Exerzitienvorträge für die Oblatinnen 1885

      

9. Vortrag: Über die Armut - Fortsetzung

Samstag Abend, 5. September 1885

Meine Kinder, seien wir beständig in der Treue, setzen wir unsere Exerzitien in der Sammlung unserer Seele fort. Denn, noch einmal, die Exerzitien sind die Zeit schlechthin, die Zeit der Gnade, wenn Gott zu uns spricht, mit dem Finger auf uns zeigt, um so zu sagen, was wir zu tun und zu meiden haben, wo wir klare, positive Vorsätze fassen. In diesem Augenblick empfangen wir eine neue Sicht und die Kraft, die nötig sind, um unser Leben zu bessern und uns vollkommener unserem Herrn zu schenken. Wenn die Exerzitien Tröstungen haben, haben sie auch ihre Strengheiten. Fassen wir Mut. Gott kommt zu allen Seelen, aber er kommt nicht auf demselben Weg. Für einige kommt er auf dem Weg der milde, dem Weg von Betlehem, dem Haus des Brotes, da unseren Schwestern die Nahrung gibt und ihnen heilige Tröstungen bringt. Für andere kommt er auf dem Weg von Getsemani, auf dem Weg von Kalvaria, aber der Weg, auf dem er kommt, ist nicht so wichtig, wichtig ist, dass es er ist, wir erkennen ihn und wir beten ihn an.
Nach der Auferstehung waren Petrus und Johannes mit anderen Jüngern auf dem See von Tiberias mit dem Fischen beschäftigt (vgl. Joh 21,1-14). Sie hatten die ganze Nacht gearbeitet, ohne einen Fisch zu fangen. Gegen Morgen sehen sie jemanden am Ufer erscheinen. Sie schauen, aber ohne sich bewusst zu werden, dass es Jesus ist. Nur Johannes erkennt ihn und ruft: Dominus est! Es ist der Herr! Nun stürzt sich Petrus, ohne zu denken, dass er auf dem See ist, aus dem Boot, um seinem Herrn entgegenzugehen. Ihr seht es, der Heiland kommt zu seinen Jüngern, wenn sie in Not, Entbehrung, Heimsuchung sind. Sie hatten die ganze Nacht gearbeitet, ohne etwas zu fangen. Was ist das also für eine Erscheinung, fragen sie sich? Dominus est! Es ist der Herr! Sehr, wie man versteht, wie man sieht, wenn man liebt! … Petrus hatte den Glauben, aber er hatte nicht so viel Liebe wie Johannes. Daher erkannte Johannes den Heiland, aber er stürzt sich nicht in den See wie Petrus, um schneller zu ihm zu kommen, er wartet ruhig und vertrauensvoll auf ihn, weil er seiner sicher ist.
Meine Kinder, während der Exerzitien werden die, welche Glauben haben, und vor allem jene, die unseren Herrn sehr lieben, wie der heilige Johannes, ausrufen mitten in Mühen, innerer Dunkelheit, Schwierigkeiten: Es ist der Herr! Versteht das, und ob er nun auf dem Weg von Betlehem oder dem auf Kalvaria zu euch kommt, setzt eure Exerzitien in Frieden und Einheit mit Gott fort.
Heute Vormittag habe ich euch ein Wort über die Armut gesagt. O, wie wünschte ich mit, euch zu veranlassen, sie zu lieben, euch zu dieser Tugend Zuneigung und sogar Zärtlichkeit einzuflößen. Warum ist die Armut so schön? Sie ist es nicht nur in sich selbst, sie ist es vor allem, weil sie unser Herr übte. Diejenigen, die den Heiland lieben, wollen wie er handeln. Ich führte heute Vormittag große Heilige an, die diese Tugend sehr geliebt hatten, Nonnen, die sie sehr wunderbar geliebt hatten. Ihr müsst sie lieben lernen, meine Kinder. O, wenn Gott euch dazu die Gnade geben würde, könnte ich kein Wort hinzufügen. Würde ich auf die Einzelheiten eingehen, würde es zu nichts dienen. Es wäre, als ob ich zu einem Kind sprechen würde, das seine Mutter sehr liebt, und ihm eine lange Rede halten, wie es sie lieben soll. Das würde es langweilen. Wenn ihr unseren Herrn liebt, ist es also unnötig, auf Einzelheiten einzugehen. Deshalb habe ich so etwas wie Widerwillen, dieses Thema vor euch anzuschneiden. Gebt mir einen, der liebt, und er wird fühlen, was ich sage. Jemand, der ein gerades, großmütiges Herz hat, und er wird mich verstehen. Die heiligen Seelen, von denen ich heute Vormittag zu euch sprach, übten diese Tugend der Armut so herzlich!
Um unserem Herrn zu folgen, müssten wir, meine Kinder, die Armut in dem lieben, was wir verwenden. Es ist so schön, sich nicht nur daran zu gewöhnen, dass etwas fehlt, sondern eine solche Ordnung um sich herum zu schaffen, eine solche Sorgfalt bei allem, das man macht, dass ein Stückchen Papier, ein kurzer Faden, ein Nichts geachtet wird. Seht, wie die Geizigen handeln. Ja, es ist hässlich, wenn man aus Habsucht handelt, aber wie ist es schön, wenn man aus dem Geist der Armut geizig ist? Das zeugt nicht von einem engen Geist, sondern vielmehr von einer großen, edlen Seele. Seid sparsam bei euren Beschäftigungen, bei dem, was ihr zu machen, zu handeln habt. Vermeidet es, eure Bücher zu verderben, Stoff zu verlieren, Papier zu verschwenden. Mit einem Wort: Vermeidet alles, was die geringste Ausgabe verursachen kann. Seid äußerst sorgfältig, seid achtsam, übt die Sparsamkeit aus Liebe zu dem, der es gern hat, dass ihr arm seid. Ich möchte, dass bei euch diese Feinheiten sind, die nur gute Nonnen verstehen und die sie dem Heiland so angenehm machen. Man pflegt gut, was man in Verwendung hat, man schon seine Kleidung, weil sie Gott gehört. Aus Liebe zu unserem Herrn macht man das und nicht für das Ding an sich und nicht für seinen Wert, denn mehr wert als alles ist die Liebe des Heilands.
Bei eurer Kleidung, meine Kinder, seid glücklich, wenn euch etwas fehlt. Eine Nonne, der nichts fehlt, ist nicht arm. Sie ist unserem Herrn nicht mehr ähnlich, sie ist nicht mehr seine Tochter, seine Gemahlin. Sie kann ihm nicht mehr sagen: „Du bist mein Gemahl, weil ich in allem für dich leide.“ Das Direktorium sagt, dass man Mühe und Abtötung annehmen muss, um mit der Fülle der göttlichen Liebe bekleidet zu sein. „Ich bin nie so zufrieden“, wiederholte unser seliger Vater [Franz von Sales], „als wenn ich es kaum bin.“ Seid also nie so glücklich, als wenn euch in euren Sachen, eurer Kleidung, eurer Nahrung etwas fehlt. Und in diesem ersten Punkt fehlt es so oft. Man ist müde, krank, man empfindet Abscheu, aber man ist in der Gemeinschaft und man muss essen, was alle essen. Wenn man Zuhause wäre, würde man es sich anders richten. Es gilt also da eine andere Armutsübung zu machen. Machen wir sie in der Einheit mit dem Heiland, der in Nazaret gewiss keine erlesene Nahrung hatte, und der auf Kalvaria die Galle und den Essig nahm, die man ihm reichte.
Macht euch arm bezüglich der Nahrung. O, wenn ihr wüsstet, was der Speisesaal für die wahre Nonne ist! Ich sah die Schwestern in der Heimsuchung, junge Leute im Seminar, die während der Mahlzeit überwacht werden mussten, denn anstatt zu essen machten sie Betrachtung. Das war wirklich nicht der Augenblick, und sie konnten so ihrer Gesundheit schaden. In der Kartause netzte P. Retournat sein Brot mit seinen Tränen, so viele Gnaden schenkte ihm der liebe Gott im Speisesaal. Gott entschädigte sie dennoch durch seine Begünstigungen für die Opfer, die sie bringen mussten. Am Hof von Sardinien, wo er Beichtvater des Königs gewesen war, musste er die sehr verschiedenen Gewohnheiten zu der der Kartause haben, und es gab im Ordensleben sicher vieles, das ihm etwas kosten sollte. Aber der Gedanke, dass Gott ihm die Gnade schenkte, ihn wie seinen Sohn zu behandeln, erfüllte seine Seele mit Glück und Trost. Wenn man so die Armut annimmt, schenkt sich Gott ganz besonders. Und wenn er, wie ich euch gestern sagte, besondere und innige Gnaden an die Beschäftigungen des Hauses knüpft, schenkt er auch grenzenlos im Speisesaal, wenn man dort wirklich arm ist.
Betretet also, meine Kinder, bei der Nahrung, der Kleidung und den Dingen, die ihr für eure Arbeit braucht, diesen Weg, und ihr werdet dort reichlich Trost finden.
Es ist selbstverständlich, dass ihr, wenn ihr ein zartes Gewissen habt, nicht schwer gegen die heilige Armut fehlen werdet. Daher verstehe ich auf diesem Punkt. Ich werde euch nur ein paar Worte sagen, damit ihr über eure Verpflichtungen gut aufgeklärt seid. Eine Nonne kann über nichts verfügen. Wenn ihr eine Beschäftigung habt, die die Handhabung von Geld verlangt, müsst ihr achtsam sein und dürft nichts machen, ohne euch eine Ermächtigung des Gehorsams zu beschaffen.
In diesem Punkt sind die Theologen streng. Jede Ausgabe, die außerhalb des Gehorsams gemacht wird, wird wie ein Diebstahl betrachtet. Das Gebot: Du sollst nicht begehren deines Nächsten Gut, ist auf das Gelübde der Armut anwendbar. Das verhindert, etwas ohne Erlaubnis ausgeben zu können. Ich stimme dem zu, aber es ist besser, sich zu behindern, als sich der Gefahr auszusetzen, seine Seele zu verlieren. Wenn ihr zart seid, ich wiederhole es, werdet ihr keine schweren Fehler begehen, die eurem ewigen Heil schaden können, aber ihr müsst es sein, und ihr müsst es ganz besonders sein.
Der heilige Franz von Sales wollte, dass die Klöster der Heimsuchung wie die der Kapuziner gebaut werden. Das erste Kloster wurde unter diesen Bedingungen gebaut. Man fühlt dort überall die Armut. In unseren Häusern, in unseren Internaten muss das Mobiliar angemessen sein, aber wahren wir gut dieses Gefühl der Armut, seien wir keine großen Damen, sondern ganz kleine Nonnen. Seid groß in Bezug auf den lieben Gott und die Seelen, aber lieben wir die kleinen Dinge, lieben wir, was bescheiden ist, suchen wir nicht, was Aufsehen erregt, überlassen wir den Weltleuten, was diese Weltleute beseelt. Es wird uns gut tun, meine Kinder, denn wir brauchen nur unseren Herrn, nur ein Leben, das dem seinen angepasst ist. Überlegt euch das während der Exerzitien, damit ihr es gut versteht und euch immer daran erinnert. Das ist sehr ernst, sehr wichtig. Der liebe Gott ist darin sehr streng mit den Nonnen, die gegen die Armut verstoßen. Ich werde euch ein Beispiel anfügen.
In einem sehr geregelten Kloster war eine Schwester, die eigenartig war. Man konnte nicht sagen, dass sie keinen Geist, keinen Kopf hatte, denn das hatte sie sicher. Sie war gehorsam, genau bei der Betrachtung, beim Stundengebet, bei allen Übungen. Sie fehlte nicht gegen die Liebe. Äußerlich sah man nichts Tadelnswertes an ihr und dennoch fühlte man wohl, dass es keine Nonne war wie die anderen. Sie wurde krank und die Oberin sagte, als sie über die Art sprach, wie der liebe Gott sie behandelte: „Es ist nicht wie unsere Schwestern!“ „Dennoch, meine Mutter, ist es wohl eine unserer Schwestern, da sie schon mit fünfzehn Jahren in das Noviziat eingetreten ist.“ „Aber das tut nichts zur Sache, es ist nicht wie unsere Schwestern.“ Als man sich anschickte, sie verwalten zu lassen, als man zufällig auf dem Dachboden etwas suchte, fand man eine Kiste, dann zwei, die mit allen möglichen winzigen Gegenständen gefüllt waren. Es war das Versteck dieser Nonne, dort legte sie alles ab, was sie zusammenraffen konnte, und das seit langem. „O!“, sagte die Oberin, „da ist das Geheimnis ihrer Eigenheit.“ Die Oberin veranlasste sie dann, ihren Fehler zu gestehen. Sie ging darauf ein und diese gute Mutter sagte ihr, sie möge den lieben Gott um die Gnade bitten, nicht sogleich zu sterben, um Buße tun zu können. Dann fügte sie hinzu: „Wir hatten nie einen Besitz unter unseren Schwestern, das zieht den Fluch Gottes auf eine Gemeinschaft und könnte ihn auch auf uns herabziehen.“ Man ließ mich dann eintreten, um ihr die heilige Kommunion zu verabreichen. Sie begann, um ihre Genesung zu beten und starb tatsächlich nicht an dieser Krankheit. Aber sie lebte von da an in einem sehr schmerzhaften Zustand von Schmerz und Ohnmacht, in großen körperlichen und seelischen Leiden, in schrecklichen Ängsten. Nachdem sie achtzehn Monate lang so gelitten hatte, sagte sie schließlich eines Tages: „Ich erkenne, dass ich schlecht gehandelt habe. Bis jetzt sagte ich es, aber ich war nicht davon überzeugt. Da ich es jetzt verstanden habe, kann ich mein Nunc dimittis sprechen.“ Und sie starb in guter Verfassung. Wenn sie früher gestorben wäre, wie lange wäre sie im Fegefeuer gewesen? Und da verdient man nicht mehr, man zahlt nur, während man auf Erden leidet und verdient. Gott nimmt unsere Leiden wie eine Wiedergutmachung an, aber er gestattet gleichzeitig, dass sie uns heiligen.
Meine Kinder, das ist keine Geschichte, die man in einem Buch liest. Ich war Zeuge dessen, was ich euch soeben erzählte. Seien wir also, wie der heilige Ambrosius sagt, „die kleinen Armen unseres Herrn.“ Die kleine Arme, die an der Tür mit Gnade und Zurückhaltung bettelt, stößt auf Interesse, alle lieben sie, möchten ihr geben, gut zu ihr sein. Seien wir die kleinen Armen des Heilands, reichen wir ihm die Hand und sagen wir ihm: „Herr, ich will nur, was du mir geben wirst. Ich will nichts außer deinen Willen. Wenn etwas nicht von dir käme, würde ich es entsetzt wegschleudern. Ich will nur, was du mir zu haben gestattest.“
Gehen wir also so zu unserem Herrn, meine Kinder, schauen wir ihn gut an, ahmen wir ihn nach, er war der erste Arme. Unser Herr hat als Erster die Armut für sich gewählt. Er hat uns als Erste das Beispiel gegeben. O, Herr Jesus, mache uns herzensarm, geistesarm, aber reich an deiner heiligen Liebe, reich an deiner Ehre im Himmel gemäß deines Versprechens. Amen.