Exerzitienvorträge für die Oblatinnen 1886

      

5. Vortrag: Über das kindliche und natürliche Vertrauen zu den Oberinnen - Fortsetzung

Freitag Vormittag, 3. September 1886

Meine Kinder, ich hatte ein schönes Erlebnis whrend der Exerzitien unserer Patres. Sie beobachteten die Ordensregeln genau und hielten eine völlige Stille. Gebt mir den gleichen Trost. Macht diese Exerzitien mit allem nur möglichen Eifer. Das Ordensleben ist etwas Ernstes, es ist nichts Ungefähres. Ihr wisst es, unser Geist ist kein Geist der Härte, es ist ein Geist großer Treue. Seid sehr großmütig, ich verlange es von euch, damit der liebe Gott mit uns ist. Wie ich euch schon sagte, hat eine jede in der Gemeinschaft eine große Verantwortung. Eine Nonne, die nicht gut ist und die Ordensregeln nicht beobachtet, tut nicht nur sich selbst Böses, sondern erzeugt es auch in der Gemeinschaft. Sie ist eine Ursache für die Verringerung der Gnade Gottes. Ihr werdet mir sagen: „Aber, mein Vater, das ist nicht gerecht … es ist nicht mein Fehler, wenn eine Mitschwester dieses oder jenes Versäumnis begeht.“ Es gibt Dinge, die man nicht erklären kann und dennoch wahr sind. Könnt ihr erklären, warum der Herr euch erwählt und so vielen anderen vorgezogen hat? Und dennoch hat er es gemacht. Nun, eine Nonne kann nicht für sich allein handeln. Wenn sie Gnaden verliert, verliert sie deren für die Gemeinschaft. Das ist so wahr, dass die Gemeinschaften, die zugrunde gehen nicht durch den Fehler aller ihrer Mitglieder zugrunde gehen, sondern durch das Versagen einiger. Deshalb muss man an der Ordensregel festhalten, und wenn da eine Mitschwester fehlt, machen, was der heilige Franz von Sales rät: ihr ein kleines, herzliches Wort sagen, aber sie möge euch nicht dazu verleiten mit ihr zu plaudern. Das Sich-Gehen-Lassen, die Ungeniertheit ist das große Übel unserer Zeit. Man denkt nur an sich. Es geht immer nur um uns, das ist alles. Der liebe Gott ist nichts, wir sind alles. Meine Kinder, dieser Geist neigt dazu, sich in den Gemeinschaften zu verbreiten. Dieser Egoismus wird zum allgemeinen, absoluten Gesetz. Der liebe Gott ist nicht mehr der Mittelpunkt der Herzen und zur Stunde will jeder nur für sich leben. Ich empfehle euch also inständigst, die Stille und die Sammlung einzuhalten, um nicht die Exerzitien zu verlassen, wie ihr sie begonnen habt. Mögen die, die gut waren, besser daraus hervorgehen, und die, die überhaupt nicht gut waren, ab jetzt ganz gut werden.
Jetzt komme ich wieder auf das zurück, was ich euch gestern sagte, damit ihr alle den Geist eurer Berufung versteht und den Sinn dessen, was ich in den gestrigen Vorträgen gesagt habe.
Wie ich euch schon sagte, liest man bei den Kartäusern an den Mauern der Kreuzgänge einen lateinischen Vers mit folgendem Sinn: Durch die Einsamkeit, die Stille und die Visitation hat sich der Orden seinen ursprünglichen Eifer bewahrt ohne je eine Reform zu gebrauchen. Unter Einsamkeit versteht man das alleinige Leben mit Gott. Die Stille besteht darin, kein einziges Wort zu sagen und die Visitation ist nichts anderes als das kindliche und übernatürliche Vertrauen. Bei der Visitation fragt der Obere nach der Ordensregel, deren Beobachtung und der Kartäuser antwortet genau auf alle diese Fragen.
Bei den Oblatinnen sind auch drei Dinge besonders zu beachten: das Geistliche Direktorium, die Nächstenliebe und das kindliche und übernatürliche Vertrauen zur Oberin. Im Leben gibt es besondere Pflichten unter jeder Bedingung, in jeder Situation. Im Ordensleben gibt es das auch. Nun ist es angebracht zu sagen, wie man diese Pflichten erfüllt. Daher ist es etwas Wunderbares, Rechenschaft abzulegen über das Direktorium, über seine äußerlichenb Beschäftigungen, über die Übung der Satzungen. Das kann auch etwas abverlangen, ist aber eurer Seele nicht weniger nützlich, im Gegenteil, man muss es verstehen, denn es ist eines der wesentlichsten Mittel, um den Institutseifer zu bewahren.
Man muss also von seiner Beschäftigung, der Übung der Ordensregeln in allem Äußerlichen und dem Direktorium sprechen, das unter die direkte Handlung der Autorität der Kongregation fällt.
Ihr habt kein besonderes Werk zu vollbringen. Ihr seid bestimmt für die Werke der Nächstenliebe. Aber es gibt Schwestern der Nächstenliebe, die das vor euch schon gemacht haben, und es besser machen als ihr. Ihr unterrichtet, es fehlt nicht an Schwestern, die unterrichten, es gibt deren überall. Ihr arbeitet, es gibt viele Schwestern, die arbeiten, die Werkstätten leiten. Es gibt welche, die sich mit schöneren und glänzenderen Internaten beschäftigen, als ihr je haben werdet. Wozu seid ihr also gekommen? Jedes Mal, wenn eine Ordensgemeinschaft in der Kirche erscheint, gibt es ein neues Ziel. Wenn ihr nicht einen besonderen Grund eures Bestehens hättet, hätte mich der Heilige Vater, als ich bei ihm war, nicht mit dem Wohlwollen aufgenommen, das er mir bezeugte. Der Grund eures Bestehens, meine Kinder, ist Oblatin zu sein. Was ist eine Oblatin? Eine Oblatin ist eine Nonne, die ihr Direktorium erfüllt, die Nächstenliebe übt, sich sehr um ihre Beschäftigungen kümmert und ihre Gelübde einhält, wie es der heilige Franz von Sales verlangt. Das wurde nicht von allen verstanden, daher haben mich viele getadelt, dass ich euch gegründet habe. „Warum machen Sie solche Nonnen, Oblatinnen?“, sagte man mir. „Gibt es nicht schon genug andere Kongregationen, die alle ihre Werke tun? Man hat doch schon versucht, sich mit den Fabriksarbeiterinnen zu beschäftigen. Sie werden damit nicht zurande kommen. Das ist ähnlich wie beim Feuer. Bei einem Brand kann man nicht alles retten, und wenn man sich dem Feuer nähert, muss man fürchten, sich zu verbrennen.“ Diejenigen, die mir das sagten, taten es klug und gescheit vom menschlichen Standpunkt aus.
Der Heilige Vater hat anders geurteilt. Er sieht mich, er segnet mich. Aber schließlich kommt man nicht nach Rom, nur um den Segen des Papstes zu empfangen. Und dann regt er mich an, entreißt mir ein Wort ums andere, und als ich ihm alles gesagt habe, antwortet er mir: „Sie sind der Gesandte Gottes, der Papst ist mit Ihnen, ich segne, was sie mir über Ihre Pläne sagten. Was Sie machen, ist der Wille Gottes … und alle, die mit Ihnen arbeiten werden, werden persönlich tun, was Gott von ihnen will.“ Warum sagt mir der Papst das alles? Weil er in dem, was ich ihm dargelegt habe, eine neue Art sieht, Gutes zu tun. Die Art eines Oblaten, Gutes zu tun, ist nicht die eines Kapuzinerpaters, und die Handlungsweise einer Oblatin ist nicht die einer Barmherzigen Schwester.
Meine Kinder, man muss Oblatin sein. Alles ist für euch da, führt euer Direktorium aus, über die Nächstenliebe, die Gelübde, habt Vertrauen zu euren Oberinnen, dann werdet ihr Oblatinnen sein. Die Zukunft der Kongregation ist ganz da. Ohne Zweifel hat sie die Gnade vom lieben Gott und den Beistand unserer Guten Mutter Marie de Sales Chappuis, diese Mittel allein werden sie in ihrem wahren Geist bewahren. Zunächst weil ich euch nicht alle an Oblaten wenden könnt, und dann weil es die innere Ordnung der Häuser zu erhalten gibt und dazu gibt es kein anderes Mittel als die, welche die Gemeinschaft in sich selbst hat.
Meine Kinder, wir wollen es nicht besser machen als die anderen, aber wir wollen unsere Interessen schützen und dabei die Bescheidensten bleiben. Wie werden wir es können? Durch das kindliche und übernatürliche Vertrauen zur Oberin, wer sie auch sei. Haltet fest an dieser Handlungsweise, und um fest zu sein, seid ihr schon selbst sehr treu.
In welchem Befinden soll sich die Oberin halten? Sie wird ein gutes Gebet sprechen, ehe sie euch anhört, und sagen: „Mein Gott, was bin ich vor dir?“ Sie sollte es nicht wie die Pharisäer machen, die die Augen über sich geschlossen und über die anderen geöffnet haben. Wie soll sie sprechen? Soll sie hart, als Herrin, ärgerlich sein? Nein, aber in Verbindung mit dem lieben Gott, für den lieben Gott, in dem sie der einen ein wenig mehr gibt, die ermüdet ist, um sie auf den richtigen Weg zurückzubringen. Man muss sich auch sagen: „Mache ich, was ich  von den anderen verlange und will? Wo stehe ich in dieser Hinsicht?“
Möge die Oberin also sehr demütig, sehr verschwiegen sein. Sie lasse am Anfang ihren Charakter spontan sein und enthalte sich sorgfältig jeder Frage bezüglich des Innenlebens. Wenn ihr eine Schwester etwas anvertraut hat und dann eine andere zu ihr kommt, wird sie sich wohl hüten zu sagen: „Meine Schwester, eine andere hat mir dieses oder jenes gesagt.“ Die Gute Mutter Marie de Sales Chappuis hat es nie gemacht. Sie war sehr verschwiegen. Nie hat sie mir etwas von den Personen gesagt, die ihr schrieben, von großen Persönlichkeiten, von Bischöfen, mit denen sie in Verbindung war, wenn nicht ihr Gewissen Licht brauchte oder mich geeignet fand, für sie antworten zu lassen. Was ich über all das wusste, habe ich von anderen erfahren oder selbst gesehen, aber sie hat nie mit mir darüber gesprochen.
Die Oberin darf auch keine Andeutung auf irgendetwas machen, das ihr anvertraut wurde. Doch da sind zwei Schwestern, die aufeinander böse sind. Die erste kommt und sagt, dass sie weit davon entfernt sei, ihrer Mitschwester weiter böse zu sein, dass sie nichts mehr gegen sie habe. Die zweite kommt und sagt dasselbe. In diesem Fall kann die Oberin sehr gut sagen: „Das hat mir diese Mitschwester so eben auch gesagt, sie hat nichts gegen sie.“ Das genügt, um alles wieder einzurenken.
Meine Kinder, wir werden also unsere Exerzitien gut fortsetzen, um das Licht und die Gnade zu erhalten, zu denen Vertrauen zu haben, die mit uns beauftragt sind, und um uns darauf vorzubereiten, alle Gnaden zu empfangen, die der liebe Gott uns geben will, und auch alle, die er durch unsere Hände verteilen will. Amen.