Exerzitienvorträge für die Oblatinnen 1885

      

13. Vortrag: Tag der Professfeier. Das Glück des Ordenslebens

Dienstag Vormittag, 8. September 1885

Meine lieben Kinder, ihr seid sehr glücklich, vom lieben Gott erwählt worden zu sein, erwählt aus Tausenden, um seine Bevorzugten, seine Gemahlinnen zu werden. Der Teil, den er euch zuordnet, ist sicher der beste. Mit all seiner Macht konnte er nicht mehr für euch tun. Was könnte er denn mehr tun? Wäre er freigebiger zu euch, wenn er statt der Jungfrauenkrone ein Diadem einer Königin, einer Kaiserin auf eure Stirn setzen würde? O, nein, denn diese Diademe sind äußerliche Kronen aus Gold und Edelsteinen, aber innerlich sind es Kronen aus Dornen, die sehr viele Tränen vergießen lassen, Kronen, die kaum Besitz irdischer Königreiche sichern und manchmal nicht viel des himmlischen Königreiches. Während ihr euch heute durch die Profess Gott schenkt und er sich euch schenkt, ist es ein gegenseitiger Vertrag, und wenn Gott sich euch ganz hingibt, gibt er euch alles. Das ist nichts mehr in seinen Tresoren, bei seinen Reichtümern, das nicht auch euch gehört.
Ich wiederhole es: Was könnte er euch Besseres geben!! Meine Kinder, das sind keine sinnlosen Worte und Phrasen. Es sind tiefe Wahrheiten, handgreifliche, euer Anteil ist um vieles besser. Was sagt man in der Welt über eure Besitztümer? Man sagt, dass ihr alles andere verlässt, aber was verlasst ihr eigentlich? Illusionen und Träume, Vermögen, Güter der Erde. Was ist das schon? Ist man sicher, diese immer zu behalten, wenn man sie besitzt? Und wenn man sie euch nimmt, welche Sorgen, um zu versuchen, wieder welche zu erwerben. Es ist also eine Ursache für Verwirrung und Sorge und keine Quelle des Glücks. Ihr verlasst wieder, meine Kinder, den Schoß der Familie. Ihr verlasst einen Vater, eine Mutter, Geschwister. Und das ist ein wahres und großes Opfer, ein tiefer Schmerz, für den es keinen Trost gibt. Ich habe sehr heilige Seelen gesehen, die nachdem sie lange Jahre im Kloster verbracht hatten, noch immer eine Träne, ein Schluchzen hatten, wenn sie an ihre Familie dachten. Ich kann euch unter anderem unsere verehrte Gute Mutter Marie de Sales Chappuis anführen. Aber für dieses Opfer wird euch der liebe Gott reichlich belohnen. Und da eure Familien ihren großen Anteil daran hatten, indem sie euch gehen ließen, belohnt er sie auch durch die Versicherung dafür, dass er ihnen von eurem Glück gibt. Diese Versicherung ist sehr viel größer, als wenn ihr eure Eltern verlassen würdet, um euch in der Welt niederzulassen.
Ist man sich in unserer Zeit der Umstürze des nächsten Tages sicher? Ist man sich selbst des Daches sicher, unter dem man Schutz suchen wird? Ich spreche nicht von den großen Persönlichkeiten, von denen, die an der Spitze von Königreichen und Republiken stehen, die von der Gnade aller politischen Umstürze abhängig sind, ich spreche von den Familien, die wie eure kaum nur die privaten Unglücksfälle fürchten müssen. Ist bei einer Heirat ein Mädchen nicht immer in ihrem Inneren dem Gefühl ausgesetzt, den Gegenschlag der Erschütterungen zu erleiden, die durch die heutzutage in der Welt so verbreiteten Irrtümer der Gesellschaft aufgeprägt sind? Kann sie sich des unbesiegbaren Glaubens an ihren Gatten mitten in den heute immerzu steigenden Fluten des Vergessens und der Untreue immer sicher sein?
Also hat, meine Kinder, eure Familie, wenn sie sieht, wie ihr euch entfernt und euch das Lebewohl der endgültigen Trennung sagt, nicht die Befürchtungen, die sie haben könnte, wenn ihr euch in der Welt niederlassen würdet. Die Trennung ist also weniger vollständig, denn schließlich bleibt das Herz der Nonne für ihren Vater, ihre Mutter und ihre Geschwister immer dasselbe. Glaubt ihr, dass ihre Zuneigung weniger lebendig, weniger tief sein wird als in der Vergangenheit? O, nein! Je mehr sich ihr Herz Gott nähern wird, desto stärker und glühender wird die Liebe zur Familie werden. Eine Nonne hat schließlich mehr Zuneigung zu den Ihren, als wenn sie verheiratet wäre. Ihr Herz ist nicht geteilt, es bleibt für ihre Familie, was es immer war. Dieses Herz, die Wonne ihres Vaters, dieses Herz, an dem er sich erfreute, ist nicht verändert, sondern es ist eher etwas mehr von ihm. Da ist der Hauch des Heiligen Geistes, der ihre kindliche Liebe zärtlicher und stärker macht. Meine Kinder, ihr seht es, indem ihr eure Verwandten verlasst, erlegt ihr ihnen kein Opfer auf, das so schwer ist, als wenn ihr sie verlassen würdet, um eure Hand eine Fremden zu reichen, der wie ich zugebe, bald nicht mehr sein wird, der es aber bis dahin war.
Das Leben, das ihr nun aufnehmen werdet, hat wohl auch seinen Teil Glück, das ich nicht mit den irdischen Freuden vergleiche. Denn die Wonnen der Erde sind nicht ohne Rückschläge. Es sind Schatten auf der Tafel und Bitterkeit am Grunde des Bechers. Die Heimsuchung lauert überall, das Leben ist schwer, es ist eine Last für alle Kinder Adams. Aber für euch ist es nicht so belastend. Die Sorge, sich das Lebensnotwendige zu verschaffen, ist euch unbekannt. Die Angst um das Vermögen, die Verwirrungen des Luxus, die Tyrannei der Mode, die Angst vor der Armut, all das bleibt euch erspart. Gott verlangt von euch nur eines: euer Herz. „Meine Tochter, schenke mir dein Herz.“ Und nun wird euch alles gut und leicht. O süßer Augenblick! O glückseliges Leben!
Der heilige Franz von Sales vergleicht das Ordensleben mit der Lilie. „Die Lilie“, sagt er, „setzt sich aus mehreren Blättern zusammen, einem starken und schlanken Stil und einer gewissen Zahl von Blütenblättern, aber alle diese Teile bilden eine einzige Lilie. Ebenso bilden alle Verpflichtungen des Ordenslebens in ihrer Gesamtheit nur eine einzige Lilie, die Lilie der göttlichen Liebe, eine wohlduftende Lilie, deren Geruch alle umschwebt, die sich ihr nähern.“ Das wird euer Leben sein, meine Kinder. Wenn ihr euch dem Gehorsam unterwerft, wisst ihr ohne Zweifel, dass ihr dort auf Heimsuchungen stoßen werdet. Aber der Ordensgehorsam ist ein sanfter Gehorsam, da er keine Eigenwilligkeiten und wechselnden Launen der Person unterworfen ist, die befiehlt. Er ist sehr offenbar, sehr entschieden. Ihr wisst durch euer kleines Buch des Geistlichen Direktoriums, was ihr zu tun habt. Am Tag der Profess sagt ihr Gott: „Ich nehme dieses kleine Buch und alles, was es einschließt, an.“ Niemand ist also freier als ihr. Ihr wisst im Vorhinein, was ihr auf euch nehmt und keine Person auf der Welt kann euch etwas Weiteres auferlegen. Der einzige Punkt, der in eure Leben schwierig scheint, war der, aber er verschwindet so und schmilzt und schmilzt im großen Grundsatz der göttlichen Liebe.
Das, meine Kinder, ist das Glück des Lebens, das ihr heute annehmt. Versuche ich zufällig, es zu verschönern? Nein, ich sage euch die genaue Wahrheit: es gibt im Ordensleben Freuden, die man sonst nirgends finden kann. Der Himmel öffnet sich für die Gottgeweihte Seele. Unser Herr lädt sie selbst zu seiner Liebe ein, enthüllt ihr seine göttlichen Vollkommenheiten, gibt ihr einen Vorgeschmack des Glücks der Erwählten. Ist das eine Illusion? Nein, denn der heilige Paulus sagt, dass der Glaube die Substanz ist, die Grundlage der Dinge, auf die man hofft. Indem sie den Himmel erahnt, besitzt sie ihn schon irgendwie. Das ist das von Gott zugesicherte Glück nicht nur der sehr vollkommenen Nonne, der großen Heiligen, sondern jeder guten Nonne, die machen will, was ihr befohlen wird, und sich der Aufgabe widmet, die ihr anvertraut ist.
Meine Kinder, ich war vor langer Zeit Zeuge beim Tod einer sehr heiligen Nonne, der Mutter Oberin Paul Séraphine Laurent. Sie war lange Oberin der Heimsuchung von Troyes. Es war eine sehr geprüfte Seele. Ihr Mutter sagte oft zu ihr: „Du hast wahrlich den Charakter eines Mannes.“ Sie besaß eine bemerkenswerte Intelligenz, einen seltenen Gerechtigkeitsblick und damit hatte sie alle Lieblichkeit, alle Anmut einer Frau. Während ihres Ordenslebens brachte sie die Tätigkeit ihres Geistes dazu zu glauben, dass sie nicht mache, was gemacht werden müsse, sie verneinte sich sehr unter den Verpflichtungen ihrer Berufung und sagte, dass Gott sich geirrt habe, dass er sicher eine andere hätte rufen wollen. Im Augenblick des Todes hob sie den Kopf und sagte zu mir: „Mein Vater, unser Herr hat jenen, die ihren Vater, ihre Mutter und ihre Güter verlassen, um ihm zu folgen, das Hundertfache auf Erden und später im Himmel versprochen, aber ich muss in Gegenwart aller unserer Mitschwestern bekennen, dass er mir nicht das Hundertfache gegeben hat, sondern unendlich mehr. Er hat mich so mit Gnaden überhäuft, dass man sagen kann, er hat mir das Hundertfache vom Hundertfachen gegeben. Seine Freigebigkeit war unendlich.“ Das, meine Kinder, ist ein Zeugnis, von dem ich tief gerührt war. Diese Frau wollte mit großen Schritten auf dem Weg der Heiligkeit voranschreiten und sie kam tatsächlich weiter, aber sie fand in der Natur ihres Geistes eine ständige Quelle zu Kampf und Leiden. Und trotz dieses mühevollen Lebens bekennt sie im Augenblick des Todes, dass Gott ihr hundert Mal mehr Gnaden gab, als er ihr versprochen hatte.
Habt auch ihr, meine Kinder, dieses Ziel, seid großmütig und im Augenblick des Todes werdet ihr wie diese heilige Nonne sagen: „Herr, du hattest mir das Hundertfache versprochen, aber du hast mir sehr viel mehr gegeben.“ Amen.