Exerzitienvorträge für die Oblatinnen 1885

      

4. Vortrag: Über den Gehorsam - Fortsetzung

Donnerstag Vormittag, 3. September 1885

Noch ein Wort über den Gehorsam, meine Kinder. Gestern sagte ich euch harte und ernste Dinge. Der Pater August-Marie de Mayerhoffen (1855-1918) sagte mir: „O, wie harte Sachen sagen sie ihnen da!“ Aber dennoch geziemte es sich, dass man nicht anders sprechen kann, wenn man die Lehre der Gelübde vorträgt. Er hat mir wiederholt, was ihm der Hochwürdigste Pater Célestin Rollin (1846-1932) sagte, der viel strenger ist als ich.
Meine Kinder, es ist nicht meine Absicht, zu euch hart und streng zu sein. Ich glaube, dass der liebe Gott damit nicht zufrieden wäre, und es liegt mir vor allem daran, dass es notwendig ist, eure Aufmerksamkeit darauf zu lenken. Es kommt mir von verschiedenen Seiten zu, dass euch im Allgemeinen die Zartheit des Gewissens fehlt, dieses zarte Gefühl, das veranlasst, die Beleidigungen des lieben Gottes in den kleinen Dingen zu vermeiden. Das kommt mir aus vielen Quellen zu. Man sagte mir: „Die Oblatinnen, die sind gut, aber das Ordensleben ist nicht ganz ihre Angelegenheit.“ Man muss sehr darauf achten, meine Kinder, dass das Ordensleben alles für uns ist, dass es unsere Sache, unsere Angelegenheit ist, dass es die Atmosphäre ist, in der wir leben, in der wir handeln, dass alles andere für euch zweitrangig ist. Diese Exerzitien sollen uns dahin führen, dass in Zukunft das Ordensleben alles für uns ist.
Heißt das, dass das Studium, die Werke, die Hausarbeit und nichts angehen? O, nein, meine Kinder, weil das und das Ordensleben nicht zwei verschiedene Dinge sind. Und dass für uns da das Ordensleben ist. Ihr müsst euch also mit eurem ganzen Herzen, mit allen euren Kräften hingeben. Schadet das dem Innenleben? Nein, meine Kinder, denn nie nimmt man so oft zu Gott Zuflucht, nie ruft man lauter nach ihm, als wenn man viel zu tun hat. Seht ein kleines Kinder, das seiner Mutter folgt. Wenn sie ihm nicht die Hand reicht, fasst es ihr Kleid, und nie klammert es sich stärker an sie, als wenn sie schnell geht und es zwingt zu laufen. Meine Kinder, die Vielfalt der Beschäftigungen verhindert nicht das Innenleben. Im Gegenteil, es macht, dass man sich anstatt nur um den Heiland herumzugehen, sehr stark an ihn, an die Falten seines Mantels klammert. Man verlässt ihn nicht mehr, man sagt ihm ständig: „Herr, hilf mir!“ Da ist euer Leben, meine Kinder, ich verstehe es nicht anders. Nicht, was wir zu tun haben, trenn uns von Gott, es muss uns viel mehr mit ihm vereinen. Das ist das Geheimnis des Ordenslebens. Wenn man den lieben Gott gern hat, versucht man, sich nicht von ihm zu trennen. Wenn etwas Schmerzliches auftaucht, klammert man sich stärker an ihn. Liebt man hingegen wenig, nützt man die erste Gelegenheit, die sich bietet, um den lieben Gott zu verlassen, sich von ihm zu entfernen und bei sich selbst zu verweilen. Versteht das gut.
Aber kommen wir auf den Gehorsam zurück. Wie müsst ihr ihn ausführen? Der Gehorsam ist hart! Man würde gerne alle vorstellbaren Opfer bringen, aber auf seinen Willen zu verzichten ist hart. Das ist das härteste aller Opfer. Ich verstehe das. Ich kann auf meinen Willen nicht verzichten, das ist mir unmöglich. Aber es gibt ein Mittel, die Schwierigkeit abzuwenden. Man muss seinen Willen in die Hände des lieben Gottes legen und ihm sagen: „Mein Gott, ich übergebe dir meinen Willen, ich will mit allen meinen Kräften, was du willst.“ Das ist der Gehorsam, der nicht die Person sieht, die befiehlt, sondern Gott. Also macht man alles, was man will und wie man will. Niemand ist freier, als der, der so den Willen Gottes erfüllt. Sonst ist die Nonne nur noch eine verachtenswerte Sklavin, und was wird aus ihr, wenn sie jemand gehorchen muss, der ihr nicht gefällt? …
Verstehen wir gut den Gehorsam für Gott, meine Kinder, den Gehorsam beim ersten Glockenschlag, den Gehorsam zugunsten der Person, die befiehlt, um zu handeln, wie gesagt wird, zur angegebenen Zeit, so wie man es wünscht, damit euer Gehorsam vollständig ist, weil ihr dafür das Gelübde abgelegt habt, oder, wenn ihr es noch nicht abgelegt habt, ihr lernen wollt zu gehorchen, um es eines Tages abzulegen. Also macht ihr einen engelhaften Akt. Der Gehorsam der Engel ist schnell und vollständig. Engel heißt Gesandter, und sie werden so genannt, weil der Gehorsam bei ihnen sogleich und ganz ist. Sie gehen in den Geist des Gehorsams ein, in die Absichten dessen, der befiehlt.
Seht also den Unterschied. Der Engel gehorcht und der Mensch ist ungehorsam. Bemerkt auch, wie in der Natur alles gehorcht. Die Tiere gehorchen ihrem Instinkt, sie gehorchen den Gesetzen, die Gott für sie aufgestellt hat. Die Sonne gehorcht wie alle anderen Himmelskörper, und diesen Gehorsam erfüllen sie seit langem von Minute zu Minute. Wie wunderbar ist der liebe Gott! Er wollte, dass wir uns an allem, was wir um uns herum sehen, ein Beispiel nehmen. Die Himmelskörper haben ihre Bahn, eine Vibrationsbewegung, es ist wie ein kleiner Hauch der Freiheit, den sie haben. Man gibt euch einen Gehorsam, ihr zögert eine Sekunde, ihr betrachtet, da ist die kleine Vibration. Aber das Zögern darf nicht länger dauern … Gott hat dem Menschen die Freiheit gelassen, damit er den Verdienst des Gehorsams hat. Es ist die höchste Tugend zu gehorchen.
Ich erinnere mich, dass ich, als ich ganz jung im Kloster der Heimsuchungsschwestern ankam, ein wenig erstaunt war zu hören, dass mir die Mutter Paul-Séraphine sagte: „Bei uns werden keine außergewöhnlichen Tugenden geübt, wir haben keine besonderen Andachten, wir haben den Gehorsam.“ Den Gehorsam, sagte ich mir. Es scheint mir, dass sie ihm eine sehr große Rolle gibt … Aber später habe ich dann gesehen, dass alle anderen Tugenden in dieser enthalten waren. Die Nonnen, die sich dem Buchstaben und dem Geist des Gehorsams unterwerfen, heiligen sich. Ich habe nie Seelen gesehen, die gehorsamer waren, als die Gute Mutter Marie de Sales [Chappuis] und Schwester Marie-Geneviéve (Laienschwester im Kloster der Heimsuchung von Troyes). Das war etwas Unvergleichliches, es war die Vollkommenheit. Diese Tugend ist nicht immer leicht zu üben. Sie ist die erhabenste von allen. Es bedarf eines großen Mutes, einer großen Kraft, man muss entschlossen sein, um immer im Gehorsam zu sein. Wenn ihr euch unterwerft, macht ihr den schönsten Akt, den ihr machen könnt.
Ich bringe euch keine großen Überlegungen, meine Kinder. Ich könnte euch wohl sagen, was die Kirchenväter lehrten, euch so schöne und so erbauende Dinge wiederholen, was die heiligen Kirchenlehrer über dieses Thema geschrieben haben. Aber das ist nicht mein Ziel. Mein Ziel ist es, euch zu lehren zu gehorchen, zu allem, was die Oberin oder die Ordensregel befehlen, zu sagen: „Ja, mein Gott, dein Wille und nicht meiner.“ Wenn der Gehorsam angenehm sein wird, sagt: „Herr, ich laufe dir nach zum Duft deiner Gerüche.“ Wenn er euch etwas kosten wird: „Herr, hilf mir, ich weiß nicht, ich kann nicht, komm mir zu Hilfe!“ Macht es so, meine Kinder, und euer Gehorsam wird sanft und beständig sein, es wird etwas sein, das euch helfen und in den schweren Augenblicken halten wird. Der heilige Bernhard von Clairvaux sagte zu seinen Ordensleuten: „Ihr habt sehr jung das väterliche Haus verlassen, aber ihr findet hier eine Mutter, die an euren Schwächen mehr Anteil nehmen wird als eure natürliche Mutter, sie wird euch in ihren Armen tragen und euch helfen und die Last erleichtern. Wenn euer Herz voll Bitternis sein wird, werdet ihr an der Bewegung ihrer Arme fühlen, dass sie euch wiegt und ermutigt. Diese gute Mutter ist der Gehorsam. Lasst euch von ihm führen, wohin er euch führt, egal ob er euch bis zu Gott erheben und wieder auf die Erde hinabsteigen lassen will. Er wird euch sagen, was ihr zu machen habt.“
O heiliger Gehorsam, Mutter der Ordensleute, verlass uns nicht, denn mit dir sind wir mit Gott, fühlen wir das Schlagen seines Herzens. O, wie gut ist es, Herr, so mit dir zu sein! Möge ich mein Zelt mit Moses aufstellen, um dem Gesetz, der Ordensregel treu zu sein, und mit Elija deine Liebe, deine Zuneigung zu mir zu betrachten. Meine Kinder, möge es euer Vorsatz von heute Vormittag sein, im Gehorsam zu bleiben wie auf einem Tabor, wo Jesus und sein heiliger Wille herrschen. Von da aus werdet ihr sehen, was im Himmel geschieht, wo ehr euch erwartet.
Das ist der Gehorsam und nichts anderes. Ich sage euch keine großen Worte, keine schönen Phrasen. Ich zeige ihn euch, wie er ist. „O!“, sagt der heilige Bernhard von Clairvaux, „wenn sich bei einem gegebenen Gehorsam mein Geist aufbäumt, eine ich die Dornen deiner Krone, die Nägel und alles, was zu deiner Passion diente, o mein Heiland, zu einem Bündel und lege es auf mein Herz. Und dann kann ich nicht mehr nein sagen, ich sage Ja, weil du zu all dem ja gesagt hast, weil die Bitternis, mit der dieser Gehorsam mein Herz tränkt, nichts ist im Vergleich mit der, die deines während deines Leidens tränkte.“
„Bleibe bei mir, Herr, verlass mich nicht mehr. Wenn ich Zweifel, Angst habe, lass mich nicht alleine. Ich werde gehorsam sein bis zum Tod und bis zum Tod am Kreuz mittels deiner heiligen Gnade und aus Liebe zu dir.“ Amen.