Exerzitienvorträge für die Oblatinnen 1885

      

2. Vortrag: Die Betrachtung über den Tod

Mittwoch Vormittag, 2. September 1885

Meine Kinder, heute Vormittag möchte ich, dass ihr über den Tod nachdenkt. Ihr werdet den Friedhof unserer Mitschwestern besuchen, und ihr werdet daran denken, dass ihr eines Tages auch euren Platz dort haben werdet. Auch die ersten Christen hatten ihren Friedhof. Das waren die Katakomben, lange, unterirdische Galerien in den Pfarrgemeinden, in denen rechts und links Aushöhlungen gemacht wurden, in die man die Körper der Gläubigen legte. Auf den Stein, der die Öffnung verschloss, ritzte man den Namen mit einem Symbol. Dieses Symbol war gewöhnlich eine Taube, die einen Olivenzweig im Schnabel hielt, und man las darunter das Wort: PAX. Es war tatsächlich der Friede, denn sie waren dort in Ruhe. Niemand außer den Christen hatte das Recht, diese Katakomben zu betreten. Man hatte also von den ersten Jahrhunderten der Kirche an eine große Ehrfurcht, die Gräber der Gläubigen zu ehren. Daher müssen wir unseren kleinen Friedhof sehr lieben. Ihr werdet heute dort die Betrachtung machen, und ihr werden den lieben Gott um das bitten, was ihr während eures ganzen Lebens hättet machen wollen, wenn ihr schon dort in einem dieser Gräber wäret. Denn schließlich werdet ihr länger in der Erde liegen, als ihr lebend und handelnd darauf verweilen werdet. Ihr macht euer Schicksal jetzt, es liegt in euren Händen, es liegt an euch, es vorzubereiten, es glücklich für die Ewigkeit anzulegen. Dieser Gedanke ist gut: O Gott, dein Urteil ist heilig.
Wenn wir zögern, einen Entschluss zu fassen, können wir ernste Personen um Rat fragen. Manchmal wird die Antwort gut sein, manchmal wird sie es auch nicht sein. Aber der Tod täuscht nie, seine Meinungen werden immer heilsam sein.
Die Schwester Marie de Sales de Bellaing wurde von ihren Eltern gedrängt zu heiraten. Sie zögerte. Sie hatte keine zärtliche Verehrung. Das ist nicht jedem gegeben. Sie bat nicht gut den lieben Gott und der liebe Gott sagte ihr nichts. Sie dachte also daran, ihren Sarg um Rat zu fragen, die Meinung nicht der Lebenden sondern der Toten einzuholen. „Die Ehe wird einige Jahre dauern,“ sagte sie sich, „und dann? …“ In ihrer Angst ging sie eines Tages zum Grab ihres Vaters, um zu beten, dort sagte ihr eine innere Stimme: „Ergreife die sicherste Partei! Mache, was du im Augenblick des Glaubens gemacht haben möchtest.“ Ihr Entschluss war gefasst. Sie hatte den Rat des Todes angenommen, und dieser Rat war für sie gut und nützlich.
Ihr werdet also, meine Kinder, zum Friedhof gehen, um für die zu beten, deren sterbliche Hüllen dort ruhen, für die, die wir verloren haben. Wo sind sie? Es ist meine Überzeugung, dass sie am Ort der ewigen Ruhe sind. Aber wir werden dennoch beten, denn unser Gebet wird ihre Ehre steigern, es wird sie imstande setzen, uns zu heben. Wir werden für die beten, die im Fegefeuer sind. Würden wir sie leiden sehen, wie würde es uns anregen, ihnen Erleichterung zu verschaffen! Machen wir es gern, da wir es können. Beten wir für die, die wir nicht kannten, beten wir für die, die wir kannten. Sie wissen, was wir brauchen. Die Anfänge der Kongregation im Paradies sind sehr tröstend. Wir können behaupten, dass Gott gekommen ist, unsere Mitschwestern zu holen, um sie zu unseren Beschützerinnen zu machen. Nehmen wir Zuflucht zu ihnen, beten wir für sie und bitten wir sie auch.
Verbringen wir diesen Tag mit der Betrachtung über den Tod. Wenn wir an den Gräbern unserer Schwestern stehen, werden wir denken: „Es bleibt nur Staub. Das werde auch ich werden. Warum soll ich mich ärgern? Warum so etwas wünschen? Wenn ich vor einem Jahr gestorben wäre, würde mir dieser Ärger dann noch Kummer bereiten? Würde ich mir solche Gunst wünschen? Der heilige Bernhard von Clairvaux sagte oft: „Gehen wir weg. Gehen wir zu unserem Grab, bleiben wir nicht zu Hause, gehen wir dorthin, wo wir am längsten sein werden.“ Wenn man treu ist, ist das Grab das Himmelstor. Der Staub wird sich für uns in dieses Gewand des Ruhms und der Unsterblichkeit verwandeln, das die Kleidung der Heiligen ist. Der so ins Auge gefasste Tod ist nicht demütigend. Im Gegenteil: es ist der Ruhm, wenn wir treu waren. Wir können also über unsere Hoffnungen nachdenken und mit einem großen Heiligen sagen: „O! Wie wenig scheint mir die Erde, wenn ich den Himmel betrachte!“ Möge diese Überlegung sehr ernst sein. Ich verlange von euch keine großartigen Überlegungen; nichts ist leichter zu machen. Es ist nicht schwer, sich den Tod vorzustellen. Wir tragen den Keim dazu in uns. Eines Tages, vielleicht schon bald, wird der Tod sein letztes Wort sagen und alles wird aus sein. Wann wird das eintreten? Wir wissen nichts darüber. Die Zahl unserer Tage ist bestimmt, ihre Anzahl ist festgelegt, der Tod wird keine Stunde, keine Minute darüber hinausgehen. Wir sind also ständig angesichts des Todes, und deshalb empfiehlt uns unser Direktorium so inständig, den Gedanken an den Tod zu fassen. Wir müssen am Rand unseres Grabes sitzen wie die Engel am Rand des Grabes unseres Herrn. Unsere Jahre werden vielleicht nicht lange sein. Denken wir an das alles.
Meine Kinder, denkt über euren Tod nach, wie der liebe Gott euch eingeben wird, es zu tun, denn der Tod ist eure Angelegenheit. Euch allein betrifft das. Und euer Leben, das diesen höchsten Augenblick vorbereitet, ist wieder allein eure Angelegenheit. Ihr arbeitet heute, werdet ihr morgen auch noch arbeiten? … Heute seid ihr wenig fromm, wenig genau in Bezug auf eure Ordensregeln, werdet ihr morgen noch da sein, um es besser zu machen? …. Möchtet ihr in diesem Augenblick vor dem lieben Gott erscheinen? Wo sind eure Verdienste? Wie viele Tage, Wochen, Monate, habt ihr ihm geschenkt? Welchen Anteil habt ihr ihm von eurem Tag mit ihm geteilt? Da seid ihr im Augenblick zu sterben. Was ihr gesät habt, wird nun geerntet werden. Habt ihr das Korn gesät, das die Speicher des himmlischen Vaters füllen soll? Nun werdet ihr am letzten Tag erscheinen, beladen mit den Garben, die ihr für das ewige Leben angehäuft habt. Habt ihr Untreue, Nachlässigkeiten, Verachtung der Gnade gesät? Was wird euer Boden dann hervorbringen? Stacheldraht und Dornen. Geht also während eurer Betrachtung vor Gott, zeigt ihm eure Ernte, die Ernte eurer Früchte. Ah! Herr, du hast gesagt: Man pflückt keine Trauben von Dornen, keine Feigen von Stacheln. Wo sind denn die Früchte, die ich dir zeigen sollte? Hier ist meine Arbeit, hier ist, was ich gemacht habe, hier ist, was der karge Boden meines Herzens hervorbrachte.
Der Tod ist ein guter Richter, er spricht nach der Wahrheit. Nehmt ihn als Berater und bittet am Grab unserer Schwestern um die Gnade, getreu den Gedanken an den Tod zu fassen.
Meine Kinder, ich überlasse euch euren Überlegungen, der Eingabe der Gnade Gottes. Ich gebe euch keine Anleitungen, ich werfe in eure Seelen den Samen des göttlichen Wortes. An euch liegt es, ihn fruchtbar zu machen. Bittet unsere verstorbenen Mitschwestern, in eure Seelen heilsame Gedanken zu legen, euch zu vermitteln, schon jetzt zu sein, was ihr im Augenblick des Todes gewesen sein wolltet. Der Baum fällt auf die Seite, wohin er sich neigt. Die Quelle, die vom Berg kommt, folgt dem Hang, der sich zum Meer neigt. Alle unsere Handlungen, alle unsere Übungen, alles, was wir gemacht haben, geht in eine bestimmte Richtung. Der Tod kommt und alles mündet in das große Meer, in das sich alles Irdische stürzt, in das Meer der Ewigkeit. O! Welches Glück, wenn es der Ozean des Ruhmes ist, von dem der heilige Apostel Johannes spricht, als er das himmlische Jerusalem inmitten eines Meers aus Kristall sah und vor Glück und Freunde hingerissen wurde (Vgl. Offb 22,1). Die Seele bereitet ihren Himmel auf Erden vor. Was wird aus der Seele werden, die Gott verachtet hat, die ihn sozusagen mit Galle und Essig getränkt hat, die seinen Kopf mit den Dornen der Untreue umwunden hat? Mit welchem Vertrauen wird sie sich darstellen? Wie wird sie Gott aufnehmen? Hier spricht der Tod, hört ihm gut zu.
Ich rechne mit euch, meine Kinder, um sehr still zu sein, müsst ihr gänzlich sein, was ich euch sage, damit eure Exerzitien gut und fruchtbar sind. Amen.