Exerzitienvorträge für die Oblatinnen 1885

      

14. Vortrag: Die Aufgabe der Oblatin

Dienstag Abend, 8. September 1885

Wir lesen in der Heiligen Schrift, dass Gott eines Tages alle Engel um sich herum versammelte, die er als Aufgabe zur Erde gesendet hatte und über das Rechenschaft abzulegen, das sie gesehen hatten. Nicht, dass er sie gebraucht hätte, um es zu wissen. Aber dieser Abschnitt der heiligen Bücher beweist es uns, dass Gott sich unserer Schwäche anpasst und zwischen ihn und uns himmlische Botschafter voll Liebe stellt, die den Wunsch haben, uns Gutes zu tun und unsere Fürsprecher zu sein. Der Herr fragt also die Engel: „Habt ihr die Erde durcheilt? Habt ihr meinen Diener Ijob gesehen?“ „Ja,“ antworteten sie, „wir haben diesen hervorragenden gerechten Mann gesehen, umgeben von der Liebe und der Verehrung all jener, die ihn kennen.“
Meine Kinder, wenn Gott so seine Engel auf die Erde schickt, musste er sie heute Vormittag ganz besonders zu jeder von euch schicken. „Habt ihr“, hat er sie dann gefragt, „meine Dienerinnen gesehen, die sich soeben mir ganz geschenkt haben?“ Und dann geben ihm die um seinen Thron versammelten Engel Rechenschaft darüber, was in euren Seelen vorgegangen war. Der Herr hat sie dann ein zweites Mal mit den Worten zu euch zurückgeschickt: „Geht wieder zu ihnen, übermittelt ihnen den Ausdruck meines Willens, das Zeugnis meiner Zufriedenheit, die Gnaden, die ich ihnen vorbehalte, damit sie ihre Aufgabe erfüllen. Wenn sie beim Eintritt in das Leben einen Schutzengel bekommen haben, will ich, dass sie jetzt einen zweiten Engel bei sich haben, den Engel des Ordenslebens, um sie zu führen, zu belehren und ihnen bei allem zu helfen, das sie machen werden.“ Meine Kinder, betrachten wir ein wenig diese Worte und schauen wir auf die Quellen, die Gott euch geben wird. Geht mit der Behändigkeit der Engel schnell an die Dinge heran, die euch vorbehalten sind, die euch anvertraut wurden.
Wie groß und schön ist diese Aufgabe. Ich werde euch, meine Kinder, ein Wort darüber sagen, ehe ich das süße und trostreiche heutige Fest beende. Als Msgr. Mermillod den Schleier unserer ersten Oblatinnen übergab, erklärte er, dass er diese Gründung wollte, um dem Klerus Hilfskräfte zu geben. Ihr, meine Kinder, werdet bis zu einem gewissen Punkt machen, was die Priester machen. Ihr werdet in der Kirche eine fast priesterliche Aufgabe zu erfüllen haben. Der Priester bereitet die Kinder auf die erste Kommunion vor, auch ihr werdet sie darauf einstimmen, ihr werdet ihnen sagen: „Hier muss man gehen.“ Ihr werdet ihre Schutzengel sein unter dem milden Antlitz der Nonne, die durch die Bescheidenheit ihrer Kleidung und die Demut ihres Blickes das Herz der kleinen Mädchen gewinnt und dieses an der Hand nimmt und ihr sagt: „Schau auf diese Seite.“ Das Kind folgt gehorsam diesem Wort und was es noch nicht verstanden hatte, versteht es in der Klarheit dieses Blickes.
Welches Amt erfüllt da die Nonne! Sie bereitet diese Seele auf die Heiligkeit vor, erhellt sie, führt sie zu Gott. Diese wunderbare Aufgabe war früher der christlichen Familienmutter anvertraut, die dann im Erguss ihrer Liebe und ihrer Frömmigkeit fand, dem Kind, das ihr der Herr geschenkt hatte, das mitzuteilen, was mitzuteilen war. Sie offenbarte ihm die ersten Geheimnisse der göttlichen Liebe. In der höheren Klasse kommt das noch ziemlich oft vor. Aber eure Hingabe richtet sich vor allem auf die Arbeiterklasse, und wie viel Frömmigkeit gibt es in diesen Arbeiterfamilien, wie viele Frauen, die verstehen, was sie ihre Kinder lehren müssen und in ihrem Herzen haben, was man ihnen geben müsste? Wer wird sich also um diese jungen Seelen kümmern? Wem steht die Ehre zu, diese Kinder an der Hand zu nehmen, um sie zum Altar zu führen? Euch, meine Kinder. Es liegt in euren Händen, dass dieses Amt besonders ausgeführt wird. Der heilige Franz von Sales hat uns dafür gegründet. „O, O wer wird mir geben,“ sagte er zum Bischof von Belley, „eine Kongregation aufzustellen, die der Jugend nicht nur eine erste Erinnerung gibt, sondern vor allem eine wahrhaft übernatürliche Bildung?“ Ihr, meine Kinder, werdet diesen heiligen Wunsch erfüllen. Habt eine Frömmigkeit zu dieser schönen Aufgabe, die heute die erste Notwendigkeit ist. Geht und sät übervoll auf euren Wegen die gute Erbauung aus, die die Nonnen um sich herum verbreiten sollen.
Eines Tages sagte der heilige Franz von Assisi zum Bruder Leo: „Gehen wir predigen!“ Sie gingen beide weg und nachdem sie schweigend durch die Stadt gegangen waren, kehrten sie ins Kloster zurück. Brude Leo sagte nun zum Heiligen: „Aber wir haben nichts gesagt!“ „Waren wir nicht sehr gesammelt auf den Straßen, durch die wir gegangen sind?“ „O doch, mein Vater! Wenigstens habe ich alles gemacht, was ich konnte, um kein Ärgernis zu erregen.“ „Wohlan! Bruder Leo, wir haben wirksamer gepredigt, als wenn wir gesprochen hätten.“ Die Bescheidenheit der Nonne ist eine Predigt, die die Herzen berührt, ein sicheres Mittel, ihnen Gutes zu tun.
Noch einmal, meine Kinder, geht wie Engel schnell und inmitten durch die Welt, um Jesus allen Seelen zu geben, die ihn nicht kennen. Ich gehe hier nicht auf Einzelheiten ein, auf die Klassen, die Werke, die verschiedenen Beschäftigungen, die euch der Gehorsam anvertraut. Ihr wisst, dass alles auf das Allgemeingut der Gemeinschaft hinausläuft, und dass die einen an den Verdiensten der anderen teilnehmen. Denkt ein wenig an die Mitschwestern, die an den Küsten Afrikas sind, auf den Regen warten, der nicht kommt, und inmitten eines völlig unzivilisierten Volkes Hunger und Durst erleiden. Was machen sie? Sie flehen die Güte Gottes und sie empfehlen sich unserer Guten Mutter Marie de Sales Chappuis und die Kinder umdrängen sie. Diese armen Wilden segnen sie und lauschen glücklich den ersten Katechismusstunden. Sie mischen manchmal ihre unharmonischen Stimmen in die frommen Gesänge unserer Schwestern und das ist ein Konzert, das den Engeln Gottes gefallen soll. Es ist das ein Priestertum, dessen Wohltaten sich über euch und eure Werke ergießen. Das ist eine festgelegte Gnadengabe, deren Einsatz ihr abhebt. Es gibt da für euch einen großen Profit. Es ist eine mächtige Hilfe, um euch zu helfen, gut an euren Werken zu arbeiten. Seid also großmütig. Die Arbeit ist manchmal eintönig, die Beschäftigungen ähneln einander, die Verpflichtungen sind stets die gleichen. Wer wird also dieses einförmige Leben beleben? Das wird der Gehorsam sein. Er gibt den einfachen Tätigkeiten sehr großen Verdienst.
Meine Kinder, geht also an jede der Aufgaben, die euch der Gehorsam auferlegt, freudig und glücklich heran, denn ihr tut Gutes, wirkliches und ernsthaftes. Alle Seelen, die ihr berühren werdet, werden von Gott eine Gnade erhalten. Als sich die Kranken unserem Herrn näherten und seine Kleidung berührten, wurden sie geheilt und sagten: „Geht nicht eine Kraft von ihm aus?“ Euer Kontakt, meine Kinder, wird etwas Ähnliches hervorbringen. Ihr werdet bemerken, dass die von euch erzogenen Mädchen einen geraden, aufrichtigen, kraftvollen Charakter haben werden und dass sie wahre Christen sein werden. Alle werden an dieser Gabe unseres seligen Vaters Franz von Sales und unserer Guten Mutter Marie de Sales Chappuis teilhaben. Alle werden ein Familienzeichen, einen besonderen Charakter haben. Sie werden gut, einfach, großmütig auf Gott vertrauen und im Glauben und in der göttlichen Liebe standhaft sein.
Ihr, meine Kinder, sollte nicht euch selbst, sondern euer Ziel betrachten, nicht wo ihr seid, sondern wohin ihr geht. Folgt mit dem Blick den Engeln des Ordenslebens, damit ihr den Wunsch von Bischof Mermillod, von unserer Guten Mutter Marie de Sales Chappuis erfüllt, den Wunsch, der dem Herzen unseres seligen Vaters Franz von Sales so lieb war: „O, wer wird mir geben,“ sagt er, „eine Kongregation zu gründen, wo man das Leben von Marta mit dem von Maria vereint, wo die Schwestern ihre Arbeit für Gebet und für den Chor ihre Arbeitsstelle halten!“ O, mein heiliger Vater Franz von Sales, wenn wir die geben könnten, wenn wir deinem väterlichen Herzen die Freude bringen könnten, diesen Wunsch verwirklicht zu sehen, wären wir sehr glücklich! Dann sind wir deine Kinder. Schau uns vom hohen Himmel her an, schicke uns die Engel, die um die herum sind, mit ihnen werden wir die Erde umwandern, um Seelen für Gott zu gewinnen, bis wir in den Himmel gelangen. Wo wir das ewige Halleluja singen werden. Wir wollen aus ganzem Herzen dem entsprechen, was du von uns verlangst. Und du wirst uns die Kraft geben, es zu tun, da wir heute, morgen und für die Ewigkeit dein sein werden. Amen.

Gott sei gebenedeit!