14. Vortrag: Die Feier der Einkleidung. Das Glück des Ordenslebens
Mittwoch, 8. September 1886
Meine Kinder, heute macht ihr einen großen Schritt in eurem Leben. Ihr lasst hinter euch, was bis jetzt Gegenstand eurer Sorgen gewesen war. Ihr lasst alle Hoffnungen – oder besser gesagt – alle Illusionen der Welt hinter euch. Das scheint zunächst riesig, aber wenn man aufmerksam überlegt, sieht man, dass das, was ihr verlasst, wenig ist, während das, was ihr erhalten wollt, sehr groß ist. Man bedauert die Nonnen, weil ihr Sein nicht glänzt, weil die Stille, mit der sie umgeben sind, als eine traurige Eintönigkeit erscheint. Aber dennoch, liebe Verwandte, das ist nicht euer Gedanke. Ihr denkt jetzt, dass ihr ein sehr großes Opfer bringt, dessen Nutzen ganz euren Kindern zugutekommt.
Es ist in der Ordnung der Vorsehung, dass alles, was etwas kostet, bezahlt wird. Alles, was uns etwas kostet, verdient eine große Belohnung. Eure Kinder haben euch viel Schweiß, viel Sorgen, viel Unruhe bereitet. Was machen ein Vater, eine Mutter nicht alles für ihre Kinder! Sie schenken ihnen nicht nur ihre Zuneigung, sondern auch ihre Sorgen, ihr Wachen, ihr ganzes Sein. Nun, alle Opfer, die ihr gebracht habt, sollen sich heute durch ein noch größeres vervollständigen. Ihr habt euren Kindern alles gegeben und jetzt werdet ihr eure Kinder selbst dem lieben Gott geben. Das Opfer kommt von eurer Seite, aber nicht von der Seite eurer Kinder, oder zumindest ist das Opfer, das sie bringen, wie viel es auch kostet, nur in einem Punkt, in dem, der sich auf euch bezieht. Sie empfinden den Schmerz, nicht im Schatten eurer Liebe zu bleiben. Sie empfinden den Riss, zu verlassen, was sie am liebsten haben. Aber andererseits werden sie in ein neues Leben eintreten, in dem sie die irdischen Vorteile, auf die sie heute verzichten, nicht zu bedauern haben werden.
Nämlich, meine Kinder, was opfert ihr? Die Glücksgüter. Was sind die Glücksgüter? Welche Freuden bringen sie? … Man sagt zu Recht: „Die Reichtümer haben Dornen. Diejenigen, die sie handhaben, verletzen sich die Hände; diejenigen, die sich an sie hängen, verletzen sich das Herz; diejenigen, die sie verwerten müssen, setzen sich Dornen auf das Haupt.“ Was ist Reichtum, Vermögen, Überfluss, ist es das Erbteil? Nur wenig. Die meisten Kinder Adams arbeiten im Schweiß ihres Angesichts, um das tägliche Brot zu verdienen. Und in dieser Hinsicht wieder begünstigt euch Gott. Wenn ihr die Stacheln des Vermögens ablegt, nimmt er auch die Ängste derer von euch, die ihren Lebensunterhalt verdienen müssen. Die Gemeinschaft ist das Haus der Familie, das Haus des Brotes, es ist Betlehem, wo das Brot an jede gleich verteilt wird. Da erfüllt sich wirklich dieses Wort des Heilands: „Wer um meinetwillen seinen Vater, seine Mutter, seine Geschwister oder seine Felder verlassen wird, wird in diesem Leben das Hundertfache und im anderen das ewige Leben erhalten“ (vgl. Mt 19,29).
Warum arbeitet euer Vater? Um sein Vermögen zu vergrößern. Warum arbeiten so viele Menschen? Um ihr tägliches Brot zu verdienen. Die Erde ist eine große Werkstatt, wo jeder versucht, in der täglichen Arbeit die Nahrung und die Erholung des nächsten Tages zu finden. Alle diese Sorgen sind euch fremd. Gott will nicht, dass ihr daran denkt, er ruft euch hierher, um euch mit Liebe und Fürsorge zu umgeben, und damit ihr nur noch das kraftvolle Brot des Reiches Gottes suchen braucht, denn das Übrige wird euch gemäß des Versprechens des Heilands im Überfluss dazugegeben werden.
Was würde dem Menschen bleiben, wenn er am Tag gearbeitet und in der Nacht gedacht hat, ob er nicht im Schoße der Familie etwas hätte, das ihn zerstreut, von seiner schweren Arbeit losreißt, das ihm seine Sorgen nimmt? Die erlaubten Freuden in der Welt sind notwendig und verdient durch die Arbeiten und die Tränen. Wenn es keine Vergnügungen in der Welt gäbe, wäre es furchtbar. Aber was sind diese Freuden im Vergleich mit denen, die Gott euch hier beschert?
Ihr habt einen unschätzbaren Frieden und eine riesige Quelle an vertraulichen Freunden, welche die Leute der Welt nirgends finden.
Ich sagte vorhin, dass ihr das Opfer eurer Verwandtschaft bringt. Ich irrte mich. Hat nicht ihr Herz ein besonders zartes Gefühl für euch? Empfangt ihr nicht von ihnen eine beträchtliche Liebe, als wenn ihr in der Welt geblieben wäret? Und von eurer Seite: Gehört nicht euer Herz ganz eurer Familie, eurem Vater, eurer Mutter, euren Geschwistern? Liebt ihr sie nicht mehr, als wenn ihr mit anderen Banden gebunden wäret? Alle Düfte eurer Kindheit, eurer Jugend sind noch in eurem Herzen, keiner hat sich verflüchtigt. Und diese Düfte der vergangenen Zeit verbinden sich mit denen von heute. Eure Ordensfamilie ist für euch etwas Unaussprechliches. Ihr verliert nichts von den Freuden des Herzens, ihr empfindet sie sehr süß im Kreis eurer Mitschwestern, eurer Gemeinschaft. Gründet sich diese Gemeinschaft nicht auf dem großen Grundsatz der Nächstenliebe? Der heilige Franz von Sales wollte, dass die Nächstenliebe in unserem Herzen der Gottesliebe gleichkommt. Ihr seid bereit, euch für Gott zu opfern, ihr müsst ebenso bereit sein, euch für eure Mitschwestern zu opfern. Ihr liebt Gott und ihr liebt eure Mitschwestern wie Gott. Gott ist alles für euch, und der Nächste ist alles für euch. Unser Herr hat keinen Wall zwischen die Liebe, die er von euch für Gott verlangt, und die gesetzt, die er für den Nächsten verlangt. Er hat gesagt: „Was ihr dem geringsten dieser Kleinen tut, das tut ihr mir!“ Wisst es wohl, es gibt in eurem Leben als Kinder des heiligen Franz von Sales sehr große Tröstungen, sehr großes Glück durch die Übung der Nächstenliebe.
Jetzt, wo ich daran arbeite, die Biografie der Guten Mutter Marie de Sales Chappuis zu beenden, und vor meinen Augen dieses ganze Leben wieder erstehen lasse, sehe ich nur zwei Dinge: die Liebe zu Gott und die Liebe zum Nächsten. Und welche Liebe für Gott! Welche Liebe für den Nächsten! Ihre Seele war sehr glücklich, das Glück des Himmels wohnte in ihr. Liebt wie sie und mit ihr!
Werde ich von der Gottesliebe im Herzen einer Oblatin des heiligen Franz von Sales sprechen? Es ist im Herzen einer Oblatin während ihrer Gespräche mit Gott bei der Betrachtung, bei der Heiligen Kommunion etwas Unsagbares, das das Glück ihres Seins ausmacht. Die Erde kann diese Freuden nicht verstehen. Es ist dieses Glück, dessen Geheimnis niemand aufgedeckt hat, niemand in seiner Tiefe ergründen kann. Sich den Kopf zerbrechen, um ein Problem zu lösen, eine Buchhaltung zu führen, scheint eine sehr unangenehme Schwerarbeit zu sein. Man irrt sich, die Arbeit eines Mathematikers ist von Freude erfüllt. Wenn er eine Lösung gefunden hat, ist er glücklich. Das Geheimnis seines Glücks kann niemand anderer als er selbst verstehen. In der Liebe der Nonne zu Gott liegt das Geheimnis des Praktikers und nur der, der sich dieser Liebe, dieser Überlegung hingibt, kann es verstehen. „Einbildung“, werdet ihr sagen. Ist rein zufällig die Liebe, die ihr eurem Vater, eurer Mutter entgegenbringt, eine Einbildung? Es ist da ein Strahl vom Herzen Gottes herabgestiegen in eure Seele, um sie zu entflammen und zu durchdringen. Was geht zwischen Gott und der Seele der Nonne vor? Der heilige Paulus sagt: „Kein menschliches Auge hat es gesehen, kein Ohr hat es gehört, kein Herz kann es verstehen, was Gott seinen Auserwählten vorbehält“ (Vgl. 1 Kor 2,9). Sagt mir, ist dieses Glück nicht alle irdischen Freuden wert? Nur das Herz, das diese Dinge fühlt, ist fähig, sie zu verstehen.
O ja! Ihr seid glücklich! Wünscht euch nur die Vollkommenheit und das Glück eures heiligen Standes. Ihr habt soeben gute Exerzitien gemacht. Gott hat eure Seele besucht, er hat zu ihr gesprochen. Sagt ihm, dass ihr ihm euer Herz weihen und euch ihm für immer schenken werdet, und er wird euch antworten: „Komm, meine Geliebte, ich habe eine Krone für dich.“ Und was für eine Krone ist das? Der heilige Bernhard von Clairvaux sagt, es ist eine Krone von Freude und Glück. Im Ordensleben gibt es kein Hindernis für unsere Glückseligkeit. „Aber, großer Heiliger, sind keine Dornen in dieser Krone?“ „O, ohne Zweifel, aber wie lieb sind mir diese Dornen, ich sehe sie auf dem Kopf des Heilands und ich will für ihn leiden wie er. In diesen Dornen finde ich mehr Glück als in allen möglichen Belustigungen.“ Das ist das Geheimnis des Glücks unseres Lebens. Ihr habt diese Krone heute aus den Händen des Heilands empfangen. Möge sie auf eurer Stirn eine Krone des Friedens sein, sie sei äußerst dauerhaft nach dem Wort des heiligen Franz von Sales und der Guten Mutter Marie de Sales Chappuis.
Werdet wahre Töchter unseres seligen Vaters [Franz von Sales], die demütigsten und frömmsten seiner Kinder. Die Gute Mutter [Marie de Sales Chappuis] ist vielleicht von allen Heimsuchungsschwestern die vom heiligen Franz von Sales am meisten geliebte und die, die ihm am ähnlichsten war. Ihr werdet ihre Biografie lesen. Dringt gut in ihren Sinn ein. Ihr werdet euch nach ihrem Beispiel formen. Wie sie werdet ihr leiden, wie sie werdet ihr lieben, wie sie werdet ihr euch grenzenlos Gott und dem Nächsten schenken. Und dann werdet ihr wie sie die Krone empfangen, die ein Vorzeichen von der ist, die euch im Himmel erwartet, von dieser Ruhmeskrone, die ebenso wie ihre glänzt und duftet, und wenn sie euch der Heiland am jüngsten Tag auf das Haupt setzen wird, werdet ihr sagen: „O, ich erkenne sie wieder! Es ist die meiner Einkleidung, meiner Profess, es ist die meines ganzen Lebens!“ Das Paradies wird die Fortsetzung dessen sein, was wir hier unten gemacht haben werden. Im Himmel, mein Gott, wirst du nichts Besseres geben können, denn du hast gesagt: Maria hat den besseren Teil gewählt, der ihr nicht genommen werden wird. Liebt also diesen Teil, meine Kinder, es wird derselbe sein, der euch im Himmel gegeben werden wird. Amen.