12. Vortrag: Über die Liebe
Montag, 7. September 1885
Meine Kinder, heute ist der letzte Tag der Exerzitien. Vielleicht sollten wir einige Vorbereitungen für die morgige Zeremonie treffen. Außerdem seid ihr ausgesetzt, die innere Sammlung, die Gegenwart Gottes zu verlieren, da ihr aus der Bewegung herauskommt, in der ihr während der ganzen geistlichen Einsamkeit der letzten Tage gewesen seid. Man muss also heute gut über euch wachen, um in eurer Seele die Gabe Gottes zu bewahren, die Gnaden, die er euch in diesen Tagen zuteilwerden ließ. Denen, die am Tag einen Anlass zur Zerstreuung hätten, rate ich, sich ganz besonders bei der Übung ihres Geistlichen Direktoriums zu bemühen. Wir sind sehr glücklich, meine Kinder, denn selbst wenn unsere Ordensübungen verwirrt, gestört würden, würde mit unserem Direktorium unser Ordensleben nichts davon verspüren. Wir haben die Beobachtung unserer Ordensregeln in uns, wir tragen unsere Ordensregeln in unseren Herzen. Und wie der Apostel sagt, haben wir sie nicht nur auf Steinplatten geschrieben, sondern auf den Grund unserer Seelen eingraviert. Das ist der Vorteil, zur Familie des heiligen Franz von Sales zu gehören. Man trägt in seinem Herzen das Gesetz der Liebe, das unsere Schritte lenkt, unseren Mut belebt und unsere Hoffnung festigt.
Übt also heute euer Direktorium mit der ganzen möglichen Treue und setzt eure Exerzitien fort, indem ihr überlegt, was euch entweder von mir oder vom lieben Gott gesagt wurde.
Heute Vormittag, meine Kinder, muss ich mich mit euch über die Liebe unterhalten. Ich danke Gott für die Quelle der Liebe, die es in der Kongregation gibt. Sicher gibt es bei euch keine Antipathie, keine begründeten Gefühle gegen den Nächsten. Ihr alle liebt einander, ihr werdet geliebt, ihr seid geeint, aber es gibt noch einiges zu tun. In einer Familie, vor allem, wenn sie christlich ist, hat man einander gern, es kommen jedoch manchmal Streitereien vor, man kann sich sogar ernsthaft ärgern, aber diese Wirrnisse dauern nicht lange. Es sind unvermeidliche Reisezwischenfälle, wenn man einen langen Weg gemeinsam bewältigen muss. In einer Familie kann das passieren, aber in einer Gemeinschaft dürfen diese Zwischenfälle nicht vorkommen. Jede muss es auf sich nehmen, dass diese Charakterschwierigkeiten nicht auftreten. Jede muss wachsam sein, ihr Herz in den Händen halten, damit man sich in den ein wenig heiklen Umständen nicht aneinander stößt.
Wenn es vorkommt, dass man sich zu einer Regung des Ärgers oder der Ungeduld hinreißen lässt, muss man sogleich die Ordensregel üben. Ich glaube, dass man da im Allgemeinen treu ist. Ich bin glücklich darüber und lobe Gott dafür. Es ist ein Beweis, dass ihr den aufrichtigen Wunsch habt, liebevoll zu sein. Aber es gibt eine Art Mangel an Liebe, auf die ich eure Aufmerksamkeit lenke, weil es mir scheint, dass ihr in diesem Punkt Fortschritte machen müsst.
So wie ich gestern sagte, fehlt man ziemlich leicht aus Geschwätzigkeit gegen diese Tugend, indem ohne Hass und Bitterkeit gewisse Dinge gegen den Nächsten erzählt werden. Wenn ich man sage, will ich nicht von jedermann sprechen, klage ich nicht jedermann an, aber ich glaube, dass da jede eine Umkehr, eine Prüfung darüber zu machen hat. Man fehlt also aus Schwatzhaftigkeit, wenn man diese oder jene Tatsache bekannt macht, auch wenn dies nicht gerade schlecht, aber doch wenigstens schwatzhaft ist. Man erlaubt sich, das Verhalten der anderen zu beurteilen. Man sagt nichts Ungeheures, aber es ist etwas in der Ausdrucksweise, das durchhören lässt, man ist selbst ziemlich gut, und die Schwester, über die man spricht, ist nicht wie wir. Dieser Mangel an Nächstenliebe kommt von der Eigenliebe. Ihr betrachtet euch selbst, ihr missfällt euch nicht und ihr findet, dass diese oder jene Schwester nicht so begabt ist wie ihr. Ihr sagt es nicht, aber eigentlich denkt ihr es. Die Eigenliebe in euch, die euch so sprechen lässt, lässt euch von der geraden Linie abweichen, das heißt vom Weg der Wahrheit und der Gerechtigkeit. Übrigens lässt jede Leidenschaft von der geraden Linie abweichen. Deshalb muss man gut über sich wachen und fürchten, den Nächsten durch diese Art von wenig liebevollen Gesprächen schlecht zu erbauen. Ich erinnere mich, dass mich ein alter Ordensmann äußerst entrüstet hat. Er trifft mich eines Tages, kommt auf mich zu, nimmt meine Hände und sagt mir: „O, sie erinnern sich an diesen und jenen. Sie sind sehr, sehr sonderbar, sehr eigentümlich.“ Und er beginnt zu mir über diese mit einem so bitteren Gefühl zu reden, dass ich mir sagte: „Ist es der Mühe wert, ein alter Ordensmann zu sein und derartige Dinge zu sagen.“ Ich wurde davon äußerst verletzt.
Es verletzt nämlich sehr zu sehen, dass es einem Ordensmann an Liebe fehlt. Das bringt das Ordensleben in Verruf und zerstört die Achtung, die es natürlicherweise einflößt. Gebt also gut Acht, meine Kinder, und erinnert euch daran, dass es einer Ordensschwester schlecht bekommt, wenn sie in euch dieses Gefühl der Bitterkeit findet. Manchmal ist man ungeduldig, man ist am Ende, man kann nicht mehr und muss abladen. Ich gestatte, es bei der Hausoberin, der Novizenmeisterin oder Generaloberin zu tun. Sagt ihnen alles, was ihr möchtet. Dennoch sollte man nicht zu unbußfertig sein, aber es wäre mir noch lieber, dass ihr in dieser Hinsicht unbußfertig seid als zu sehen, dass ihr in der Liebe zueinander fehlt.
Vermeidet es also gut, eure Gefühle über die eine oder andere auszusprechen. Ich glaube nicht, dass es bei euch so starke Abneigungen gibt, dass man nicht zusammenleben kann, dass man allen die von jener Schwester vorgebrachten Worte wiederholt, dass man alles zerstört, was sie gemacht hat. Nein, das gibt es Gott sei Dank nicht. Wenn es jedoch einer von euch passiert wäre, ernstlich gegen die Liebe zu fehlen, indem sie über eine Schwester unvorteilhaftes sagte, ihre Seinsweise schlecht auslegte, so möge sie darauf achten, nicht mehr in diese Fehler zu verfallen und in dieser Hinsicht während der Exerzitien einen guten Vorsatz fassen.
Sagt auch nicht: „Die Schwestern von da oder dort sind so, sie haben diese oder jene Seinsart …“ Macht keine Unterschiede zwischen den Provinzen, den Nationen. O nein! Seid nur ein Herz und eine Seele. Ihr habt dieselbe Mutter, die Generaloberin, dasselbe Vaterland, den Himmel. Ihr esst das gleiche Brot, ihr habt die gleiche Kleidung, ihr seid alle Schwestern, es muss unter euch ein einziges Gefühl herrschen. Ich glaube, dass ihr im Allgemeinen in dieser Hinsicht nicht viel fehlt, und obgleich diese mangelhafte Art nicht die der Kongregation ist, gibt es dennoch einige Schwestern, die in diesem Punkt die Ordensregel nicht genug beachten. Ich gebe hier jeder einen Befehl, derjenigen, die gegen die Liebe fehlen würde, zu sagen: „Meine Schwester, sie vergessen sich.“ Und die, die diesen Fehler begangen hat, wird ihre Schuld bekennen müssen. „Der Herr“, steht es geschrieben, „hat euch mit der Seele eures Bruders beauftragt.“ Ich beauftrage euch also mit der Seele eurer Schwestern. Macht so die geschwisterliche Korrektur, denn ich hoffe sehr, dass sich zwei Oblatinnen nie darin ein sind, gegen die Liebe, den Gehorsam zu reden. Ich hoffe, dass zwei Schwestern, die diese Neigung haben, nie versuchen werden, einander zu begegnen und miteinander zu sprechen.
Ich zögere fast, euch mitzuteilen, was der heilige Bernhard von Clairvaux seinen Novizen diesbezüglich sagte. Er, der mit so erlesenen Worten vom Ordensleben und den Dingen des Himmels sprach, drückt sich so erschreckend aus, als er sich bemühte, seinen Ordensleuten, die einander trafen, um gegen den Nächsten zu reden, diese Worte der Heiligen Schrift zu sagen: „Die geheimen Treffen der Bösen sind des Teufels. Ebenso wie die Friedensengel die Herzen zu Lob, Frieden und Segnungen vereinen, vereinen die Engel der Finsternis und des Bösen sich zu Fluch, Verderben, zur Gotteslästerung.“
„Und ihr glaubt“, sagt er wieder, „dass zwei Ordensleute, die so übereinkamen, einander in den himmlischen Gefilden treffen werden? Ich glaube, der liebe Gott wird wenigstens einen davon lange im Fegefeuer zurückhalten, damit sie im Paradies nicht zusammenkommen können, und wenn sich diese Gewohnheit einwurzeln kann, wenn dieser Niedergang in ihren Herzen mehr wird, wer weiß, ob dies nicht der Anfang ihres ewigen Niederganges sein wird.“
Das, meine Kinder, sagte der heilige Bernhard über diese falschen und gefährlichen Freundschaften, die von dem Bedürfnis kommen, sich einander zu nähern, um gegen die Liebe und den Gehorsam zu reden. Ich weiß nicht, ob ich es wagen werde, euch zu berichten, was er hinzufügt, so stark ist es. Aber die Heiligen verstanden die Schwere dieser Art von Fehlern besser als wir. Der heilige Bernhard geht also so weit zu sagen, dass diejenigen, die so reden, wahre Vipern sind. „Habt ihr“, sagte er, „im Claire-Vallée die Viper mit dem giftigen Biss nicht gesehen? Sie sind sogar zu ihresgleichen böse und manchmal stürzt sie sich auf sie und beißt sie. Doch die Vipern töten sich nicht untereinander, wenn sie aber die Menschen und die anderen Tiere beißen, ist die Verletzung tödlich. Diese beiden Ordensleute, die einander suchen, um gegen die Liebe zu reden, können manchmal streiten, einander beißen, aber ihre Vertrautheit ist nicht von langer Dauer. Sie kommen immer dann und wann zusammen, um weiterhin den Nächsten zu zerfleischen, doch wenn sie die anderen beißen, ist die Verletzung tödlich, die Antipathie, die sie entstehen ließen, wird nicht mehr verschwinden.“ Das ist der Vergleich, den der heilige Bernhard verwendet, um seinen Ordensleuten die Schuldhaftigkeit jener zu zeigen, die gegen die Liebe und den Gehorsam reden.
Gott sei Dank sind dies nicht die Gewohnheiten, die unter euch herrschen. Möge der Herr euch immer im heiligen Gehorsam der Liebe halten, damit ihr in seiner Liebe wachsen und gedeihen könnt.
Der heilige Franz von Sales will, dass man sich sehr achtungsvoll mit einer großen Herzlichkeit behandelt. Übrigens, wenn ihr eure Schwester liebt, werdet ihr ehrfurchtsvoll mit ihr sprechen und dafür sorgen, ihr den Vortritt, das Wort und die Ehre abzutreten. Das empfiehlt der Apostel den ersten Christen und unser seliger Vater [Franz von Sales] den Nonnen der Heimsuchung. Meine Kinder, helft einander auch durch das Gebet. Habt diese Einheit untereinander, die macht, dass man nicht nur für sich betet, sondern für seine Mitschwester, für die, mit denen man beauftragt ist, für die, die eine übernatürliche Hilfe brauchen, für die, die versucht werden, die heimgesucht werden oder die uns Mühe gemacht haben. Macht es euch zur Gewohnheit, das zu tun, meine Kinder, damit eure Liebe vollkommen ist und ihr einander gut helft. So werdet ihr das Gemeinschaftsleben für euch und für eure Mitschwestern glücklich machen.
Der heilige Franz von Sales sagt, dass mit der Liebe alles gut und vollkommen ist. Die Einheit der Herzen ist für uns eine Stütze, eine Ermutigung, aber ohne die Liebe ist alles tot. Meine Kinder, ihr werdet also Übungen der Liebe machen. Ihr werdet diese Tugend betrachten. In der Gemeinschaft hat man die Gewohnheit, darüber ein Gelübde abzulegen. Dieses Gelübde werdet ihr nicht nur mit den Lippen aussprechen, ihr werdet es üben und ihr werdet euch erinnern, dass ihr beim Ablegen versprochen habt, eine vollkommene Liebe zum Nächsten einzuhalten. O, wenn ihr diese schöne Tugend ganz getreu einhaltet, werdet ihr in der Todesstunde glücklich sein.
Ihr könnt also ohne Zweifel die Geschichte des scheinbar wenig eifrigen Ordensmannes, der in seiner Todesstunde völlig friedlich und ruhig war. Der Obere beklagte sich: „Dieser Ordensmann war dennoch nicht sehr genau, gewöhnlich zittern unsere Patres im letzten Augenblick. Man bittet Gott, ihm die Härte dieses höchsten Augenblicks zu mildern. Aber dieser schien sich nicht zu quälen.“ Schließlich geht er zum Sterbenden und sagt zu ihm: „Wieso sind Sie so ruhig? Ihr Leben war zwar ohne Aufsehen, aber dennoch haben Sie oft gegen die Ordensregel gefehlt.“ Der Ordensmann öffnet die Augen, faltet die Hände und antwortet: „Ich vertraue auf das Erbarmen des Heilands, weil ich seit meiner Profess mich sehr bemühte, nicht gegen die Liebe zu fehlen, und ich glaube, dass es mir im Rahmen meiner schwachen Kräfte gelungen ist. Deshalb gehe ich zu Gott in der Ruhe und dem Frieden meiner Seele.“
Meine Kinder, handelt wie dieser Ordensmann und an eurem letzten Tag wird der liebe Gott die Fehler vergessen, die ihr werdet gemacht haben können, um sich nur an die Treue zu erinnern, mit der ihr euer Gelübde der Liebe erfüllt haben werdet. Amen.