8. Vortrag: Über die Armut
Samstag Vormittag, 5. September 1885
Meine Kinder, setzten wir unsere Exerzitien fort, werden wir ihrer nicht müde. Wie gefällt es mir, es euch zu wiederholen, die Exerzitien bringen ihre Gnaden mit sich. Diese Tage sind Tage der Heiligung, Tage, an denen der liebe Gott beständiger bei uns ist, Tage, an denen seine Gnade reichlicher, wirksamer ist. Er schickt uns nicht nur seine Engel, sondern er beschäftigt sich selbst in wunderbarer Weise mit uns.
Wenn zur Erntezeit die Felder mit schönen, goldenen Ähren bedeckt sind, kommt der Schnitter mit seiner Sichel und macht eine reichliche Ernte. Käme er aber einen Monat später oder zu jeder anderen Zeit des Jahres, würde er nichts finden. Für die fromme Seele sind die Exerzitien die Erntezeit, in der man die Gnaden Gottes in Fülle sammelt. Das sind, können wir sagen, die Tage des Heils, die Tage, die der Herr gemacht hat. Zu Ostern und an den anderen Festtagen des Jahres gibt es ganz besondere Gnaden für die christlichen Seelen. Die Exerzitien sind das Ostern des Ordenslebens, sind die geistliche Auferstehung. Sie sind auch Weihnachten, die Ankunft Jesu in unseren Seelen. Sie sind Pfingsten, der Heilige Geist steigt in jeden von uns herab, wie er auf die heilige Jungfrau und die Apostel herabstieg, die im Abendmahlssaal versammelt waren. Der Heilige Geist kam in Form von Feuerzungen nicht nur ganz allgemein auf alle herab, sondern auf jeden einzelnen, in dem er sich mit ihm ganz innig verband. Meine Kinder, so wird es für euch sein, wenn ihr bei den Übungen treu und genau seid. Seid aufmerksam, gesammelt, um die Garben der Gnaden nicht verloren gehen zu lassen, von denen wir soeben sprachen. „Sie hatten unter Tränen gesät und sind mit Jubel zurückgekommen, sie trugen in ihren Armen Garben der Fülle, eine schöne und reiche Ernte.“ (vgl. Psalm 126,6). Das ist das Bild der Exerzitien, der Früchte, die man erntet, wenn man großmütig ist, um nicht zu fürchten, „unter Tränen zu säen“.
Meine Kinder, heute Vormittag werde ich zu euch über das dritte Ordensgelübde sprechen, über das Gelübde der Armut. Was ist das Gelübde der Armut? Es besteht darin, nichts für sich zu haben, aber nichts, nichts … Arm ist der, der wenig besitzt, aber so wenig es auch sein mag, gibt es doch noch einige kleine Gegenstände, die ihm gehören. In seiner Dachkammer hat er geflickte Kleidungsstücke, hat er den Napf, aus dem er isst. Das Brot, das er verdient hat, gehört ihm, und dennoch sagt man, er sei arm. Die Ordensarmut ist noch strenger. Sie lässt nicht einmal diesen kleinen Scheinbesitz zu. Sie will, dass die Nonne überhaupt nichts hat, das ihr gehört. Als früher die Gesetze christlich waren und in der Welt noch ein wenig mehr religiöser Sinn war, betrachteten die bürgerlichen Gesetze die als tot, die das feierliche Gelübde der Armut abgelegt hatten. Daher konnten sie nichts zu eigen haben. Um sich am Tag ihrer Profess an diesen geistlichen Tod zu erinnern, legt sich die Nonne unter ein Leichentuch. Man kann also keinen Handlung für ein Eigentum mehr machen, da man nicht mehr lebt, man ist tot. Man wird ärmer als die Armen, man kann nicht sagen: „Das gehört mir.“ Versteht es gut, meine Kinder. Dieses Gelübde ist immer absolut, obgleich es das bürgerliche Gesetz nicht mehr schützt. Wenn man es abgelegt hat, kann man über seine Güter nicht mehr verfügen. Es ist sehr streng.
Ich kenne einige Gemeinschaften, wo das Gelübde der Armut nicht gut eingehalten wird. Die Nonnen verfügen über dieses und jenes. Nun, ich weiß nicht, ob es eine Art großer Angst ist, die diesen Gemeinschaften nicht erspart blieb. Es ist als hätte sich die Hand Gottes schwer auf sie gelegt, sie werden erdrückt, innerlich und äußerlich. Seht, wie streng der liebe Gott ist, wenn das Gelübde der Armut nicht gut ausgeführt wird.
Man muss euch also, meine Kinder, dazu bringen, es aus ganzem Herzen auszuführen. Diejenigen, die es noch nicht abgelegt haben, müssen sich darin üben, und diejenige, die es abgelegt haben, müssen darin sehr genau und sehr treu sein. Ihr werdet mir sagen: „Mein Vater, das ist sehr schwer!“ Nein, es besteht alles darin, die Dinge von der guten Seite her zu nehmen. Dieses Gelübde setzt euch nicht dem Hungertod aus. Ihr habt euer tägliches Brot, ein Bett, Kleidung. Kurz, es fehlt euch nichts. Hat es der Heiland nicht versprochen, als er sagte: „Derjenige, der seinen Vater und seine Mutter – das heißt alles, was ihm in dieser Welt am wertvollsten war – verlassen hat, werde ich das Hundertfache zurückgeben“ (Vgl. Mt 19,29). Wenn ihr mit Vermögen in der Welt geblieben wäret, hättet ihr viele Sorgen gehabt, um es zu bewahren und zu vergrößern. Und wenn ihr hingegen arm gewesen wäret, hättet ihr die Sorgen der Armut, der Bedürftigkeit gehabt, die Sorge der täglichen Arbeit. Das Joch unseres Herrn ist süß und seine Last ist leicht, in dem ihr das Gelübde der Armut abgelegt habt, habt ihr euch von vielen Sorgen und Unannehmlichkeiten befreit. Hat unser Herr nicht gesagt: Sorgt euch nicht, was ihr essen und trinken werdet (vgl. Mt 6,25)? Diese Worte wurden wohl für euch gesprochen. Aber wenn euch der Heiland mit so viel Güte und Zartheit behandelt, möchtet ihr dann nicht auf seine Liebe antworten, in dem ihr euer Gelübde in aller Kraft des Wortes übt?
Wie viele Personen gibt es in der Welt, die sich mühen, sich ihren Geschäften zu stellen, sich ihren Luxus zu erhalten, ihren Bedürfnissen nachzukommen? Ihr seid von diesen Sorgen befreit. Dies scheint euch natürlich zu sein, aber das ist überhaupt nicht natürlich. Es gibt sehr wenige Personen in der Welt, die ruhig sind wie wir, denn da ist eine Züchtigung, ein Joch, das auf den Kindern Adams lastet. Sie müssen ihr Brot im Schweiße ihres Angesichts essen. Aber glaubt ihr denn, die ihr davon ausgenommen seid, dass ihr nicht schuldig seid, wenn ihr euer Gelübde nicht treu erfüllt? Die Personen der Welt tragen ein hartes, schmerzliches Joch und ihr wollt es euch rauben, ihr weist es zurück! So hatte der gute Bischof, von dem ich euch erzählte, sehr recht, vor den Leuten Abscheu zu empfinden, die keine materiellen Sorgen haben, die die Pflichten der heiligen Armut aber nicht vollkommen erfüllten. Da ist zum Beispiel ein kleiner Unglücklicher, den man annimmt, dem man zulächelt, den man aus Liebe nährt und kleidet. Man sagt zu ihm: „Gib gut Acht, vergeude dieses und jenes nicht, pflege gut, was man dir gibt.“ Dieses Kind würde es nicht übers Herz bringen, nicht darauf aufzupassen. Ihr seid dieses kleine Kind, dem der liebe Gott alles gibt, was es braucht. Er empfiehlt euch, darauf aufzupassen. Glaubt ihr, dass es eine höchste Ungerechtigkeit wäre, nicht darauf zu achten, gegen euer Gelübde zu verstoßen? O, meine Kinder, ich kenne keine Seele, die freiwillig gegen die heilige Armut fehlt, die mit dem lieben Gott voll verbunden ist, die in Gnade mit ihm ist, denn die schweren Fehler sind in diesem Haus leicht zu machen. Nichts ist ernster als dieses Gelübde. Ich will euch seinen Sinn erklären. Ich kann eine Nonne ohne Armut nicht verstehen. Das flößt mir Abscheu ein. Dieser Widerwille kommt ohne Zweifel von meiner Kinderzeit, denn ich sah immer, dass die heiligen Nonnen sehr arm waren.
Als die Gute Mutter Marie de Sales [Chappuis] Fribourg verließ, sagten die Schwestern zu ihr: „Man müsste Ihnen vielleicht eine kleine Ausstattung machen.“ „Eine Ausstattung“, antwortete sie, „und warum denn?“ „Aber dort, meine Mutter, wird man nicht wissen, was Sie brauchen.“ „Der liebe Gott wird es wohl wissen“, sagte sie.
In der Heimsuchung von Troyes war ich sehr berührt zu sehen, wie die Ordensschwestern dieses Gelübde erfüllten. Meine Schwester Paul-Séraphine, die in der Welt sehr reich war, beachtete es in wunderbarer Weise sogar so streng, dass die Oberinnen ihr Erleichterungen auferlegen mussten. Die Armut war im Kloster äußerst groß. Die Nahrung war armselig, die Kleidung wurde lange erhalten. Meine Schwester Justine von der Küche hatte ein Mittel gefunden, ein Kleid elf Jahre zu erhalten. Die Ökonomin Schwester Marie-Louise suchte immer die alten Gewänder, um sich zu bekleiden. Sie sagte: „Mein Vater war ein Original, meine Mutter ebenfalls, ich gerade vielleicht ein wenig nach, aber die neuen Kleider stören mich. Wenn es hingegen abgenützte Gewänder sind, passt es mir gut.“ Sie hatte um die Erlaubnis gebeten, nur zu essen, was auf den Tellern übrig blieb. Unsere Mutter hatte angeordnet, sie glauben zu lassen, dass sie so bedient werde. Sie sagte nun: „Wenn Sie wüssten, wir gut mir das tut.“ Und dennoch war sie in der Welt eine große Dame.
Eines Tages sah ein Arbeiter, der am Bau des Internates arbeitete, wie Schwester Marie-Louise ein durchlöchertes Taschentuch verwendete. Als der gute Mann heimgekommen war, erzählte er es seiner Frau, die zu ihm sagte: „Ich werde dir ein halbes Dutzend neue Taschentücher für diese arme Ordensschwester geben, denn das erregt mein Mitleid.“ Es bedurfte großer Mühe, ihm verständlich zu machen, dass sie es nicht brauchte, dass sie wegen der Abtötung so handelte. Übrigens waren alle Schwestern in der Heimsuchung von einer äußersten Armut geprägt, baten um eine Erlaubnis, um die kleinsten Dinge zu behalten und trugen den Geist der Abtötung mit sich überallhin. Das macht sie dem Heiland angenehm. Im Haus ist alles arm, es gibt kaum die notwendigen Möbel. Bei uns kann es wegen des Internates nicht so sein, aber es muss bei Nonnen alles dieser großen Armut gleichkommen, von der die Heimsuchungsschwestern begeistert sind, denn es ist das große äußerliche Zeichen ihrer Liebe zu unserem Herrn.
Der heilige Franz von Assisi fragte sich eines Tages, was dem lieben Gott am meisten gefallen würde und dachte, dass es die äußerste Armut sei. Daher wurde er einer der von unserem Herrn am meisten geliebten und beschenkten Heiligen. Er verdiente es, die Stigmata zu tragen. Warum? Weil er arm war, weil er die Armut so wunderbar ausübte. Er spricht begeistert davon in einer sehr poetischen Sprache: „Ich sagte eines Tages zu unserem Herrn“, erzählte er, „dass ich auf Erden keine Gemahlin nehmen wolle. Der Heiland antwortete mir, dass ich die Armut nehmen solle. Also reichte ich dieser Tugend die Hand und sagte ihr: Sei meine Gemahlin, meine Mutter, komm auf mein Herz, ich will nur noch dich, denn du wirst mich zum Heiland führen.“ Er war so arm, dass er um sein Brot bettelte. Daher hat sein Orden den Himmel mit Seligen bevölkert.
In der Kartause übte Pater N., ein noch sehr junger Novizenmeister, dieses Gelübde wunderbar aus. Es war ein großer junger Mann, der das Vergnügen, vor allem die Jagd, mit Eifer ausgeübt hatte, denn er war sehr aktiv. Ich trat in seine Zelle ein und sah ihn damit beschäftigt, auf einem Blatt Papier an die dreißig Johannisbeertrauben anzuordnen. Ich lächelte und er sagte mir herzlich lachend: „So ist das bei uns. Der liebe Gott schickt mir dreißig Johannisbeertrauben, ich sammle sie ein. Wenn sie ein Armer finden würde, würde er sie ernten, und wenn er hungrig wäre, würde er sie essen. Ich muss es wie dieser Arme machen.“ Das war jedoch kein kleiner Geist. Er starb wie ein großer Heiliger. Das ist die Ordensarmut, meine Kinder. So wird sie in den eifrigen Klöstern geübt, und so müssen auch wir sie üben. Ist es dürftig? O nein, es ist im Gegenteil sehr groß, sehr schön.
Ich wünsche mir, dass ihr eine große Verehrung für die heilige Armut habt. Wenn ihr unseren Herrn liebt, werdet ihr diese Tugend lieben. Geht nach Loretto das kleine Haus von Nazaret anschauen, in dem der Heiland aufgewachsen ist, in dem er die ersten dreißig Jahre seines Lebens verbrachte. Es gibt dort zwei Zimmer, von denen das erste heute als Kapelle dient. Man bewahrte einen kleinen Teller, verschiedene Gegenstände, die der Heiligen Familie gehört hatten. Ach, wie ist das alles arm! Klein ist das Haus, in dem der Herr gewohnt hat, dem ich mein Herz geschenkt habe, mein Leben. Ich liebe dich, o Jesus, in dieser Armut und werde ich anders handeln als du? Werde ich eine Wohnstätte haben, die deiner nicht ähnlich ist? Werde ich dir nicht in allem gleich sein wollen? Würde ich dich lieben, wenn ich nicht versuchte, mich dir ähnlich zu machen? Die Liebe zu unserem Herrn ist das große Geheimnis, um wirklich arm zu sein. Der heilige Franz von Assisi liebt die Armut nur so sehr, weil er den Urheber der Armut liebt.
Überlegen wir diese Gedanken, hängen wir unser ganzes Herz daran. Sie sind eine Gabe Gottes wie alles Gute und Heiligende. Die Natur sucht nicht die Armut, aber die der Gnade hörige Seele sucht Gott. Betrachtet das verborgene Leben des Heilands. Seht das kleine Kind, das eine einfache und arme Nahrung hat, das Brot aß, das ihm der heilige Josef verdiente, als Kleidung hatte, was ihm die heilige Jungfrau webte, in einem armen Haus wohnte und absolut nur das Notwendige hatte. Und was hat die Heilige Familie nicht in Ägypten auf fremder Erde gelitten, wo es sehr schwer sein musste, seinen Lebensunterhalt zu verdienen? O, meine Kinder, wenn unsere Liebe da ist, wenn wir wirklich alles ganz unserem Herrn geschenkt haben, wären nicht auch wir glücklich, arm zu sein? Wenn unser Schatz im Himmel ist, wird sich unser Herz nicht in diesen kleinen Nichtigkeiten befinden, die unsere persönlichen Wünsche befriedigen könnten. Versteht wohl so die Armut, denn auf diese Art müssen wir sie verstehen. Möge der in Nazaret und in Ägypten arme Heiland Jesus auch sie lieben lassen! Geht nach Betlehem, nach Nazaret, an die Orte, wo unser Herr wohnte, wo er lebte und seht, was er machte, um ihn nachzuahmen. Sonst würdet ihr nicht Nonnen sein, würdet ihr nicht Gemahlinnen des Heilands sein, der sein Leben lang arm war. Wir würden nur für ihn atmen, wenn wir die kostbare Gabe der heiligen Armut erkennen würden. Wenn wir hingegen etwas suchen, verlangen, das nach unserem Geschmack ist, und wenn wir einen gewissen Gefallen daran finden würden, würden wir aufhören, für den göttlichen Gemahl unserer Seelen zu atmen. Versteht das wohl, meine Kinder, damit ihr gute und heilige Nonnen werdet, die das Gewand des Heilands überall hintragen und lieben, was er selbst liebte.
Gib, Herr, dass wir verstehen und den Anteil, den du für uns ausgewählt hast, zu unserem eigenen machen. Es ist der Anteil Gottes, der Anteil, den er seinen Freunden vorbehält. Amen.