Exerzitienvorträge für die Oblatinnen 1886

      

10. Vortrag: Über den Gehorsam

Sonntag Abend, 5. September 1886

Meine Kinder, setzen wir nun unsere Exerzitien fort. Die letzten Tage vor allem ist man versucht, ein wenig locker zu lassen, weil man müde ist. Achten wir wohl darauf.
Das Große im Ordensleben, meine Kinder, ist der Gehorsam. Es ist viel leichter, seinen ganzen Besitz aufzugeben, als seinen Willen. Es ist leichter, sein Vermögen den Armen zu geben, als seine Urteilskraft auch nur eine Stunde der Gnade des anderen zu überlassen. Der Gehorsam ist die Unterwerfung seiner Urteilskraft ohne Wenn und Aber. Er besteht darin, anzunehmen, was man uns befiehlt, welche Begründung man auch vorbringt. Die Übung der Unterwerfung der Urteilskraft ist leicht zu verstehen. Man hat mir gesagt, das zu machen: Ja, ich werde es machen. Ich kann nicht irren, wenn ich es mache, da ich den Gehorsam erfülle. Ihr unterwerft euer Urteil jedes Mal, anstatt zu machen, was ihr wollt, macht ihr, was euch befohlen wird. Mehrere behandelten diese Frage der Unterwerfung des eigenen Urteils unklar. Im Allgemeinen stellt man sich vor, dass man an etwas glauben muss, an das zu glauben nicht möglich ist. Das ist es nicht. Man hat uns zum Beispiel gesagt, wenn man das macht, wird das Ergebnis zufriedenstellend sein und wir wissen sicher, dass das nicht möglich ist. Wir können unserer Überzeugung nicht ändern. In diesem Fall muss man einen Glaubensakt machen und sagen: „Ich glaube, dass es durch die Gnade des Gehorsams gelingen kann.“ Im Leben der Heiligen finden wir eine Anzahl von durch den Gehorsam gewirkten Wundern. Der heilige Benedikt sagte zum heiligen Maurus: „Der kleine Placidus ist soeben in den Teich gefallen, gehen sie schnell, um ihn zu retten.“ Der heilige Maurus geht über das Wasser und bringt seinen jungen Mitbruder zurück.
Meine Kinder, in solchem Fall müsst ihr euer Urteil unterwerfen und gehorchen. Wenn man euch sagte, eine Schwester zu holen, die ertrinkt, müsst ihr hingehen. Doch wenn man euch sagte, dass etwas weiß ist, wenn es schwarz ist, müsstet ihr euer Urteil nicht unterwerfen, da ihr einen sicheren, offensichtlichen Beweis des Gegenteils hättet. Ohne Zweifel verhindert die Unterwerfung des Urteils nicht, dass ihr glaubt, dass etwas anderes besser ist, aber ihr müsst euch sagen: „Ich will nicht schauen, ob es besser ist, ich will mich unterwerfen und einen Akt gegen meinen Willen, gegen mein Urteil machen.“ Selbst wenn es unmöglich erscheint, man muss es machen. Ist man durch das Gelübde dazu verpflichtet? Nein, aber der heilige Maurus glaubte an die Gnade des Gehorsams und machte es.
Der Gehorsam war Stoff einer großen Diskussion zwischen den Kirchenväter und den Theologen. Versteht also gut, meine Kinder: der Gehorsam besteht nicht darin, eure Urteilskraft zu zerstören, sondern sie beiseite zu schieben. So sagt euch eure Urteilskraft, dass ihr etwas nicht machen könnt. Ihr bringt sie zum Schweigen, unterbrecht sie, um keine Gründe anzuführen und gern zu machen, was man euch befohlen hat. Ihr macht den Gehorsam. Wenn ihr aber eure Sichtweise aufrecht haltet, alles nur halb macht, macht ihr nicht den Gehorsam. Es wurden sehr viele Bücher über den Gehorsam geschrieben. Es gibt Geheimnisvolles, das man nicht versteht, man kann daraus unendliche Diskussionsthemen machen, man sieht da nichts. Der heilige Franz von Sales ist bei diesem Thema kurz und bündig. Jedes Mal, wenn euer Urteil gegen den Gehorsam ist, gehorcht ihr dennoch, unterwerft ihr euer Urteil.
Es ist unbedingt notwendig, dass eine Oblatin dem Direktorium, der Ordensregel und deren Beobachtung gehorcht. Sonst ist sie nichts. Wem muss sie noch gehorchen? Der Generaloberin, der Regionaloberin, der Amtsschwester ihrer Beschäftigung. Der verdienstvollste Gehorsam ist der, der am meisten kostet. Die Belohnung des Gehorsams steht im umgekehrten Verhältnis zum Grad der Autorität der Person, die befiehlt. Ihr bekommt eine dreifache Krone, wenn ihr eurer Amtsschwester gehorcht, eine doppelte für die Regionaloberin und eine einfache für die Generaloberin, denn der Gehorsam, den man der Generaloberin erweist, scheint natürlich zu sein; der, den man der Regionaloberin erweist, kostet mehr, und der, den man der Amtsschwester entgegenbringt, noch mehr. Der Verdienst wird an der Größe unseres Opfers gemessen. Der des Gehorsams einer Oblatin steht immer in Beziehung zur Anstrengung, die sie machen muss, um sich zu unterwerfen. Es ist eine Partei zu ergreifen, meine Kinder, ihr müsst euch sagen: „Ich werde dennoch und in allem gehorchen, ich werde ein großes JA sagen und mich daran halten.“ Wir müssen uns wohl dazu entschließen, es dem lieben Gott während dieser Exerzitien zu versprechen. Es ist so schön! Hat man es sich einmal zur Gewohnheit gemacht, kostet es kaum noch etwas. Unser Herr hat sein Leben lang gehorcht. Dreißig Jahre lang. Das Evangelium sagt vom ihm nur diese Worte: Er war ihnen untertan (vgl. Lk 2,51). Wem? Der heiligen Jungfrau, dem heiligen Josef, der ein armer Arbeiter war. Untertan heißt, dass er keinen Eigenwillen hatte, dass er in allem gehorchte, dass er von der heiligen Jungfrau und vom heiligen Josef ganz abhängig war. Ihr gehorcht gerne denen, die über euch stehen, aber seht unseren Herrn, er gehorchte gern denen, die viel kleiner waren als er.
Der Gehorsam im Ordensleben ist so schön, das ist so wahr! Gehorcht eurer Amtsschwester, als würde unser Heiliger Vater, der Papst, befehlen. Der liebe Gott bindet große Gnaden an den Gehorsam. Er gibt ihm eine Macht über die Seelen. Er misst seine Gnaden an der Größe des Gehorsams. Sonst kann man den Seelen nichts Gutes tun. Ein Vortragender erzählte uns bei den Exerzitien folgendes Beispiel. Der heilige Kolumban hatte einen Anhänger, der ein großer Heiliger war, der aber in seiner Jugend einen üblen Kopf hatte. Er wollte ohne die Erlaubnis seiner Oberen predigen. Er dachte, Wunder zu wirken. Der liebe Gott hatte sogar zugelassen, dass er ein Wunder wirkte. Die Bewohner des Dorfes, in dem er predigte, hatten ihm gesagt: „Da sie von Gott zu uns gesandt wurden, müssen Sie für uns Wunderbares vollbringen.“ Nun war da ein großer Bottich voller Bier, das dazu bestimmt war, den falschen Göttern geopfert zu werden, und aus dem die Leute dann schöpften. Der Anhänger des heiligen Kolumban blies den Bottich um, der zerplatzte, und das Bier floss in alle Richtungen. Die Bewohner waren wenig berührt von diesem Wunder und begnügten sich damit zu sagen: „Er hat einen etwas starken Atem“ und sie bekehrten sich nicht. Warum? Weil er nicht aus Gehorsam gehandelt hatte.
Der liebe Gott behält seine Segnungen dem vor, was aus Gehorsam gemacht wird. So, meine Kinder, unterrichtet ihr zum Beispiel, ihr seid nicht sehr geschickt, aber ihr seid völlig gehorsam. Wahrhaftig, wahrhaftig, sage ich euch, ihr werdet sehr gute Schülerinnen heranbilden. Eine Lehrerin, die aus sich selbst handelt, wird viel weniger Erfolg haben als ihr. Eure Schülerinnen werden euch verstehen, weil ihr gehorsam seid. Seid bei allen euren Beschäftigungen völlig gehorsam und ihr werdet Erfolg haben. Und wenn ihr manchmal keinen Erfolg habt, wird es eine Demütigung sein, die eurer Seele nützlich sein wird. Zerpflückt nicht den Gehorsam, führt ihn sogleich aus. Das ist ein Wollknäuel, man sagt euch, ihr sollt ihn verwenden, tut es und zieht nicht einen Faden da und einen Faden dort heraus.
Fasst den festen und großmütigen Entschluss, gehorsam zu sein. Wenn man keine Nonne ist, ist es nicht alltäglich zu gehorchen, außer wenn es in der von Gott aufgestellten Ordnung ist, wie das Kind, das seinen Eltern, und der Schüler, der seinem Lehrer gehorcht. Oder auch, wenn man von anderen abhängig ist, wie eine Arbeiterin ihrer Meisterin gegenüber. Aber sonst verstehe ich nicht, dass man gehorcht, wenn nicht im Hinblick auf Gott. Entschließt euch also zu gehorchen, sagt euch: „Ich werde gehorchen, um Gott zu gefallen.“ Dann werdet ihr euch auf einen sanften und heiligen Weg begeben, auf einen Weg des Vertrauens und des Glücks denn die kleinen täglichen Leiden werden durch den Frieden belohnt, und alle Opfer werden gemildert, wenn man gut den Gehorsam erfüllt.
Seid wie das kleine Kind in den Armen seiner Mutter. Es ist in allem abhängig, es isst, was man ihm gibt. Die Abhängigkeit, in der es sich befindet, macht seinen Frieden, seine Ruhe aus. Nichts ist mächtiger als der Gehorsam, er beherrscht alles, er vermag alles durch das Herz Gottes. Sogleich wird unser Herr auf den Altar kommen, um euch zu segnen. Er wird einem Menschen gehorchen. Ihr werdet in eurem Herzen den Gott des Gehorsams empfangen. Bittet ihn, er möge euch gehorsam machen, er möge euch einige der Tugenden seines Herzens einprägen. Und wenn ihr ihn am Morgen in euch empfangen habt, werdet ihr den Mut haben können, das zu machen, was er will, er der sich aus Liebe zu euch aufgab.
Meine Kinder, diese Gedanken machen das Ordensleben aus, davon nährt und erhält es sich. Genau zu dieser Sichtweise muss eine Nonne kommen. Seht also alles mit den Augen des Glaubens. Es ist so schön und so gut! Wendet euren Blick auf diese Sichtweise. So soll eine Nonne leben, dann wird der liebe Gott seine Engel schicken, um ihr zu helfen, um ihr den Weg zu bahnen, um mit ihr die Mühe, die Widerwertigkeiten, die Anstrengungen zu ertragen.
Sagt unserem Herrn, der euch segnen will, dass ihr seinen Willen in den Befehlen sehen werdet, die man euch geben wird, dass ihr stark und großmütig sein werdet, und dass jetzt und später euer Herz untertänig sein wird.
„Herr, mein Herz ist bereit zu gehorchen, es will dir gehören durch das Mittel von allem, was mir der Gehorsam befehlen wird.“ Amen.