ihr richtig liegt. Wenn ihr richtig liegt, bleibt dabei, wenn ihr falsch liegt, beeilt euch, davon herauszukommen. Die Betrachtung ist unser ganzes Leben, unser Sein. Könnten wir etwas ohne Betrachtung machen, beten, dem Nächsten ergeben sein, die Seelen bekehren? Ihr könnt ohne Gott nichts machen, der Herr sagt es. Also werden wir Gott bitten um die Aufrichtigkeit des Herzens, die Geradlinigkeit des Urteils, damit wir liebevoll mit ihm sprechen können. Man kann nicht mit jemandem vertraulich sprechen, ohne ihn zu lieben. Man kann es auch nicht, wenn man nichts versteht, wenn man den Geist gefälscht hat.
Ich komme oft auf denselben Gedanken zurück, weil ich ihn euch einhämmern will, damit ihr Töchter der Betrachtung werdet, Töchter des himmlischen Gesprächs, das heißt dass euch eure Gespräche, eure Handlungen nicht von eurem vertrauten Gespräch mit Gott abbringen. Es darf nichts in euch sein, das dieses himmlische Gespräch behindert, und ihr müsst alles beseitigen, das sich ihm entgegenstellt. Bittet die Gute Mutter Marie de Sales Chappuis um diese beiden wesentlichen Bedingungen, von denen ich soeben sprach. Sie hatte diese Eigenschaften in einem sehr hohen Grad. Ich sah nie ein geraderes Herz, eine beständigere Liebe, ein sichereres Urteil. Warum? Weil Gott sie erleuchtete. Bittet sie um ein gerades, aufrichtiges Herz, ein gutes und sicheres Urteil, um in die himmlischen Wohnungen einziehen zu können, über die sie zu mir sprach, Wohnungen, die noch nicht geöffnet wurden, die noch niemand betreten hat, in die ihr aber eingeführt werden sollt. Das sind die Versprechungen der Guten Mutter Marie de Sales Chappuis. Sie hat mir tausend Mal gesagt, dass ihr in die himmlischen Wohnungen eintreten sollt. Deshalb sage ich euch so sehr, eure Seelen zu reinigen, um einziehen zu können, so oft, denn ihr seid dazu berufen. Bittet also Jesus im Allerheiligsten Sakrament um ein sehr aufrichtiges Herz und ein sehr gerades Urteil. Amen.