Exerzitienvorträge für die Oblatinnen 1885

      

1. Vortrag: Über das Ordensbewusstsein

Dienstag, 1. September 1885

Meine Kinder, wir müssen gute Exerzitien machen, Exerzitien, die dazu dienen, die Fehler des Jahres wieder gut zu machen, in der Gnade Gottes wiederzuerlangen, was wir aus Nachlässigkeit verloren haben konnten, wiederzuerlangen, was uns der liebe Gott in diesem Jahr schenken wollte für uns und für die anderen, und das wir mangels guter Anlagen nicht erhalten haben.
Wir müssen uns auch darauf vorbereiten, das nächste Jahr besser zu verbringen, als wir dieses verbrachten, denn man kann nicht stehen bleiben. Das Leben wird mit einem Fluss verglichen, auf dem wir schwimmen. Wenn wir nicht rudern, zieht uns die Strömung mit und führt uns hinab. Wir werden also im nächsten Jahr die verlorene Zeit einholen müssen, damit wir flussaufwärts fahren können und gegen die Strömung der Schwächen, der Versuchungen, des Mangels an Glauben und Mut kämpfen. Macht euch daran, meine Kinder, aber sehr ernsthaft. Die Jahre folgen aufeinander und gleichen sich nicht, sagt ein Sprichwort. Macht, dass dieses Sprichwort für euch wahr ist. Ihr wisst, was ihr gewesen seid, was ihr seid. Wenn ihr nicht daran arbeitet, besser zu werden, werdet ihr da bleiben … oder eher den Hang hinabsteigen und ihr müsst alle die Lauheit verlassen, in der ihr seid, alle, hört gut. Das mittel, das euch der liebe Gott dazu gibt, sind die Exerzitien. Man muss sie sehr ernsthaft machen, als ob sie die letzten eures Lebens sein sollten. Wer versichert euch nämlich, dass sie nicht tatsächlich für euch die letzten sein werden? Man muss sie also sehr vollständig, sehr ernsthaft machen, damit die Vergangenheit verbessert und die Zukunft vorbereitet wird.
Die Exerzitien sind immer für die gut und nützlich, die sie machen. Aber ihr, meine Kinder, braucht mehr als irgendjemand sonst. Wir beginnen die Kongregation, und wenn man beginnt, hat man immer mehr Schwung als später. Der Vogel, der sich in die Lüfte erhebt, fliegt zuerst schnell, dann ermüdet er. Wohlan! Meine Kinder, wenn jetzt der Schwung eurer Seele nicht größer ist, als er ist, was wird später aus uns? Wenn dieses minuite (lateinisch: „werdet kleiner, werdet schwächer“) kommt, was wird bleiben?
Wir beginnen diese Exerzitien mit dieser Bemerkung, die von größter Wichtigkeit ist. Im Allgemeinen haben wir nicht genug Bewusstsein, unsere Fehler bekümmern uns nicht sehr, unsere Verfehlungen bemerken wir kaum. Die kleinen Treulosigkeiten sind nichts für uns, die mittelmäßigen nichts Großes, die großen allein berühren uns. Da liegt unser Fehler, unsere Schwäche. Ist es nicht ein sehr schwerer Vorwurf, den man einer frommen Seele machen kann, dass ihr das Bewusstsein fehlt? Ohne Zweifel, aber ich zögere nicht, es euch zu sagen – um die Frage wohl an den Beginn der Exerzitien zu stellen, - fromme Seelen, es fehlt euch an Bewusstsein in dem Sinne, dass die kleinen Fehler, die kleinen Verfehlungen keinen tiefen Eindruck auf euch machen.
Der heilige Aloisius von Gonzaga (1568-1591) zerfloss in Tränen wegen der kleinsten Fehler. Ist es, weil er ein Kind mit schwachem Charakter war, das sich gehen ließ, für ein Nichts Tränen zu vergießen? Nein, es ist, weil er das zarte Gewissen hatte, wie eine Nonne es haben sollte, das Gewissen dessen, der liebt. Er liebte unseren Herrn, er fürchtete, ihn zu betrüben, er erinnerte sich an alle Gnaden, alle Liebesbeweise, die er empfangen hatte, und er weinte heiße Tränen bei dem Gedanken, einen so guten, so väterlichen Gott beleidigt zu haben. In seinem Herzen war Betrübnis und Schluchzen bei der Erinnerung an seine Fehler, weil er Gott liebte. Ah! Wenn ihr ihn so lieben würdet, würdet ihr die kleinsten Verfehlungen fürchten, ihr wäret deshalb betrübt, nicht wie man durch Skrupel fürchtet und betrübt ist, o nein! Übrigens kennen wir Gott sei Dank die Skrupel kaum, die von einer Ermüdung des Geistes kommen, der die Dinge nicht gut kennt, aber sie kommen nie vom Herz. Es ist so schön, ein kleines Kind zu sehen, das seine Mutter beleidigt hat, und das deshalb großen Schmerz empfindet. Dieser Schmerz kommt von Herzen, während die Skrupel eine Schwäche des Geistes sind. Eine Nonne darf nicht skrupelhaft sein, weil die Führung der Ordensregel, der Novizenmeisterin, der Oberin und vor allem des Beichtvaters da ist, um zu verhindern, in diese Fehler zu verfallen.
Also, meine Kinder, keine Skrupel, aber eine aufrichtige Reue. Für den heilige Aloisius von Gonzaga, für alle Heiligen im Allgemeinen ist das Prinzip ihres Schmerzes bei der Erinnerung an ihre Fehler die Liebe zu Gott. Diese Seelen fürchten, außerhalb der heiligen Gottesliebe zu sein, der Ausstrahlung seines göttlichen Herzens!
Achtet also sehr darauf, meine Kinder. Ihr liebt unseren Herrn nicht, wie ihr ihn lieben solltet. Ich sage es euch, es tut mir zutiefst weh zu sehen, dass die Gemeinschaft unseres Herrn nicht genug liebt. Ich mache euch keine Vorwürfe, aber ich prangere etwas sehr Bedauernswertes an, das ich während der Exerzitien verschwinden sehen will. Bei uns ist nicht die nötige Menge der Gottesliebe, um ein großes Werk zu beginnen. Seht, am Anfang der Heimsuchung waren da keine Seelen, die außergewöhnliche Wege hatten? Und in der ersten Zeit wurde die Heimsuchung sehr geprüft, ich kann sogar sagen, dass ihr Beginn sehr schwierig, sehr mühsam war. Aber andererseits, wenn ich die Abhandlung über die Gottesliebe (Theotimus) nehme und den heiligen Franz von Sales frage, was ihm dieses so schöne Werk eingab, wird er sagen: „Es sind die Gespräche, die ich mit meinen ersten Töchtern führte.“ Das ist aus diesen Gesprächen hervorgegangen, es ist eine Quelle lebendigen Wassers, die bis zum ewigen Leben quillt. Es ist eine Goldmine, eine Diamantenmine, die der heilige Gründer im Herzen seiner Töchter fand. Und wenn die Heimsuchung jetzt so eifrig ist, so ist es, weil sie sich auf diese feste Grundlage stützt, die ihre ersten Mütter legten. Ihr werdet mir sagen: „Das war für sie leichter als für uns, sie hatten die Klausur.“ Nein, meine Kinder, als der heilige Franz von Sales die Gründung vornahm nannte er sie Oblatinnen der Heimsuchung Mariä, denn er wollte, dass sie sich den Werken des Apostolates widmen. Es sind keine klausurierten Nonnen wie die Karmelitinnen, die Benediktinerinnen“, schrieb er dem Kardinal Robert Bellarmin (1542-1621), „es sind Oblatinnen.“
Während dieser Exerzitien müsst ihr diesen Brunnen der Gottesliebe erhalten, der für die ersten Heimsuchungsschwestern charakteristisch war. Jeden Morgen bei der Heiligen Messe werde ich unseren Herrn bitten, er möge euren Herzen die Tugend seines kostbaren Blutes verleihen, die Größe seiner Liebe zu euch fühlen lassen, dann werdet ihr Angst haben, gegen das Direktorium zu fehlen, ihr werdet Angst haben, gegen die Ordensregeln zu fehlen, ihr werdet Angst haben, gegen das Schweigen, den Gehorsam, die Liebe zu fehlen. „Es ist sehr hinderlich“, werdet ihr sagen, „sich so ständig zu unterwerfen.“ Ich stimme zu, aber – ich kann es euch hier eingestehen – alles, was ich in meinem Leben gemacht habe, habe ich nur mit größten Hindernissen gemacht. So war ich während der Zeit im Priesterseminar – ja, ich kann euch das wohl sagen – beeinträchtigt, ich war wie in einem Netz gefangen, ich fühlte mich weder drinnen noch draußen frei, da ich immer unter der Gewicht der dortigen Regeln stand. Ich sage nicht, dass ich da immer eine Gelegenheit finden konnte, Tugendakte zu machen. Oft war es für mich sogar eine Gelegenheit zu Fehlern, aber dennoch erwies mit der liebe Gott eine große Gnade, denn es ist der Verdienst des priesterlichen Lebens und mehr noch des Ordenslebens immer unter dem Gewicht der Verpflichtungen zu sein, die von der Pflicht und der Ordensregel auferlegt werden. Das, meine Kinder, ist es Nonne zu sein. Wenn ihr euch nicht diesem Gesetz entzieht, liebt ihr unseren Herrn mit einer einmaligen, vollkommenen Liebe, liegt ihr ihn mehr als euch selbst. Ihr stellt immer ihn, sein Wohlgefallen voran, aber nie eure Befriedigung, nie euch! Also werdet ihr ein Bewusstsein haben, werdet die geringsten Verfehlungen fürchten. Ich will euch nicht erschrecken, aber ich wäre in Schrecken versetzt vom Urteil einer Nonne, die ohne diesen Zwang, ohne diese gewohnheitsmäßige Behinderung gelebt hätte. Unser Herr würde ihr sagen: „Ich kenne dich nicht, ich weiß nicht, wer du bist.“
Meine Kinder, machen wir also sehr gute Exerzitien, um zu lernen, unseren Herrn zu lieben, um immer sein Joch zu tragen. Das Joch des Herrn ist süß und leicht, aber dennoch muss es immer auf unseren Schultern lasten, sonst wären wir nicht mehr in unserer Berufung. Aber es ist hart! … O meine Kinder, wenn man ein wenig davon gekostet hat, sagt man: „Herr, gib mir im Paradies nichts anderes.“ Das ist die Frucht der Treue, die Frucht der Zartheit des Gewissens.
Die Gute Mutter [Marie de Sales Chappuis] war bewundernswert in dieser Zartheit des Gewissens. Wenn sie etwas Schmerzliches überkam, war sie wie ein Kind ganz erstaunt. Wenn sie dann nicht sogleich eingestimmt hatte, wenn sie eine Sekunde gezögert hatte, denn nie dauerte ihr Zögern länger als eine Minute, verlangte sie zu beichten. „Ich habe den Heiland nicht verstanden, ich habe gezögert,“ sagte sie, „ich habe betrachtet, ich kann so nicht bleiben, ich würde es nicht wagen, ihn morgen zu empfangen, geben sie mir die Absolution.“ So verstehe ich eine Nonne. Aber eine Nonne, die eine Untreue schluckt, wie man ein Glas Wasser schluckt, da weiß ich nicht, was so eine Nonne ist.
Ihr müsst euch also ernsthaft mit eurem Ordensleben beschäftigen. Und werdet ihr deshalb euren Geist ermüden, euch Außergewöhnliches einbilden? O, nein. Was habt ihr also in diesem Augenblick zu tun? Kümmert euch nicht um die Vergangenheit, die ihr durch eine gute Beichte gut machen werdet, haltet euch an den Gehorsam, an das Direktorium, an die Liebe des Heilands. Ihr braucht nicht allen Verfehlungen eures Lebens nachzulaufen, das ist nicht die Medizin, das Mittel, eure Seelen zu heilen. Seht sie nur an, um sie anzuklagen, aber ohne Mühe. Ein Kranker, der zu genesen beginnt, analysiert nicht eine Genesung nach der anderen gemäß aller Schmerzen, die er empfand. Er denkt nicht gerne daran, aber er nimmt nach und nach wieder Leben an und gelangt so zur vollständigen Heilung. Ihr müsst es in gleicher Weise machen, meine Kinder, das ist ganz klar.
Wir werden also den lieben Gott vor allem um ein zartes Gewissen bitten, ein Gewissen, das fürchtet, ihn zu beleidigen, und dieses Gewissen wird die Liebe zu Gott vergrößern. Bitten wir auch, dass in der Gemeinschaft eine so gute Grundlage besteht, dass man dort die Gnade findet, die genügt, um es fest in den Ordenstugenden zu begründen. Eine neue Kongregation ist ein neues Feld im Gebiet des Familienvaters. Wer wird also diesen Boden, diese Erde bewirtschaften? Ihr, und keine anderen, ihr beginnt, ihr macht urbar. Beginnen wir also heute Abend damit, einen guten Vorsatz zu fassen, und bitten wir unseren Herrn uns zu segnen.
Nach seiner Auferstehung erschien unser Herr eines Tages seinen Aposteln am Ufer des Sees von Genezaret, wendete sich an Petrus und fragte ihn (vgl. Joh 21,15-23): Petrus, liebst du mich? Der Apostel antwortet: Ja, Herr, ich liebe dich. Jesus sagte wieder: Petrus, liebst du mich?? – Herr, du weißt wohl, dass ich dich liebe. Und ein drittes Mal wiederholte der Heiland seine Frage: Petrus, liebst du mich? Und da antwortete der betrübte Apostel: Herr, du weißt alles, du weißt also auch, wie sehr ich die liebe. Das sagte Petrus und unser Herr sagte zu ihm: „Weide meine Lämmer, weide meine Schafe, Petrus, du liebst mich, mache, dass mich auch die lieben, die in das Leben eintreten, die schon der Kindheit entwachsen sind, die im reifen Alter und sogar im Alter angelangt sind.“ Und macht auch ihr, meine Kinder, dass unser Herr von den Kindern, den Mädchen und allen Seelen, zu denen euch Gott schicken wird, geliebt wird. Aber was braucht man dazu? Hört die Frage, die unser Herr dem heiligen Petrus stellt: „Liebst du mich?“ Seid ihr imstande zu antworten, was der Apostel geantwortet hat? Habt ihr in eurem Herzen dreimal zu antworten: Du weißt alles, Herr, du weißt, dass ich dich liebe? Petrus fordert unseren Herrn heraus, trotz seiner göttlichen Weisheit einen Beweis zu finden, dass er ihn nicht liebe, so glühend, so aufrichtig war seine Liebe!
Bitten wir wohl den heiligen Petrus, in unsere Seele eine Liebe zu gießen, die genügt, um ebenfalls diese dreifache Kundgebung zu machen. Nun werde ich euch nicht mehr schelten, ich werde euch nicht mehr sagen, dass ihr zum Heiland nicht zart seid. Er ist selbst so zart, der Heiland! Die Gute Mutter Marie de Sales [Chappuis] sagte es oft. Und er ist es vor allem zu euch, weil er euch geliebt und erwählt hat, um ihn wirkungsvoller als andere beliebt zu machen. Dafür lebt ihr.
„Herr Jesus, in diesem Augenblick sind wir zu deinen Füßen. O, frag uns nicht, ob wir dich lieben. Der Schmerz und die Scham würden uns den Mund verschließen. Herr, ich habe mir manchmal eingebildet, dass ich dich liebe, aber ich habe mich geirrt! Frag mich nicht, ob ich dich geliebt habe, frag mich nicht, ob ich die liebe, aber frag mich, ob ich dich lieben werde und lege deine Liebe vor allem in mein Herz! Dafür schenke ich dir in diesem Augenblick mein Herz. Möge ich es nie zurücknehmen! Mein Herz gehört dir. Dein ist auch mein ganzes Leben, all mein Wollen, alle meine Gedanken, alle meine Wünsche! Ja, Herr Jesus, ich will dich genug lieben, um zu fürchten, dein Herz durch den kleinsten Fehler zu verletzen. Ach, so sei es! Amen. Amen! Alleluja, Alleluja. Und weil es das liebste Versprechen an dein Herz ist, gebe ich es dir, Herr, zu Beginn dieser Exerzitien.“ Amen.