9. Vortrag: Über die Armut
Sonntag Vormittag, 5. September 1886
Setzt mutig eure Exerzitien fort, meine Kinder. Die Tage folgen aufeinander und die Mühen wachsen. Es ist sicher, dass der Wille des lieben Gottes für etwas einsteht. Oft fühlt man sich während der Exerzitien nicht wohl, man leidet, man muss dies annehmen wie aus der ganz väterlichen Hand des lieben Gottes, der uns durch dieses Mittel verdienstvoll machen will, und dann werden die Exerzitien tiefe Wurzeln in uns versenken, weil unser Herz durch die Mühe und den Schmerz bearbeitet wurde.
Meine Kinder, wir müssen auf das Geistliche Direktorium zurückgehen, sehr vertrauensvoll zu unserer Oberin sein und die Nächstenliebe üben; das heißt zu unseren Oberinnen und unseren Mitschwestern. Ich sehe mit Freuden, dass sich mehrere von euch durch das Gelübde der Nächstenliebe an den lieben Gott binden wollen. Sie haben sehr Recht. Es ist eine wunderbare Sache, sich durch ein Gelübde zu verpflichten. Das gibt den Taten einen größeren Verdienst und dann wird einem mehr geholfen. Der liebe Gott gibt eine stärkere Gnade, um auszuführen, was man versprochen hat. Das zieht eine Bremse an, die verhindert, dass unser Wille nach rechts oder links geht.
Ich empfehle euch auch, eure Beschäftigungen gut auszuführen. Der heilige Franz von Sales wollte, dass man seine Beschäftigungen außergewöhnlich gut ausführt, man seine ganze Fähigkeit, alle seine Kräfte, sein ganzes Herz hineinlege. Man darf die Dinge nicht irgendwie machen, um sich ihrer zu entledigen, sondern sie machen, als ob es direkt für den liebe Gott wäre. Seht den heiligen Franz von Sales. Wie er in seiner Diözese alles wunderbar geordnet und gelenkt hat wie auch in seinem Haus. Man hat seine Möbel erhalten, sein Haus ist noch so, wie er es verlassen hat. Wenn ihr sehen würdet, wie gut alles geordnet ist! Welche Methode in seinen Werken! Welche Sorge, sich dem Leser angenehm zu machen! Er will ihn nicht nur belehren, sondern ihm angenehm sein, er verteilt an ihn den Wohlklang seines Stils mit der Anmut seiner Erinnerungen. Er sagte selbst, dass man alles für den Nächsten machen müsse, um sich nicht um die ewige Seligkeit zu bringen.
Meine Kinder, macht also eure Arbeit mit ganzem Herzen. Es werde alles in seiner Zeit getan, nicht mit erhobener Hand, sondern wie es sich zu machen geziemt. Verbringt mit den Kindern, mit denen ihr euch beschäftigt, die Zeit nicht mehr oder weniger angenehm. Gebt ihnen, worum sie kommen, und das mit eurem ganzen Herzen, eurem ganzen Verstand, und handelt so bei allem, was ihr zu machen habt.
Während dieser Exerzitien bleibt uns noch, über die Gelübde zu sprechen.
Meine Kinder, bittet den lieben Gott um den Geist der Armut. Die Gute Mutter Marie de Sales Chappuis hatte ihn in einem so hohen Grad! Ich sage nicht, dass ihr die Armut nicht in ihren großen Zügen übt. Doch, ihr macht es wohl. Aber ich glaube – und ich sage es euch ganz leise – dass ihr die Armut nicht genug liebt. Euer Herz ist ihr nicht genug verbunden. Und dennoch lieben und verstehen sie alle guten Nonnen. Der heilige Franz von Sales sagte so schönes über die Armut! Ihr werdet mir sagen: „Aber, mein Vater, es ist nicht schwer, Schönes zu sagen …“ Ah, man sagt so Schönes nur, wenn man sehr liebt!
Lieben die Geizigen die Armut? Nein, denn sie sind geizig, und der Geiz ist das der Armut entgegengesetzte Laster. Diejenigen, die die Armut lieben, sind die, die unseren Herrn lieben, die unseren armen Herrn verstanden haben, und die für ihn arm sein wollen, die sich Entbehrungen auferlegen wollen, um es wie er zu machen. Meine Kinder, nach den Aussagen der heiligen Väter ist die Nonne die Gemahlin unseres Herrn. Die Gemahlin fürchtet und liebt den, mit dem sie vereint ist, sie geht auf seine Gedanken, seine Wünsche, seine Neigungen, seine Art zu sein und zu sehen ein. Im Allgemeinen lieben wir unseren Herrn nicht genug. Warum werdet ihr Nonnen, wenn euer Herz dabei trocken bleibt? „Aber ich fühle keine Liebe zu Gott!“ Macht doch ein wenig, was nötig ist, um ihn zu lieben.
O, ich sah in der Heimsuchung von Troyes gute Nonnen, die die Armut sehr liebten und sie für unseren Herrn liebten, mehrere sogar leidenschaftlich. Das Kloster ist ein Beispiel an Armut. Man findet dort nichts, was ein Luxus sein könnte. In der Wäscheabteilung gibt es nur alte Kästen, die frühere Schwestern von ihren Verwandten gebracht haben. Man muss diese Dinge lieben, es ist so schön! Meine Schwester Paul-Séraphine liebte die Armut leidenschaftlich. Das Geringste, das es gab, war immer für sie. Ich nannte sie die Lumpenflickerin. Sie verbrachte ihre Zeit damit, das Abgenützteste zu flicken, um es wieder verwenden zu können. Die Armut ist so wunderbar und riecht so gut.
Also, meine Kinder, in unseren Häusern will ich keine Luxusgegenstände haben. Ich will, dass alles nach strengster Armut riecht. Ich bin euer Vater, es ist mir wohl gestattet euch zu sagen: Nehmt euch an mir ein Beispiel. Zwar habe ich das Notwendigste, aber schließlich gibt es in dem Haus, das ich bewohne, keinen einzigen Luxusgegenstand, und ich liebe diese große Einfachheit sehr. Liebe ich sie aus Geschmack? Nein. Bringe ich ein sehr großes Opfer? Ich bringe überhaupt kein Opfer, ich habe daran keinen Verdienst, aber schließlich mache ich es immer. Man muss diesen Geist haben, meine Kinder. Meidet alles, was nicht die strengste Armut ist, habt diese Neigung, diesen Geschmack aus Liebe zu unserem Herrn. Wenn ihr an etwas hängt, sagt es eurer Oberin, und sie wird gut daran tun, es euch zu nehmen.
Der Besitz der Kleidung ist nicht gegen die Armut. Im Gegenteil, die Kleidung, auf die gut geachtet wird, hält länger, aber man muss es mögen, wenn es vorkommt, dass das, was man uns gibt, nicht sehr gut und nicht sehr schön ist. Die Gute Mutter Marie de Sales Chappuis wusste immer ein Mittel zu finden, sich das Geringste geben zu lassen. Aus Achtung wollten es ihre Mitschwestern nicht machen. Und man musste sie überlisten, um ihr etwas Angemessenes zu geben. Es war ihr Glück, ihre Wonne, alte und abgenützte Kleidung zu haben. Warum? Weil sie unseren Herrn liebte. Sehr zwei Personen, die einander lieben, zwei Schwestern, sie werden sich gerne gleich anziehen. Wenn ihr unseren Herrn liebt, lebt gern wie er und seid gern wie er ärmlich gekleidet. Wenn ihr dies oder das liebt, löst euch davon, haltet an keinem kleinen Gegenstand fest. Ihr kennt die Geschichte der kleinen Löffel der Guten Mutter Marie de Sales Chappuis. Seht, welche Loslösung der liebe Gott von ihr forderte! Schon als Kind ließ sie eine Puppe, ein nichts, in den Kasten legen. Sie hatte schon in diesem Augenblick die Notwendigkeit des Verzichts verstanden. Es sind da keine kleinen Dinge, meine Kinder, sie sind groß und zeugen von einem großen Herzen für unseren Herrn. Ich wiederhole es, wenn ihr eine Bindung an einen Gegenstand habt, müsst ihr es sagen, und ich werde die Oberin sehr bitten, ihn euch abzunehmen.
Seid auch in eurer Nahrung arm. Ich weiß wohl, dass einige Mägen nicht alles bekommen können. Es gibt schwache, zarte. Aber glaubt mir, man kann viel in dieser Hinsicht, man kann äußerlich viel. Ihr braucht euch nur zu überwinden und die Armen zu werden. Da ist ein Armer, der kommt, um an der Tür um Almosen zu bitten. Wenn man ihm Suppe gibt, kann er weder Butter hineintun noch sie aufkochen lassen. Er isst sie so, wie man sie ihm gibt.
Nonnen sollen die Herzhaftigkeit der Männer haben. Sie müssen sich beherrschen und wie Männer entschlossen sein. Ich weiß wohl, dass man manchmal Widerwillen hat, dass es Unmöglichkeiten gibt. Man muss sich nach und nach daran gewöhnen, sie zu überwinden. Ein Kind, das nichts mag, wird von seiner Mutter daran gewöhnt, bald das eine, bald etwas anderes zu essen. Wenn die Mutter auf ihr Kind hörte, würd es nur Bonbons und Kuchen essen.
Etwas zu essen, das uns nicht passt, ist eine große Übung der Demut. Die Tiere fressen, was sie wollen, sie wählen ihre Nahrung. Und wir können es nicht, wir stehen also unter den Tieren. Das ist ein Gedanke, der uns demütigt. Man muss ihn aus Liebe zu unserem Herrn annehmen, von dem der Psalmist sagte, er sei ein Erdenwurm. Meine Kinder, was ich euch da sage, ist die Wahrheit. Ich komme nicht her, um euch Reden zu halten, sondern ich will euch in meine Gedanken hineinnehmen, indem ich diese ständig wiederhole.
Liebt also die Armut, wie man sie in der Heimsuchung von Troyes zur Zeit der Guten Mutter liebte. Meine Schwester Marie-Louise hatte unsere Gute Mutter Marie de Sales Chappuis um die Erlaubnis gebeten, ihr Gelübde der Armut erneuern zu lassen. Deshalb bat die Schwester die Essensausteilerin, für sie nur das zu nehmen, was man in den Abfalleimer geworfen hatte. Überrascht ging die Austeilerin zur Guten Mutter, die ihr sagte: „Mischen Sie einfach einige Dinge dazu und machen Sie daraus eine gute Suppe, die dem ähnlich ist, was sie wünscht.“ Meine Schwester Marie-Louise aß sie, versicherte, dass sie nie etwas so Gutes gegessen hätte, und glaubte, das Abstoßendste gegessen zu haben. Vor dem lieben Gott hatte sie den ganzen Verdienst.
Die gute Schwester Assistentin, die 94 Jahre alt war, kam eines Tages zu mir. Sie hatte um die Erlaubnis gebeten, mir eine Frage zu stellen: „Ich fürchte, geschwätzig zu sein,“ sagte sie zu mir, „aber das quält mich und ich hätte es gern, dass sie mich beruhigen. Ich fürchte, dass die Gemeinschaft zu reich wird. Wenn wir Geld haben, werden wir nicht mehr die Gnaden der Armut haben.“ Ich sagte ihr, wie das sei, und sie beruhigte sich.
Meine Kinder, verstehen wir diesen Geist der Armut, klammern wir uns daran, lieben wir, was arm ist, arbeiten wir wie die Armen und nicht wie die großen Damen, um unsere Zeit zu verwenden. Man muss arbeiten, um zu verdienen, womit man die Dinge kaufen kann, die uns dienen, unsere Nahrung, unsere Kleidung; im Geist der Armut zu arbeiten, um unser Brot, unser Kleid, unsere Schuhe zu verdienen, weil wir sonst nicht arm wären. Die heilige Jungfrau Maria arbeitete für die Bedürfnisse des Jesuskindes, für den Unterhalt des kleinen Haushaltes von Nazaret.
Versteht jedoch gut meine Gedanken. Ihr macht etwas für die Kirche, die Kapelle. Das ist keine verlorene Zeit, da es zur Ehre unseres Herrn ist. Ihr unterrichtet, ihr seid müde, ihr könnt euch nicht ans Nähen machen, ihr habt nun eine kleine Arbeit für die Kapelle, das ist keine Einbildung, aber sonst liebe ich nicht die angenehmen Arbeiten. Stopft eure Strümpfe, wenn ihr es könnt, ohne zu sehr zu ermüden, sonst ist es besser, euch ganz auszuruhen, als eine Arbeit rein aus Einbildung zu machen.
Man wird vielleicht sagen: „Unser Vater hat es gern, dass wir zu viel arbeiten.“ Meine Kinder, ich habe es gern, euch unserem Herrn Schritt für Schritt folgen zu lassen, ihn zu lieben, ihn nachzuahmen. Ich wünsche mir, dass ihr wie er werdet, dass ihr ihn in den Einzelheiten seines göttlichen Lebens, seines Lebens auf Erden gleicht. Wenn ihr arbeitet, denkt zu arbeiten wie Arme, nicht wie eine Internatsinsassin, eine Händlerin, eine kleine Dame in ihrem Wohnzimmer, sondern wie eine arme Arbeiterin, die ihrer Hände Arbeit braucht, um ihr tägliches Brot zu verdienen. In diesem Geist sollt ihr arbeiten.
Seid also eurem Armutsgelübde sehr treu, beobachtet es ganz. Als die Gute Mutter Marie de Sales Chappuis von Fribourg nach Troyes kam, waren die Schwestern schon gespannt darauf, die Ausstattung zu sehen, die man ihr gegeben hatte, und woraus sie bestand. Sie kommt an, die Schwestern schauen, suchen und sehen keinen Koffer. Die Gute Mutter hatte ihre Kleidung an und nichts anderes. Die Nonnen staunten darüber. „Habt ihr denn keine Wäschekammer, keine Kleiderabteilung, jemand, der das Schuhwerk macht?“ sagte ihnen die Gute Mutter. „Wohlan, das genügt.“ So machen es die Heiligen.
Meine Kinder, wenn wir aus diesen Exerzitien hinausgehen, müssen wir ein wenig mehr den Geist der Armut haben als zu Beginn. Die Armut unseres Herrn ist so schön! Wenn ihr in dem kleinen Haus von Nazaret niedergekniet wäret und unseren Herrn betrachtet hättet, der sich mit einer armen Behausung und Nahrung zufrieden gab, wenn ihr ihn so betrachtet hättet, wenn sich euer Herz vor ihm ausgebreitet hätte, glaube ich, dass ihr die Armut verstehen würdet, sie liebtet und sagtet: „O Herr, es gibt für mein Herz nichts Schöneres und Süßeres als zu handeln wie du gehandelt hast!“ Amen.