2. Vortrag: Über die Notwendigkeit, sich aus Liebe zu unserem Herrn hinzugeben
Donnerstag Abend, 1. September 1887
Meine Kinder, heute Vormittag sagte ich euch sehr ernste Dinge, Dinge, auf die ich heute Abend nicht zurückkomme, die ich aber mit aller Kraft der Wahrheit aufrecht erhalte. Eine Nonne muss ein anderer Mensch als eine einfache Christin sein, denn sie hat andere Aufgaben, andere Pflichten zu erfüllen. Im Himmel werden die Ordensleute einen besonderen, bevorzugten Platz bekommen, und dieser Platz wird ihnen in Folge des Standes gegeben werden, den sie auf Erden angenommen haben.
Der heilige Thomas [von Aquin] sagte positiv, dass es in der heiligen Kirche zwei Stände gibt: den Stand der einfachen Gläubigen, und den Stand jener, die sich Gott im Priestertum oder im Ordensleben geweiht haben. Die Aufgaben der Ordensleute sind also besondere Aufgaben; sie stehen nicht im Gegensatz zu jenen des christlichen Lebens, sondern sie sind ein Mehr. Wenn ihr sie nicht erfüllt, seid ihr keine Nonnen, sondern unterhalb einer einfachen Christin, weil sie ihre Pflicht erfüllt und ihr nicht. Überlegt also, was ich euch heute Vormittag gesagt habe, und handelt so, dass ihr, wenn ihr bei den nächsten Exerzitien eure Gewissenserforschung macht, euch sagen könnt: „In diesem Jahr habe ich nichts verloren, ich bin von dem Punkt, wo ich war, nicht hinabgestiegen. Ich habe nichts getan, das mich vor Gott in ein schlechtes Licht bringen könnte.“ Dieses Zeugnis wird für euch eine große Ermutigung sein, versucht sie euch bei jeden Exerzitien zu verschaffen.
Was sind also eure Pflichten als Nonnen? Eine Weltliche soll sich an ihren Gatten und ihre Kinder hängen und hingeben. Ihr Leben ist ein Leben der Hingabe und folglich der Zuneigung, denn man gibt sich immer nur denen hin, die man liebt. Die Nonne, die das Gelübde ablegt, auf Bindungen, auf die Zuneigungen der Welt, auf die Güter, die Christen im Allgemeinen genießen, zu verzichten, verspricht ebenfalls sich hinzugeben, zu lieben. Das ist das Wesen ihrer Bindung. Wem wird sie sich hingeben? Dem lieben Gott und dem Nächsten. Wenn ihr diesen Weg nicht einschlagt, seid ihr außerhalb des gemeinsamen Gesetzes, außerhalb des Lebens der von Gott aufgestellten Ordnung. Euer Platz ist nicht mehr unter den Lebenden, sondern unter den Toten. Ihr habt kein Recht mehr auf das Leben, da ihr die Gottesliebe nicht in eurem Herzen habt.
Meine Kinder, ich setze euch ein wenig abstrakte Überlegungen vor. Ich werde jetzt welche in euer Herz rufen. Der Heiland hat ein Recht auf eure Ergebenheit. Euer Herz und euer Verstand müssen sich für ihn opfern. Ihr müsst ihm euer Leben ganz schenken. Nun, wie werdet ihr es machen, wenn ihr unseren Herrn nicht liebt, wenn seine Liebe nicht die Grundlage eures Seines, das Wichtigste eures Lebens ist?
Seit einiger Zeit trifft man nicht selten Oberinnen, die sich beklagen und sagen: „Derzeit ist es fast nicht mehr möglich, wahre Nonnen auszubilden, weil es keine Unterwürfigkeit mehr gibt.“ Mein Kinder, ich übermittle euch dieses Zeugnis, dass es unter euch nicht so ist. Bei euch gibt es Hingabe. Wollte ich in euch den Egoismus, die Liebe zu euren Bequemlichkeiten, zu eurem Wohlergehen suchen, würde ich sie nicht antreffen. – Ihr seht, wie glücklich ich bin, euch Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. – Während mir das Oberinnen sagen, dass die Liebe zu sich selbst, zu seinem eigenen Wohl die Handlungen bestimmt; es ist nicht mehr diese höchste Liebe, die in den Herzen herrschen sollte. Alles, was in euch an Ergebenheit, an Selbsthingabe ist, hängt von einer gewissen Gottesliebe ab, die in euren Herzen ist, oder von einer ersten Eingabe der Gnade vom lieben Gott, woran ihr euch erinnert. Sie hebt euch wieder empor, setzt ihr Tun wieder fort und erhält die kurz zuvor gegebene Bewegung. Aber merkt wohl: diese Anlage zur Hingabe, die euch der liebe Gott schenkt, und die der Heiland und seine Engel so gerne in euch sehen, müsst ihr erhalten und unterstützen. Die Liebe Gottes muss sie erhalten. Seid untertänig, jede bei eurer Beschäftigung, bei eurem Amt. Ihr seid es, aber seid es noch mehr, seid dem Opfer hingegeben. Liebt unseren Herrn mehr, damit seine Liebe in euch herrscht. Diejenigen, in denen der Geist des lieben Gottes, in denen das Herz lauter spricht, sie sind der Kongregation ergeben. In den Familien gibt es immer Elend, Widersprüche, Ärger; aber eine Familie wird schön, wenn tiefer Friede ihre Mitglieder eint, wenn eine große Liebe, eine große Harmonie herrscht. Seid der Gemeinschaft, jeder unter euch ergeben. Möge sich eure Hingabe erweitern und sich auf alle Mitglieder des Institutes erstrecken, die das gleiche Gewand wie ihr tragen. Bildet wahrhaftig nur ein Herz und nur eine Seele. Das verlangt Opfer; je mehr sie kosten, desto mehr bringen sie ein. Alles, was ihr kauft, bezahlt ihr. Für ein Bündel Stroh bezahlt ihr fünf Sous, zehn Sous; für ein Stück Stoff zahlt ihr hundert Francs, 500 Francs, 600 Francs. Warum zahlt ihr für ein Bündel Stroh nur fünf Sous? Weil es nur so viel wert ist. Warum wird ein Stück Stoff um fünfzig Mal, hundert Mal mehr verkauft? Weil es uns fünfzig Mal, hundert Mal mehr Dienste leistet. Wenn ihr nur kleine Opfer bringt, werdet ihr fast nichts verdienen, wenn ihr große bringt, werdet ihr viel verdienen.
In der Gemeinschaft, meine Kinder, kostet die Nächstenliebe am meisten und verlangt die größten Opfer weil die Liebe den höchsten Preis hat. Mit diesem goldenen Tuch werdet ihr im Himmel bekleidet werden, und wie der heilige Franz von Sales sagt, wird man mit diesem Stoff jeder ein Kleid nach ihrer Größe und ihren Maßen machen. Es ist derselbe Stoff, aus dem man dem kleinsten Mädchen wie dem größten ein Kleid macht.
Seid also der Gemeinschaft, jedem ihrer Mitglieder nach dem Geist, der sie belebt, sehr untertan. Heute Abend sagte ich euch soeben, dass man nicht nur dem treu sein muss, was ich euch heute Vormittag empfahl, sondern der Liebe unseres Herrn. Als Nonnen seid ihr seine Kinder, seine Gemahlinnen. Wen habt ihr gewählt? Ihn. Wer hat euch geantwortet? Er. Wem habt ihr eure Hand, euer Herz gegeben? Ihm. Euer Leben? Ihm. Und ihr würdet ihn nicht lieben? Und euer Herz würde nicht für ihn schmelzen? Und ihr wüsstet nicht, was es bedarf, um ihn zu lieben? Aber was sich Liebe nennt, nicht nur oberflächlich, sondern mit eurem Herzen, eurem Gefühl, eurem ganzen Sein, es soll nicht nur mit der Spitze eures Geistes, einem kleinen Winkel eures Herzens sein, sondern völlig mit euch ganz selbst ohne Einschränkung, rückhaltslos. So muss man ihn lieben. Warum liebt ihr ihn nicht mehr? Weil ihr für ihn nicht genug geopfert habt, meine Kinder, das ist offensichtlich.
Alle Opfer, die man bringt, steigern die Hingabe, die Liebe. Seht die Kinder, selbst in den besten Familien, von einer zu guten Mutter, von zu weichen Verwandten aufgezogen, werden gewöhnlich, um nicht zu sagen unfehlbar, schlechte Menschen. Warum? Weil sie nichts gegeben haben, weil die Liebe ihrer Verwandten sie nichts gekostet hat. Wenn hingegen die Liebe etwas kostet, ist sie eine dauerhafte Liebe. Wir lieben nur gemäß unserer Opfer, es sei gesagt für die Kinder, die ihr erzieht, man bindet sie nur an sich, wenn man sie Opfer bringen lässt. Es ist eine hohe Philosophie, die Herzen durch das Opfer an sich zu binden. Liebt unseren Herrn bis zum Opfer. Möge das Opfer in euch die Liebe steigern und euch bereit machen, euch jeden Tag mehr zu opfern. Der heilige Augustinus sagt: „Gebt mir eine Seele, die liebt, und sie wird mich verstehen.“ Und ich sage euch: „Gebt mir eine Schwester, die liebt, und sie wird verstehen, was ich sage.“
Was soll man opfern? Opfert, was euch am meisten kostet. Wenn ihr etwas Teures kaufen wollt, gebt ihr nicht Kupfer, ihr bezahlt es mit Gold. Um etwas so Gutes, so Hervorragendes wie die Liebe unseres Herrn zu bekommen, gebt also, was euch mehr kostet. Man muss die Liebe unseres Herrn durch Opfer verdienen, die etwas kosten, Opfer des Charakters, des Geschmackes, der Neigungen. Nichts ist schwerer zu ertragen als der Nächste. Der liebe Gott setzt da die größten Opfer ein. Bringen wir sie, um die Liebe unseres Herrn zu verdienen.
O meine Kinder, wenn ihr ein wenig die unsagbare Süße und Milde der Liebe unseres Herrn gekostet hättet, würdet ihr die Sprache der Braut im Hohelied der Liebe verstehen; wie sie wäret ihr angezogen vom Geruch seiner Düfte. Wir würden gerne, wie die Gute Mutter [Marie de Sales Chappuis] sagt, um den Heiland kreisen, ihn um Unterstützung und Rat bitten. Wir würden gerne seinen Blick, ein Zeichen seiner Liebe auf uns fühlen, uns nicht fern von ihm als Fremde von ihm fühlen. Das ist unser Leben, wir haben kein anderes. Sonst lieben wir unseren Herrn nicht. Er gehört uns nicht, wir gehören ihm nicht. Heute Vormittag sprach ich zu euch über die Pflicht, heute Abend spreche ich zu euch über die Liebe. Die Liebe lässt die Pflicht lieben und erfüllen. Die Pflicht erlangt die Liebe. Man wird erkennen, dass ihr die Anhängerinnen des Heilands seid, wenn ihr macht, was er euch befiehlt.
Meine Kinder, habt kein trockenes Herz, keine trockene Seele, kein Herz aus Papier. Man weiß nicht, was eine solche Nonne ist. Nichts in ihr erhebt sich über das Allgemeine. Sie glaubt nicht mehr wie andere, sie ist wie diese Frau ohne Glauben, die alt wurde, und von ihrem Irrtum über die Dinge des Lebens befreit wird. Was ist in dieser Seele? Nichts. Der liebe Gott ist nicht mehr mit ihr, sie wird schal, sie wird ein sehr niedriges Wesen. Wenn die Liebe Gottes nicht mehr in einem Leben ist, worüber kann es dann glücklich sein?
Die drei göttlichen Personen, die ein und derselbe Gott sind, haben nur ein und dieselbe Liebe. Sie liebe einander die eine ebenso sehr wie die andere, und ihre Liebe ist unendlich. Wenn es anders wäre, wie wäre sie dann ein und derselbe Gott? Ich gehe sogar nicht weiter. Unser Herr sagt, wir sollen mit ihm eins sein, wie er mit seinem Vater eins ist, nicht in der Macht, nicht in der Heiligkeit natürlich, sondern wie ein kleiner Wassertropfen, der in den Ozean fällt. Das ist zwar ein nicht wahrnehmbarer Punkt, aber es gibt dennoch zwischen ihm und dem Ozean eine Ähnlichkeit des Lebens, des Handelns, des Wirkens. Die treue Seele ist also wie ein Stück Kristall, in das die Sonnenstrahlen einfallen. Dieses Kristall ist nicht selbst ,die Sonne, aber es rückt die Schönheit und den Glanz der Sonne in unser Blickfeld. So sollen wir sein. Was bewirkt das in uns? Die Liebe unseres Herrn. Wenn wir sie nicht haben, ist es ein Strich, der auf der Skala unseres Herzens fehlt, der wesentliche Strich, die Grundlage der Tonbeschaffenheit, der Ton, von dem wir ausgehen und zu dem wir wieder zurückkehren müssen. Das Medium fehlt. Verstehen wir das gut.
Wie gerne möchte ich euch doch, meine Kinder, bei der Betrachtung beim Heiland sehen, wenn ihr wie Maria Magdalena mit eurem Herzen betet, ihn anschaut, ihn liebt. Ihr werdet mir sagen: „Aber, mein Vater, man kann nicht immer innig sein.“ Was nennt ihr innig sein? Ihr könnt wohl immer dem Heiland sagen: „Ich bin vor dir, Herr, ich fühle nichts, ich bin kalt und trocken; lass deinen Blick auf mir ruhen.“ Warum solltet ihr euch bei der Heiligen Messe, wo sich Jesus seinem Vater opfert, nicht eben opfern, das heißt wie er, so sehr wie er? Was opfert er? Er opfert seinen Körper, seine Seele, seinen Willen. Gebt auch ihr eure Augen, um sie zu senken, wenn es die Ordensregel angibt, eure Zunge, um die Stille gut einzuhalten, eure Hände, um zu arbeiten, euren Geist, um ihn gut dem Heiland zu unterbreiten, euer Herz, um ihn zu lieben. Mit einem Wort: Gebt euer ganzes Sein, opfert euch ganz. Wenn ihr dieses Opfer bringt, setzt ihr einen Akt der Liebe, haltet ihr euch ganz nahe bei ihm auf. Das soll die Heilige Messe für euch sein.
Warum sagte ihr ihm nicht während eurer Arbeit, er möge bei euch bleiben, wie es die Gute Mutter [Marie de Sales Chappuis] machte, indem sie zu ihm sagte: „Herr, bleibe bei mir, lass mich nicht alleine, nimm meinen Willen.“ Zu Abendbetrachtung kommt, um euch von den Mühen des Tages auszuruhen, sprecht zu ihm über eure Schmerzen, eure Treulosigkeiten. Erzählt ihm, was ihr schlecht gemacht habt, was euch gelungen ist; sprecht mir ihm über die guten Begegnungen, die er euch geschenkt hat. Das ist ein Gespräch der Liebe, ein Gespräch des Herzens mir ihm, macht es also gut.
In den anderen Umständen des Tages ruft ihn zu Hilfe. Ihr müsst eine schwierige Frage behandeln, ihr habt Kinder, die nicht gehorchen, etwas, das nicht funktioniert: „Herr, du bist da, warum lässt du mich hängen? Komm mir zu Hilfe. Das ist der Sturm, ich werde umkommen, befreie mich von dieser Versuchung, von diesem bösen Gefühl. Wo bist du?“ Dann fasst man einen Gedanken, strebt nach dem Geistlichen Direktorium. Mit dem liebt man unseren Herrn. Wem werdet ihr schließlich am Abend vor dem Einschlafen euer Herz schenken, wenn nicht ihm? Mit welchem Gefühl werdet ihr einschlafen, wenn ihr nicht ein letztes Mal ihm eure Gedanken zuwendet?
Seht, meine Kinder, wie euer ganzer Tag von der Liebe zu unserem Herrn erfüllt sein kann. Lest die Abhandlung über die Gottesliebe (Theotimus), die der heilige Franz von Sales mit der Hilfe der ersten Schwestern der Heimsuchung geschrieben hat. Dieser selige Vater [Franz von Sales] sprach mit der heiligen Johanna Franziska von Chantal und ihren Nonnen und veranlasste sie, von ihrer Liebe zu ihrem Herrn zu sprechen. Dann griff er zur Feder und schrieb die schönsten Seiten, die schönsten Liebesgesänge, die aus menschlicher Hand hervorgingen. Er sagt es selbst. Nicht er spricht, sondern die, die unseren Herrn liebten und ihm sagten, wie sehr sie ihn spürten.
Meine Kinder, ihr könnt anders nicht gegründet werden. Wenn ihr die Kongregation gründen wollt, muss es aus Liebe sein. Seid Töchter, die unserem Herrn ganz ergeben sind. Liebt ihn mit einer tiefen, großen, grenzenlosen Liebe. Gebt Gott kein kaltes, gefühlloses Herz, seid nicht wie Maschinen, die diesem oder jenem Impuls folgen, seid Seelen, die lieben, Herzen, die fühlen.
Möge euch unser Herr in seinem Sakrament der Liebe diesen heiligen Strahl mitteilen, durch den wir den Weg unseres Herzens zu seinem Herzen erkennen. Macht, was dazu nötig ist. Kauft die Liebe zum Preis des Goldes, zum Preis der Liebe. Gebt alles, opfert alles, um die Liebe des Heilands zu bekommen. Und je mehr ihr geben werdet, desto mehr werdet ihr empfangen. Gebt hundert Mal, gebt wieder, gebt immer – und der liebe Gott wird euch schon auf dieser Erde einen Teil, einen Vorgeschmack auf das Glück des Himmels geben, denn den Heiland lieben ist der Himmel. Im Himmel werden wir nichts anderes tun als lieben. Wir werden also unser Paradies auf Erden beginnen, denn der Himmel ist nichts anderes als die reine, ganze, freie, unendliche Liebe!
Beginnen wir also mit unserem Paradies auf Erden. Wir können dann sicher sein, dass wir es später fortsetzen werden. Amen.