Exerzitienvorträge für die Oblatinnen 1885

      

5. Vortrag: Über die Keuschheit

Donnerstag Abend, 3. September 1885

Macht weiterhin gute Exerzitien, meine Kinder, bleibt weiterhin beim Heiland, lebt in seiner Vertrautheit. Eines Tages näherten sich zwei Jünger unserem Herrn und fragten ihn: Meister, wo wohnst du? Jesus antwortete ihnen: Kommt und seht! Und sie verbrachten einen Tag mit ihm (Vgl. Joh 1,38-39). Diese paar Stunden der Vertrautheit mit dem Heiland schienen ihnen so köstlich, dass sie sie gerne während ihres ganzen Lebens hätten ausdehnen und unseren Herrn nicht mehr verlassen wollten.
Meine Kinder, ich werde euch etwas sagen, an das ihr vielleicht nie gedacht habt, und über das ihr ohne Zweifel erstaunt sein werdet, aber ich muss es euch sagen, weil es die Wahrheit ist. Es war der Anteil dieser beiden Jünger weniger gut als eurer. Wie lange blieben sie in der Vertrautheit mit dem Heiland? Nur einen Tag. Aber was blieb ihnen davon ein Monat, ein Jahr, nachdem dieser Tag verbracht wurde? Nur die Erinnerung. Der heilige Johannes Chrysostomus (349/344-407) sagte den Gläubigen, die er unterwies: „Wollt ihr nicht alle den Heiland betrachten? Sagt ihr nicht: Ich möchte sein Gesicht, seine Kleidung, seinen Gang sehen, den Klang seiner Stimme hören? Ohne Zweifel wäre das eine sehr große Gnade, deren Eindruck jedoch nach und nach verblassen würde, deren Erinnerung euch bald nur noch in weiter Vergangenheit erscheinen würde.“ Während ihr, meine Kinder, ein Mittel habt, den Heiland immer bei euch zu haben, euch mit ihm zu unterhalten, ständig Zeichen seiner Liebe zu erhalten. Welches Mittel ist das? Es ist das Gelübde der Keuschheit.
Was ist die Keuschheit? Nach den Theologen besteht dieses Gelübde darin, nicht zu heiraten und das Leben einer Person zu führen, die ihre Hand, ihren Willen, ihre Zuneigung keinem Geschöpf geschenkt hat. Es verpflichtet uns, unserer Person eine große Achtung entgegen zu bringen und uns vor den Sünden zu warnen, die gegen die Tugend der Reinheit sind. Das ist das theologische Gelübde, das das Herz vor seiner eigenen Schwäche und den Gefahren der Welt beschützt. Aber ihr, Kinder des heiligen Franz von Sales, betrachtet euer Gelübde, wie es unser seliger Vater [Franz von Sales] versteht. Woraus lässt er es bestehen? Nur für den himmlischen Gemahl atmen. Versteht das gut, zweifelt nicht daran, darin liegt das ganze Geheimnis eures Gelübdes der Keuschheit. Was heißt das? Es ist, dass euch euer Gelübde innig der Liebe unseres Herrn weiht, so dass diese Liebe in euch ebenso gegenwärtig, ebenso tätig ist wie eure Atmung. Wenn es uns gut geht, atmen wir 25 Mal in einer Minute. Der heilige Franz von Sales will damit sagen, dass ihr stets in der Vertrautheit mit unserem Herrn sein sollt, dass ihr seine Liebe in eurem Willen, in eurem Herzen haben sollt, und dass diese Liebe für euer Leben ebenso unerlässlich sein soll wie eure Atmung.
Euer Gelübde, meine Kinder, ist für euch etwas viel Glücklicheres als unseren Herrn gesehen zu haben, als mit ihm gesprochen zu haben. Ihr seid glücklicher als Magdalena, als Marta, als die Jünger, denn ihr habt nicht das Glück, ihn nur einmal zu sehen, sondern ihr gelobt, immer bei ihm zu sein, mit ihm zu sprechen. Ich bekräftige vor Gott, dass euer Gelübde in Wahrheit glücklicher für euch ist als die sichtbare Gegenwart unseres Herrn während einiger flüchtiger Augenblicke. Das scheint euch außergewöhnlich. Und dennoch sage ich euch, wenn ihr der Übung der Keuschheit, wie sie der heilige Franz von Sales lehrt, treu seid, werdet ihr den Heiland vertrauter haben, als wenn ihr sehen und mit ihm sprechen können würdet, weil er nach Beendigung des Gesprächs verschwinden würde und ihr würdet euch seiner göttlichen Gegenwart nicht mehr erfreuen, während der durch dieses Gelübde immer bei euch ist, ihr ihm geweiht seid. Die Seele, die so in der Vertrautheit mit unserem Herrn bleibt, ist glücklicher als die, welche mit ihm auf Erden gelebt haben. Der Heiland selbst bekräftigt es. „Selig,“ sagt er, „die nicht sehen und doch glauben“ (Joh 20,29). Als der heilige Thomas unseren Herrn erkannte, nachdem er sich geweigert hatte, an seine Auferstehung zu glauben, rief er in einem Ausbruch an Liebe: „Mein Herr und mein Gott!“ „Du hast geglaubt“, sagte ihm Jesus, „weil du gesehen hast. Selig sind die, die mich lieben werden und mich nicht gesehen haben. Ihr Teil wird ein Teil der Wahl sein wie der von Maria, er wird ihnen nicht genommen werden.“ Ich möchte es euch verständlich machen, meine Kinder, denn euer Teil ist glücklicher, als wenn ihr die größten Wunder wirktet, als wenn ihr die ausgezeichnetsten Gnaden empfangen würdet. Ich weiß es aus Erfahrung.
Wie war der Anteil der Guten Mutter Marie de Sales [Chappuis] des Himmels auf Erden? Ihr Glück war in ihrer Vereinigung mit unserem Herrn, in dieser göttlichen Gegenwart, in der sie wie verschmölzen, aufgelöst war. Der heilige König David sagte: „Meine Seele hat keine Beständigkeit mehr, weil sie in dich gestürzt ist, sie ist in Wasser zerronnen, sie zerfloss in dir, als sie sich suchte, hast du sie gefunden.“ Meine Kinder, beobachtet es gut, euer Gelübde der Keuschheit. Erneuert es. „Schenk mir die Gnade, o Jesus, in dir zu leben, zu lieben und zu atmen, in dieser göttlichen Atmosphäre, wo man sich nie allein fühlt, sondern stets bei dir, o mein göttlicher Heiland.“ Das ist das Geheimnis eures Ordenslebens, meine Kinder. Unser seliger Vater [Franz von Sales] wollte ein Ordensleben, in dem die Seelen völlig und ganz in vertrauter Verbindung mit ihrem Heiland, in seiner Seele, in seinem Herzen, in seiner Liebe sind. Durch die Treue zum Direktorium gelangen wir so zu Ausübung unseres Gelübdes der Keuschheit. Es lehrt uns, uns ständig mir dem Heiland zu unterhalten, dieses engelhafte Leben zu führen, das die Vollkommenheit ist.
Warum teilen uns die Heiligen mit, dass so manche Seelen glücklicher sind als die Engel im Himmel? Weil die wirklich keuschen Seelen einen größeren, vertraulichen Teil der Liebe haben. Versteht das. Man sagt von den kleinen Kindern, die gleich nach ihrer Taufe sterben, dass sie wie die Engel sind und ständig das Antlitz des himmlischen Vaters betrachten. Diese Kinder haben jedoch keinerlei Verdienst. Wenn Gott zu ihnen schon so freigiebig ist, glaubt ihr, dass er nicht besondere, unauslöschliche Freuden haben wird für die keuschen Seelen, die liebenden Seelen, die sich ihm geweiht haben, die sich ihm schenkten und ihm treu waren? O, ihre Belohnung im Himmel wird nicht der der kleinen Kinder gleichen. Diese Seelen werden tausendmal mehr geliebt werden und ihr Ruhm wird tausendmal größer sein. Was gibt tatsächlich dem Ruhm seinen Preis? Es ist die Liebe. Warum sucht sie der Mensch so offensichtlich und gierig? Weil er sich selbst liebt, er liebt es, gelobt und bewundert zu werden, wenn er sich nicht selbst liebte, wäre der Ruhm nur ein eitles Wort. Der Ruhm ist also nichts, die Liebe ist alles. Die Liebe verschenkt sich, sie verbraucht sich, sie gibt sich hin.
Wie gut würde man sein Gebet mit dem Gelübde der Keuschheit machen, würde man es so betrachten. Wie vieles würde man verstehen, würde man es in der Stille, während der Vorbereitung und der Danksagung zur heiligen Kommunion betrachten? Wie würde man fühlen, dass unsere Seele glücklich ist, dass sie die größten Heiligen um nichts zu beneiden hat.
Meine Kinder, wenn euer Gelübde der Keuschheit in eure Seele die Liebe des Heilands legt, verbreitet es darin eine göttliche Ruhe. Deshalb sage ich euch, dass ihr sehr glücklich seid, unseren Herrn als treuen Freund zu haben, in vertraulicher Verbindung mit ihm zu sein. Gibt es etwas Vergleichbareres zu diesem Glück? Und dieses Glück ist das Glück der guten, der heiligen Nonnen, die verstanden haben, was das Keuschheitsgelübde ist. Einer unserer jungen Patres sagte mir: „Es ist für mich eine ganze Erleuchtung! Ich glaubte, dass dieses Gelübde ein Joch ist, das aus der ständigen Übung der Keuschheit bestehe, aber ich sehe, dass es ein Leben, ein eigenen Sein ist. Es ist nicht nur die Abwesenheit des Bösen, sondern ein ganz neues, ganz besonderes Leben für die Seele.“
Versteht also euer Glück, dieses Gelübde ausüben zu können. Es erstaunt mich nicht, dass die Heilige Schrift diese Worte der Gemahlin in den Mund legt: „Wir eilen zum Geruch deiner Düfte, deshalb liebten dich alle jungen Seelen mit einer unvergleichlichen Liebe.“ Euer Gespräch verursache kein Ärgernis, der Hauch eures Mundes möge duften, das Wort, das aus ihm kommt, ist wie ein köstliches Aroma. Mein entzücktes Herz wünscht sich nichts anderes mehr als die nachzulaufen. Das ist das Glück der Seele, die sich reinigt, die sich von sich selbst löst, von aller persönlichen Suche, wenn sie einfach, natürlich bleibt. Sie hat eine sehr große Liebe zu dir, o mein göttlicher Heiland!
Ihr werdet also sehr glücklich sein, meine Kinder, am Ende der Exerzitien, euer Gelübde zu erneuern. Die Vertrautheit mit unserem Herrn ist so schön! Die Gute Mutter [Marie de Sales Chappuis] sagte mir: „O, wenn man die Feinheiten des Heilands, alle Kostbarkeiten, die er mit der Seele macht, die ihn sucht, kennen würde, wie würde man sich dann schenken, wie würde man sich ihm hingeben.“ Meine Kinder, ich bitte unseren göttlichen Heiland, der ganz Liebe ist, er möge euch diese Dinge selbst offenbaren. Denn was wir nämlich für Gott und den Nächsten tun können, wenn wir es nicht aus Liebe machen, sind wir nur hohl klingende Schellen, unfähig etwas für das ewige Leben zu tun. Was macht unsere Handlungen verdienstvoll? Ist es nicht unsere Liebe? Wohlan, mein Kinder, unser ganzes Leben muss ein Akt der Liebe sein. Wir müssen manchmal diese Augenblicke der inneren Stille, der tiefen Sammlung haben, die zu Gott sagen werden: „Du bist gut, ich bete dich an, ich liebe dich.“ Es wird euch vielleicht dann der Gedanke kommen, euch zu fragen: „Warum so in der Ruhe und in der Stille verweilen?“ Und der Heiland wird antworten: „Maria hat den besseren Teil erwählt, er wird ihr nicht genommen werden.“ Es gibt nicht zwei Teile für sie, es gibt nur einen, und dieser Teil, dessen sie sich schon auf Erden erfreute, wird während der ganzen Ewigkeit ihr Glück ausmachen.
Mein Gott, ich glaube, wenn du uns, was unmöglich ist, im Himmel etwas anderes geben würdest als diese Vertrautheit mit dir, von der wir soeben sprachen, würden wir die sagen: „Herr, wir bleiben lieber auf Erden, der Himmel wäre nicht vollständig für uns, denn wir könnten nichts anderes tun, als nur für dich allein zu leben und zu atmen.“ Geht auf diese Gefühle ein, meine Kinder, denn in der treuen Ausübung eures Keuschheitsgelübdes heißt es schon den Himmel besitzen. Ihr müsst in dem, was wir soeben sagten, ein Licht finden, das euer Leben verändert, wie es der junge Ordensmann sagte, das ein anderes, ein himmlisches Leben macht.
„Aber, mein Vater“, werdet ihr mir sagen, „wir sehen die Dinge nicht immer so. Es gibt im Leben Augenblicke der Dunkelheit, der Angst. Wir sind zerbrechlich, manchmal zweifeln wir sogar. Wir werden von Dämonen versucht, von denen, die uns umgeben, von unseren schlechten Gewohnheiten, die uns dazu bringen, uns zu folgen. Was wird dann aus unserem Vorsatz, nur für unseren himmlischen Gemahl zu atmen? Manchmal bleibt man so tagelang, wochenlang, monatelang. Das Leben der Einheit mit Gott, von der sie zu uns sprechen, wird uns dann wie ein Traum erscheinen. Wir werden nicht mehr daran glauben.“
Wenn es so sein wird, meine Kinder, werdet ihr wie die heilige Jungfrau Maria, wie der heilige Johannes, wie die Seelen handeln, die den Heiland am meisten geliebt haben, die ihm treu geblieben sind, selbst als ihn alle verließen. Ihr werdet nach Getsemani gehen, ihr werdet unserem Herrn sagen: „Herr, du leidest, ich bete dein Leid an. Ich aber weiß nicht mehr, wo ich stehe, ich kann dich nicht mehr lieben.“ Wenn die Versuchung stärker ist, werdet ihr zum Fuß des Kreuzes kommen, um euch mit der kleinen Gruppe zu vereinen, die dort war. Wer wird je verstehen, wie bitter der Schmerz der heiligen Jungfrau war? Wer weiß sogar, ob Johannes, Magdalena und die heiligen Frauen nicht von solchen Zweifeln befallen wurden. Denn schließlich wird man trotz der zartesten Liebe angesichts des Todes verwirrt. Man weiß nicht mehr, man sieht nicht mehr, was man hoffen, was man glauben soll. Im Augenblick der Heimsuchung werdet ihr wie diese treuen Seelen handeln, ihr werdet unserem Herrn sagen: „Mein Gott, du leidest für mich! Es langweilt mich, an dich zu denken, aber ich will dennoch bei dir bleiben, o mein Gott! Richte die Augen auf mich! Möge dein Blick das Eis meines Herzens schmelzen oder, wenn du mich nicht anschaust, gewähre mir wenigstens die Gnade dich wiederzufinden, o gekreuzigter Jesus, wenn dieser schmerzliche Zustand vorbei sein wird. Ich verdiene es nicht, mich dir zu nähern. Ich werde wie die handeln, die dich nicht genug liebten, um dir nach Calvaria zu folgen, aber dir dennoch treu waren und dich aus der Ferne betrachteten, aber sie schauten dich an, sie liebten dich, sie wollten dich, sie waren immer deine Jünger, die du gerufen und gesegnet hast.“
Euer Keuschheitsgelübde, meine Kinder, verbindet euch also mit dieser bevorzugten Gruppe, das heißt ihr verdient, Teil dieses treuen Volkes zu sein, das den Herrn fürchtet und liebt, dieser auserwählten Truppe, zu der Jesus sagen wird: „O ihr, die ihr meiner Liebe treu ward, geht ein in die Freude eures Herrn, geht ein in das ewige Hochzeitsfest, wo das Halleluja von all jenen gesungen wird, die auf Erden nur für den himmlischen Gemahl atmeten!“ Amen.