Exerzitienvorträge für die Oblatinnen 1886

      

11. Vortrag: Über die Keuschheit, über die Einheitlichkeit in der Übung der Ordensregeln

Montag Vormittag, 6. September 1886

Meine Kinder, es bleibt mir noch über das Gelübde der Keuschheit und die Art es zu üben zu euch zu sprechen. Da wir noch anderes zu behandeln haben, werde ich mich bei diesem Thema kurz halten.
Wisst ihr, wozu euch das Gelübde der Keuschheit verpflichtet? Der heilige Franz von Sales sagt, dass ihr nur für den himmlischen Gemahl atmen sollt, das heißt, dass es nicht genügt, euch böser Dinge und Gedanken zu enthalten, sondern dass dieses Gelübde für euch vor allem darin besteht, unseren Herrn zu lieben, nur für ihn zu atmen, damit er alles für euch sei. Um euer Gelübde der Keuschheit zu erfüllen, müsst ihr also unseren Herrn lieben. Wie werdet ihr unseren Herrn lieben?
Wenn ihr den Gehorsam, die Nächstenliebe, das Geistliche Direktorium übt, werdet ihr unseren Herrn lieben. Es ist also unmöglich, dass er euch nicht das Gefühl seiner Liebe schenkt. Und wenn er es euch nicht schenkt, werde ich sagen, dass ihr große Heilige seid, und dass Gott euch ganz übernatürlich beschenken will. Man findet Seelen, die so jeden fühlbaren Trost entbehren. Gott hält für sie eine Aufgabe auf Erden bereit, oder im Himmel einen besonderen Rang. Versteht so euer Gelübde der Keuschheit. Atmet nur für den himmlischen Gemahl. Alles, was wir für uns, in Hinblick auf uns selbst, für die Liebe zu unserem Wohlbefinden, unseren Neigungen, Zuneigungen und persönlichen Abneigungen machen, machen wir nicht für den himmlischen Gemahl und ist folglich gegen die Übung der Keuschheit. Ihr müsst wachsam sein, um nicht schlaff in euch selbst, eure Ideen, eure Gefühle, eure Abneigungen getaucht zu werden. Alles, was in die Eigenliebe getaucht ist, ist nichts wert, denn es ist gegen die Tugend der Keuschheit.
Gemäß den Aussagen der alten Autoren kommt das Wort Keuschheit von einem lateinischen Wort („castitas“), das Kastanie bedeutet. Diese Frucht hat eine stachelige Schale, und wenn man sie berühren will, verletzt man sich. Wenn wir unsere Keuschheit bewahren wollen, müssen wir sie ebenso mit den Stacheln der inneren Abtötung umgeben. Man darf unserer Seele keine irgendwelche unserer Neigungen nahe kommen lassen. Und wenn sie sich ihr nähern, müssen sie sich an den Stacheln der Keuschheit verletzen.
Meine Kinder, ich werde auf dieses Thema zurückkommen. Es ist sehr schön. Die Frucht dieser Tugend ist das Leben der Einheit mit unserem Herrn, die Liebe des Wohlgefallens für all sein Wollen. Selig, die reinen Herzens sind, denn sie werden Gott schauen. Die Seelen, die getreu das Gelübde der Keuschheit üben, sehen Gott nicht erst im Himmel, sondern schon auf Erden. Seht, als die heilige Jungfrau in letzter Zeit erschien, so tat sie es vor Kindern, unschuldigen Seelen. Die Keuschheit besteht darin, uns von allem zu entfernen, das nicht Gott ist. Und da wir nicht Gott sind, entfernt sie uns von uns selbst und von allem, das schlecht ist, von allem, das böse ist, sie entfernt uns von unserer schlechten Natur, von unseren schlechten persönlichen Grundlagen.
Meine Kinder, heute Vormittag will ich euch etwas Ernstes über die Gesamtheit der Gemeinschaft sagen. Wir haben es schon gesagt, bisher haben wir einen Versuch gemacht. Ihr habt euren ganzen guten Willen, eure ganze Ergebenheit zur Sache Gottes, zur Einrichtung der Kongregation gebracht. Jetzt muss ihr ihre Form gegeben werden. Ich beabsichtige, Rom um die Genehmigung der Satzungen zu bitten. Es wird also nötig sein, dass sie in jedem Haus ganz ausgeführt werden, dass es unbedingt überall das Gleiche ist, dass es nicht die geringste Abweichung gibt. Zwar handelt man in diesem Haus so, in einem anderen anders, weil die Werke, die Charaktere der Kinder nicht gleich sind. Man wird in Troyes nicht wie in Paris handeln, was die äußerlichen Werke betrifft, aber das Leben der Gemeinschaft muss dasselbe sein, die Umgebung darf keinen Einfluss auf euch haben. Die Ordensregel muss unbedingt dieselbe sein. Was hier erlaubt ist, darf dort nicht verboten werden. Es muss die Regionaloberin eine Schwester sein, die fähig ist, die Beobachtung der Ordensregel aufrecht zu erhalten. Man muss in ihr die Verkörperung der Ordensregel finden. Es ist notwendig, dass diese Einheit besteht, sonst kann das Ordensleben keinen Bestand haben, sind die Engel nicht da, alles verblasst und nach einiger Zeit gibt es nichts mehr, der Geist des lieben Gottes hat sich zurückgezogen. Mögen also die Regionaloberinnen bei der Beobachtung der Ordensregeln sehr genau sein.
Ihr werdet die Satzungen, das Direktorium und dir Ordensregeln bekommen, die Gesetzeskraft haben werden. Man wird verpflichtet sein, sie einzuhalten. Die persönlichen Erlaubnisse bezüglich der Gesundheit werden alle acht Tage erneuert werden müssen. Die durch die Beschäftigungen notwendigen Befreiungen werden alle Monate erneuert werden. Wird diese Schwester, weil sie leidend ist, befreit, die Betrachtung zur Zeit der Ordensregel zu machen, so muss sie sagen, wenn ihr Zustand anhält, und diese Befreiung nach acht Tagen erneuern lassen. Eine andere kann sich infolge ihres Amtes der Beaufsichtigung, die sie bei den Kindern ausübt, ebenfalls nicht zur Zeit der Ordensregel zur Betrachtung begeben. Diese Befreiung muss alle Monate erneuert werden. Diese Handlungsweise wird überall eingehalten werden müssen. Die Bußübungen des Speisesaals werden überall in gleicher Weise gemacht werden. Wenn eine Schwester getadelt wird, wird sie überall niederknien müssen, den Boden küssen und sich beim Aufstehen verneigen.
Alle Autorität wird von der Generaloberin, oder der Regionaloberin kommen. Das soll so geschehen. Es muss in einer Gemeinschaft die Autorität Bestand haben. Achtet sie getreu, aber ohne Steifheit hineinzulegen, die in unserem Geist wäre. Ich erinnere euch, als ich einmal in der Fremde war, ging ich in ein Kloster, um dort die Heilige Messe zu feiern. Man gab mir ein riesiges Messgewand von alter Form, sehr dick und mit großem Gewicht. Als ich es anzog, sagte ich guten Mutes das gewohnte Gebet: „Herr, gib, dass ich beim Anziehen dieser Sache – der Text gibt ihr keinen Namen – deine Gnade und deinen Segen empfangen kann.“ Nach der Heiligen Messe bat ich erschöpft von der Mühe die Sakristeischwester, mir ein Glas Wasser zu geben. „Ich kann es nicht“, antwortete sie mir, „es bedürfte dafür die Erlaubnis der Oberin, denn wir können in der Sakristei nichts anbieten.“ Ich musste mich an diesem Tag damit abfinden. Am nächsten Tag hatte sie um Erlaubnis gebeten und sie erhalten und gab mir, was ich wünschte. Seid nicht so übergenau, befolgt die Ordensregel mit Festigkeit aber in aller Milde, Herzlichkeit und Einfachheit wie wahre Oblatinnen.
Ich wiederhole es: es ist unbedingt notwendig, dass überall dasselbe gemacht wird. Die Regionaloberin ist im Gewissen verpflichtet, für die Einhaltung der Ordensregeln zu sorgen, und wenn sie sehr beschäftigt wäre – hört gut zu, denn das ist heikel – wenn sie etwas vergessen würde – man kann nicht für alles Vorsorge treffen – wenn es euch schien, dass irgendein Punkt der Ordensregel nicht geübt wird, wäret ihr im Gewissen verpflichtet, es der Generaloberin zu sagen, nicht in dem ihr die Regionaloberin anklagt, sondern indem ihr euch folgendermaßen ausdrückt: „Diese oder jene Beobachtung der Ordensregel wird vernachlässigt.“ Die Regionaloberin braucht deswegen nicht zu erschrecken. Sie wird vielmehr eine große Hilfe finden, denn unsere Mutter Generaloberin oder ich, dem man die Angelegenheit sagt oder schreibt, werden wohl sehen, ob diese Schwester einen spitzfindigen Geist hat, der dazu neigt, Schwierigkeiten entstehen zu lassen, wo es keine gibt. Denn diese Charaktere gibt es überall. Diese Überlegung darf euch nicht hindern zu sagen, was ihr zu sagen habt. Es ist Sache der Generaloberin, in aller Verschwiegenheit darüber zu urteilen. Alle sind frei. Diejenige, die Richtiges sieht, wird richtiges sagen, diejenige die Schiefes sieht, wird Schiefes sagen. Es gibt da und dort Opfer zu bringen. Wenn man diese Opfer bringt, ist Gott von einer unvergleichlichen Güte. Der Geist Gottes ist mit uns, die Dinge sind weniger mühsam. Das hilft uns zu ertragen und beim Heiland zu bleiben.
Versteht, meine Kinder, dass wir ohne diese Mittel nicht Nonnen sein können. Ihr könnt fromme Mädchen sein, aber nicht mehr. Ihr habt keine strengen Abtötungen, aber ihr habt eure Unterwerfungen, die die Seele geschmeidig und von Gott abhängig machen. Begebt euch mit ganzem Herzen in diesen Geist, meine Kinder. Die Ordensregel will, dass euch die Regionaloberin führt. Lasst sie euch führen.
Wenn eine Mutter ihr kleines Kind schlägt, um es zurechtzuweisen, ist es ihr nicht böse. Augenblicklich weint und stampft es, aber bald kommt es zu ihr zurück und umarmt sie. Es sagt sich nur: „Ich bin für dieses bestraft worden, man wird mich dabei nicht mehr ertappen.“ Handelt so, meine Kinder, habt einen zarten Charakter, hegt keinen Groll gegen die Oberin, die euch getadelt hat. Das Kind, das von seiner Mutter getadelt wurde, hegt keinen Groll gegen sie. Das ist der Geist unseres seligen Vaters [Franz von Sales]. Man hat so ein leichtes Herz, man wendet die Zärtlichkeit seiner Seele Gott zu und nicht auf sich selbst, und man zieht großen Nutzen daraus.
Die Sprechzimmer wird man in der Fasten- und Adventszeit unterdrücken müssen. In allen Klöstern enthält man sich ihrer in diesen Zeitspannen und es würde Ärgernis erregen, wenn wir dies nicht beachten würden. Es ist Sache der Oberin, die Schwester zu entschuldigen, die nicht kommt, und es so zu machen, dass es dem Nächsten zur Erbauung gereicht.
Wenn man krank ist, muss man verlangen, was man braucht. Ich werde nicht fordern, dass ihr es wie die Gute Mutter [Marie de Sales Chappuis] macht, die ganz einfach sagte, was sie erduldete und dann nichts mehr verlangte. Sie nahm gleichsam, was man ihr gab, ob es ihr gut oder schlecht bekam. Um so zu handeln, bedarf es einer hohen Tugend, die man nicht von jedem fordern kann. Wenn man krank ist, kann man also einfach verlangen, was man für notwendig hält, aber wenn euch die Oberin kennt, euer Temperament gewohnt ist, legt ihr darf, was ihr empfindet und überlasst euch dann ihrem Urteil. Man sollte nicht sagen: „Meine Schwester, ich brauche dies oder das. Ich weiß, dass es im Haus vorhanden ist, ich habe jene Schwester darum gebeten, sie wird es mir geben.“ Wenn euch die Oberin kennt und euch sagt: „Nehmen sie das“, nehmt es. Und wenn ihr an die Gnade des Gehorsams glaubt, wird es euch heilen. Das ist unsere Handlungsweise. Unser Herr hat zu seinen Aposteln gesagt: „Heilt die Kranken.“ Er hat diese Macht jenen gegeben, die mit Seelen zu tun haben. Das heißt nicht, dass wir die Macht haben, Wunder zu wirken! Aber ist es nicht ein Wunder, einen Kranken durch die Tugend des Gehorsams zu heilen? Ich spreche nicht von den festgestellten Krankheiten, die zum Tod führen, denn man muss sterben, aber Gott hat Mittel gegeben, um sich von den kleinen täglichen Unwohlsein zu heilen. Und für uns gibt der Gehorsam die Wirkung dieser Mittel. Man soll nicht wie jedweder sein, wir müssen mehr an die übernatürlichen als an die natürlichen Mittel glauben. Seht, wie schön der Ordensgehorsam ist! Wir müssen dieses übernatürliche Leben leben, dieses Leben, das uns mit unserem Herrn verbindet.
Es muss also überall das Gleiche gemacht werden. Ich will nicht mehr Vorrechte für ein Haus als für ein anderes, weil ihr überall Oblatinnen sein werdet, und die Satzungen sind so verfasst, dass ihr nicht entkommen könnt. Man wird überall dasselbe machen, ohne ein Jota zu ändern, und sogar weniger als ein Jota, denn die Punkte auf dem j werden überall gleich gesetzt werden müssen. Ihr werdet das aus Liebe zu Gott machen, weil ihr wirklich Nonnen sein wollt. Ihr werdet es machen, um in der Absicht unserer Mutter Marie de Sales Chappuis zu sein, damit überall derselbe Geist herrscht, dass ihr einander liebt, dass es überall dasselbe ist und ihr gleich Zuhause seid, wenn ihr das Haus wechseln werdet, dass keine zusätzliche Schulung zu machen ist, dass man nicht sagen kann: „Aber hier ist es nicht wie dort, woher ich komme.“
Meine Kinder, wir haben uns verstanden, nicht wahr? Wir werden in diese Seinsweise einsteigen. Damit werden wir die Kinder des lieben Gottes, der für alle die gleichen Wunder wirkt. Sein Sakrament der Liebe, das Wunder seines Herzens, die Empfindung seiner Liebe ist überall dieselbe. Der Eingeborene, den Pater Simon kürzlich die erste Heilige Kommunion reichte, hat Gott ebenso empfangen, wie ihr ihn empfangt. Die Könige und die Fürsten empfangen ihn ebenso wie die niedrigsten Sklaven. Überall sind die Zeremonien der Heiligen Messe und die Absolution gleich, die Sakramente werden auf gleiche Weise gespendet. Daran erkennt man das Göttliche der Kirche, die Größe ihrer weltweiten Aufgabe.
Nun, eine Gemeinschaft soll in Nachahmung der heiligen Kirche ihre Einheitlichkeit sorgfältig wahren. Diese Einheitlichkeit ist etwas sehr Beseligendes und bindet uns an unser Ordensleben. Wenn wir in unseren letzten Zügen sein werden, werden wir unser Glück fühlen, immer im Gehorsam und in der Untertänigkeit gelebt zu haben, und wenn wir unser sterbendes Haupt auf unserem armen Kissen ruhen lassen werden, werden wir unvergleichliche Freuden und Süßigkeiten empfinden. Wie die Gute Mutter [Marie de Sales Chappuis] werden wir sagen: „Ich wollte immer, was der liebe Gott wollte, ich bin mir seiner sicher. In ihm ruhe ich, mit ihm gehe ich von hinnen.“ Amen.