Exerzitienvorträge für die Oblatinnen 1887

      

10. Vortrag: Über die Armut

Montag Abend, 5. September 1887

Meine Kinder, setzen wir unsere Exerzitien fort und legen wir unseren ganzen Mut, unsere ganze Kraft hinein, zu der wir imstande sind. Je mehr wir zu erdulden und zu erleiden haben, desto größer wird die Belohnung sein. Wie hat unser Herr die Welt zurückgekauft? Durch sein Leiden und seinen Tod, sagt uns der Katechismus. Nur durch das Leiden und den Tod konnte er die Sünden der Welt zurückkaufen. Ebenfalls durch das Leiden werdet ihr eure so zahlreichen Sünden zurückkaufen, so beträchtlich sie auch sein konnten, und auch die Sünden der Personen, mit denen ihr beauftragt seid. Die Nonnen sind nicht nur für sich selbst eingestellt, sondern auch um für die Sünden der Welt zu sühnen. Sie haben Bußübungen zu machen, die in den Schatz des göttlichen Erbarmens eingehen sollen, um die Verzeihung für die Sünder zu erhalten, um ihre Verbrechen zu tilgen. Erinnert euch gut daran.
Als die Ordensregeln der Oblaten nach Rom geschickt wurden, sagte der Kapuzinerpater, der sie las: „Aber Sie tun keine Buße! Wenn Sie die Buße nicht üben, werden Sie sie den anderen nicht predigen können!“ Diese gute Pater, der sein Leben lang Buße gepredigt und sie täglich geübt hatte, konnte nicht verstehen, dass man Ordensmann sein kann, ohne sich der Buße zu widmen. Aber ein Oblate, der seine Ordensregel erfüllt, der die Gedanken des Geistlichen Direktoriums annimmt, tötet sich ebenso sehr ab wie ein Ordensmann, der das strengste Fasten übt. Der Kapuzinerpater geht barfuß, verletzt sich an den Steinen des Weges. Bei uns geht man barfuß auf dem Pfad des Gehorsams. Er entblößt uns und verletzt uns manchmal. Der Kapuzinerpater isst nicht zu Mittag, und bei uns isst man nie nach seinem eigenen Willen. Dennoch war der Pater, der die Satzungen prüfte, hart und ließ einen kleinen Artikel über die Buße einfügen.
Meine Kinder, es ist ein gutes Mittel, Buße zu tun, in dem ihr euer Gelübde der Armut erfüllt. Was ist die Ordensarmut? Hört gut zu. Sie bedeutet: nichts zu haben, an nichts zu hängen. Ich sage euch anfänglich, dass die, die mit dem Geist des Eigentums nur eine Münze hat, sogar mit Erlaubnis „unseres guten Vaters“ [Louis Brisson] diese schwer wiegt und teuer ist, glaubt mir, obgleich „unser Vater“ ihr erlaubt hat, sie zu behalten.
Ich sehe, wie Gott die, die arm sind, liebevoll, wohwollend und großzügig behandelt. Die, welche nur eine Münze behält, sündigt nicht, da sie ja die Erlaubnis „unseres Vaters“ hat, und „unser Vater“ nicht erlaubt zu sündigen. Wenn aber die, die gerne eine Münze behalten möchte, sie durch den Geist der Armut opfert, kann ich ihr alle möglichen Gnaden versprechen, denn wenn man nichts mehr hat, wenn man nichts mehr behält, gibt Gott alles, er gibt sich selbst und mit ihm gibt er das Beste, das er geben kann. Wenn ich hartnäckig bin, meine Kinder, so ist das deshalb, weil die Gnade der Armut mit dieser gänzlichen, völligen Loslösung verbunden ist. Achtet gut darauf.
Ich kannte eine Ordensschwester, die keine schlechte Nonne, aber auch nicht sehr erbauend war. Die Oberin, die nie schlecht über jemanden sprach, setzte ein kleines Zeichen, in dem sie sagte: „Aber schließlich weiß man nicht, warum sie so ist, wie sie ist.“ Schließlich entdeckte man auf dem Dachboden Koffer, gefüllt mit kleinen Seifenstücken, Bleistiftstummeln, kaputten Scheren und allem Möglichen, das diese Ordensschwester im Internat sammelte und in zwei oder drei Koffern angehäuft hatte, und dort von Zeit zu Zeit diesen Vorrat betrachtete. Was wollte sie damit machen? Jedenfalls nichts, um sich dessen zu ihren Lebzeiten zu bedienen. War es also für die Ewigkeit? Das hat doch keinen Sinn! Die Oberin legte ihr eine sehr strenge Buße auf, sie rügte sie sehr scharf und sagte ihr, dass sie Ärgernis verursacht habe, dass sie viele Gnaden ihres Ordenslebens verloren habe. Da diese Ordensschwester ihren Kummer und ihre Zerknirschung schön zum Ausdruck brachte, antwortete die Oberin: „Meine Schwester, nicht ihre Worte werden etwas bewirken, man muss den lieben Gott bitten, Ihnen zu verzeihen und ihnen die Gnade zu gewähren, die Buße anzunehmen, die er Ihnen auferlegen wird.“ Die Ordensschwester, der es nicht an Großmut fehlte, sagte Ja. Fast sogleich erkrankte sie an Wassersucht. Sie nahm einige Monate lang ihre Krankheit gut an, dann ließ der liebe Gott zu, um sie mehr zu reinigen, dass sie ihre Krankheit nicht mehr ertragen konnte. Sie war in einem äußerst heftigen Zustand und die Mitschwestern sagten der Oberin: „Bitten Sie doch Gott, dass diese arme Schwester nicht mehr in einem so schrecklichen Zustand ist.“ Der Oberin tat es sehr leid, denn sie liebte ihre Mitschwester sehr, aber sie antwortete: „Man muss für sie beten, aber den lieben Gott gewähren lassen, denn es ist besser, in dieser Welt zu bezahlen, als in der anderen.“ Die arme Kranke führt so fast ein Jahr lang das härteste und grausamste Leben, das man sich vorstellen kann. Warum das? Weil es besser ist, in dieser Welt zu leiden, als seine Fehler in der anderen durch ein langes Fegefeuer tilgen zu müssen.
Ihr kennt, meine Kinder, die Geschichte der kleinen Löffel der Guten Mutter [Marie de Sales Chappuis]. Sie liebte das Schöne und hatte mit Wohlgefallen diese kleinen Löffel angeschaut. Drei oder viert Tage lang erhielt sie nichts mehr vom lieben Gott. Sie fragte ihn, warum, und er antwortete ihr, sie solle ihre kleinen Löffel anschauen. Sie trug sie zur Ökonomin und sagte ihr, dass sie sie nicht mehr wiedersehen wolle. Man hat sie versteckt, sorgfältig aufbewahrt als Erinnerung an diese Tatsache, aber die Gute Mutter sah sie nie wieder. Das sind Nichtigkeiten, wird man sagen, aber diese Nichtigkeiten sind alles. Alles ist groß mit dem lieben Gott. Merken wir es uns gut. Was würde aus dem Geist unseres Instituts werden, würde die Ordensregel nicht in den kleinsten Einzelheiten beobachtet und eingehalten werden?
Die Verfehlungen gegen die Armut verstimmen den Herrn. Ich könnte eine ferne Gemeinschaft anführen, die unter dem Druck der Versuchung steht und wie am Abhang der Zerstörung, wo Bitterkeit, Ärger und die schrecklichsten und furchtbarsten Züchtigungen seit vierzig Jahren an der Tagesordnung sind, weil die Armut dort nicht beachtet wird. Da sind alle möglichen Prüfungen, haarsträubende Geschichten, die aufeinander folgen, und es wird immer schlimmer, immer schlimmer. Ich übertreibe nicht, meine Kinder, ich sage es euch, wie es ist. Warum behandelt Gott diese Gemeinschaft so? Weil er sie gern hat, weil er will, dass die Ordensschwestern dort gerettet werden, und sie werden nur gerettet werden, wenn sie durch Wasser und Feuer gehen. Es ist ein schreckliches Martyrium.
Ist es eine Kleinigkeit, die ihr zögert, dem lieben Gott hinzugeben? Gebt sie doch hin! Und ihr werdet sehen, wie freigiebig Gott zu euch sein wird. Was wirkt Wunder? Es ist die Armut. Der Gehorsam wirkt auch welche, aber die Armut erhält deren mehr. Es sind die Wunder der Liebe unseres Herrn. Seht den heiligen Franz von Assisi. Er liebte so sehr seine Dame Armut, wie er sie in seiner so poetischen Sprache gerne nannte, dass ihm der Heiland die Gnade schenkte, die Wundmale zu tragen und so aus ihm die lebendigste, die rührendste Verkörperung seiner Liebe machte. Er gewährte ihm, in seinem Jahrhundert der Mann zu sein, der auf Erden das Feuer der göttlichen Liebe wieder entzündete. Warum? Weil er alles hingegeben, auf alles verzichtet hatte, um dem Heiland zu folgen.
Ihr werdet mir sagen: „Das geschieht nur bei den Heiligen.“ Macht es ein wenig wie die Heiligen, meine Kinder. Es sind keine Wesen, die eine andere Natur haben als wir. Was sie machten, machten sie, weil sie es wollten. Wir werden es ebenso machen – denn das Schwierige ist nicht das Unmögliche – wenn wir wie sie handeln wollen.
Das ist also die Belohnung des ganzen und vollständigen Gelübdes der Armut. Wer Ohren hat zu hören, der höre. Und wenn ihr unseren Herrn ein wenig liebt, wenn ihr ein wenig begierig seid, ihn in eurem Herzen zu besitzen und ihm ganz zu gehören, macht, was notwendig ist, um dieses Ziel zu erreichen.
Wie ist die Armut zu üben? Ganz einfach, in dem wir die Kleidung, die Nahrung, die Unterkunft, alles, was uns gegeben wird, annehmen. Infolge eures Gelübdes muss euch die Kongregation die Armut üben lassen. Sie gibt euch, was ihr braucht, aber ihr dürft nichts für euch haben, ihr müsst alles von der Gemeinschaft empfangen. Ihr dürft euch nicht in die Fragen einmischen, die eure Kleidung und eure Nahrung betreffen, noch in irgendetwas, das ihr verwendet. Unter dieser Bedingung seid ihr arm und so erfüllt ihr euer Gelübde der Armut.
Meine Kinder, liebt die Armut. Als ich das Heimsuchungskloster betrat, war ich gerührt, die Armut in den Zellen, den Arbeitsstätten, den Büros zu sehen. Alles war arm, sehr arm, man fühlte stets den lieben Gott, das Haus von Nazareth. In unseren Häusern darf nichts Reiches sein, die Möbel sollen arm sein, sauber, ohne Zweifel passend, aber alles, was die Ordensschwestern und die Ordensgemeinschaft verwenden, strahle Armut aus. Im Brot, der Nahrung, der Kleidung und der Unterkunft soll man nicht wählerisch sein.
Es soll keine Ordensschwester den kleinsten Gegenstand besitzen, ohne bereit zu sein, ihn beim kleinsten Hinweis der Oberin wegzugeben. Wenn euch die Zöglinge ein reiches, angenehmes Geschenk machen, behaltet es nicht, habt nichts Persönliches und selbst wenn man euch ein kleines Geschenk macht, gebt es wenn möglich einer anderen Mitschwester, und diese Schwester soll es benützen. Oder veranlasst eher, dass die Kinder nur selten schenken oder nur für die Kapelle oder den allgemeinen Gebrauch der Gemeinschaft, aber nicht den Schwestern privat. Das ist eine Gefahr, ein Eigentum zu schaffen. Es ist eine Kleinigkeit, die ein großes Übel, das Übel der Übel verursachen kann. Mit diesem Übel kann man die Vollkommenheit der göttlichen Liebe und die Freuden nicht haben, die Gott für uns nur bereithält, wenn wir wirklich ganz arm sind.
Achtet darauf, es ist äußerst wichtig. Wir sind nicht ganz arm, weil wir auf die Güter der Erde verzichtet haben. Diese verlässt man gerne, man hängt nicht daran. Aber unser Wille opfert nur schmerzlich diese Kleinigkeiten, diese kleinen persönlichen Dinge. Das bindet unser Herz, verdirbt es und hindert es, frei zu Gott zu gehen.
Meine Kinder, es soll jede von euch diese persönliche Armut gern haben. Wenn wir wirklich arm sind, werden wir großen Segen auf uns ziehen. Der liebe Gott gibt uns immer, wenn wir ihm geben, und er gibt uns in dem Maße, wie wir ihm geben. Wollt ihr Segen auf die Gemeinschaft ziehen, sie aus diesem heiklen Zustand befreien, in dem sie sich befindet, da sie nichts hat? Ich gebe euch das Mittel dafür: seid arm, äußerst arm. Lasst es an allem fehlen, und ihr werdet alles bekommen. Vertraut euch den Worten des guten Meisters an: Beati pauperes. Das heißt: Selig die Armen, denn das Himmelreich gehört ihnen. Ist es das Himmelreich der seligen Ewigkeit? Ja, gewiss, aber es ist auch das auf Erden. Der liebe Gott wird den Armen reich machen, weil es ihm gefällt zu geben.
Wollt ihr der Gemeinschaft eine große Ausstattung bringen, sie bereichern? Seid arm! Vielleicht habt ihr ihr nichts gebracht? Umso besser! Umso besser! Wenn ihr arm seid, ist es ein unvergleichlicher Reichtum. Opfert eine Münze, es wird eine sehr große Aussteuer sein. Ich sage es euch, weil es wahr ist. Es ist eine Erfahrung, die ich täglich mache. Seid sparsam, erspart ein Blatt Papier, eine Feder. Vergeudet nichts, verliert nichts. Warum? Weil ihr nicht Zuhause seid, ihr seid beim lieben Gott. Wenn ihr diesen Gegenstand kaufen müsstet und keinen Kreuzer hättet, währet ihr sehr verwirrt. Ihr müsst die Entbehrung, das Bedürfnis, die Einengung der Armut fühlen, dann wird der liebe Gott wunderbar zu euch sein.
Meine Kinder, ich breite mich nicht weiter aus. Mögen die unter euch, die unseren Herrn lieben, nach Betlehem, nach Nazaret kommen und den Heiland auf seinen apostolischen Reisen betrachten. Mögen sie ihn sehen, wie er sich zu Mittag beim Brunnen der Samariterin ausruht, ohne etwas zu essen zu haben. Möge sie mit ihm durch das Feld gehen, wo der Hunger ihn und seine Jünger zwingt, einige Ähren in der Hand zu zerreiben. Das ist der Herr des Hauses. Das ist Gott auf Erden. Habt wohl diese Gedanken im Herzen. Ich sage nicht, dass ihr die Armut nicht übt, im Gegenteil. Abgesehen von einigen Bemerkungen, die ich gelegentlich machte, beachtet ihr sie getreu.
Legt doch euer ganzes Herz hinein, die Armut zu hüten. Liebt es, nichts zu besitzen, liebt es, ein kleines Opfer zu bringen. Seid jedes Mal zufrieden, wenn die Sachen nicht nach eurem Geschmack sind. Liebt das mit einer wahren Liebe. Der heilige Franz von Sales sagte, wenn man ihm etwas vorlegte, das nicht gut war: „Es ist gut für die Abtötung.“ Und ich sage, es ist gut für die Liebe. Vereint es mit der Galle, die man unserem Herrn am Kreuz gab, mit den Ähren, die er unterwegs zerrieb, mit seinem Fasten in der Wüste. Identifiziert euch mit ihm, sonst wäret ihr nicht von ihm, hättet ihr nicht die vorgesehenen Bedingungen, um aus seinem Haus zu sein, um in seiner Vertrautheit zu leben. Würdet ihr sein Leben nicht teilen, wäret ihr Fremde für ihn. Seht wohl die Armut unter diesem Gesichtspunkt. Möge euch immer etwas fehlen, keine Entbehrung Gewicht für euch haben, keine einzige den kleinsten Gegenstand behalten. Die Gute Mutter Marie de Sales Chappuis hat nie etwas behalten.
Wenn die Erziehung gut christlich ist, verstehen es die Mütter, ihre Kinder an die Abtötung zu gewöhnen, indem sie ihnen nehmen, was ihnen gefallen könnte, um sie tugendhaft zu machen. Macht das aus Liebe, um wie der Heiland zu handeln, überhaupt nichts zu haben, was euch von ihm, von seiner Handlungsweise trennt.
Erbitten wir die Gnade dazu von unserem Herrn, der euch gleich segnen wird, meine Kinder. Ave verum corpus natum. Du bist es, Heiland Jesus, ja du bist es. Ich grüße dich, kleines Kind in der Krippe, ich grüße dich in Nazaret. Ave verum. Ich sehe dich bei deiner göttlichen Mutter, wie du das Brot der Arbeit isst, das trockene und harte Brot, zu dem vielleicht oft nichts dazu kam in diesem kleinen Haus, in dem man nur die Armut fühlte. Ich grüße dich! Ja, du hattest wohl nichts, nicht einmal den allerkleinsten Gegenstand, der dir gefallen konnte. Und du sagtest später: Die Füchse haben ihre Höhlen, die Vögel ihre Nester, und der Menschensohn hat nichts, wo er sein Haupt hinlegen könnte (Mt 8,20).
Mwinw Kinder, das ist euer Vorbild. Der Heiland ist am Kreuz noch ärmer, in seinem Grab, denn er stirbt in einer schrecklichen Entblößung. Er wird aus Nächstenliebe in einem geliehenen Grab beigesetzt. Er hat nichts, nicht einmal ein Grabtuch, das gibt ihm Josef von Arimathäa. Arm wird er geboren, arm lebt er und arm stirbt er. Daher sagte der heilige Franz von Assisi, als er den Heiland in seiner Armut betrachtete: „Herr, ich bitte dich weder um die Wunder, noch um das Predigen, nicht einmal um die Leiden in deinem Todeskampf, deiner Passion, ich bitte dich in jedem Augenblick wie du arm und entblößt zu sein und überhaupt nichts zu haben. Dann werde ich dich finden, dein Blick wird auf mir ruhen. Wenn ich nichts habe, wird nichts mein Herz von deinem trennen. Wir werden nicht mehr zwei sein, sondern ein einziger in der Liebe der heiligen Armut, der ich mich an diesem Tag verbinde, damit sie mich führt, mich leitet und mich zu deiner Liebe leitet, zu deinem Himmel, wo du jenen Glanz und Ehre verleihst, die für dich auf Erden arm und entblößt waren, und die du zu Fürsten und Königen deiner glückseligen Ewigkeit machen wirst.“ Amen.