Exerzitienvorträge für die Oblatinnen 1884

      

9. Vortrag: Das Direktorium des Göttlichen Willens

Samstag Vormittag, 13. September 1884

Meine Kinder, ich sagte euch gestern Abend, dass jede Ordensgemeinschaft sein Siegel, sein besonderes Gesicht hat, dass er ein Ziel hat, das ganz allgemein das gleiche für all ist: zur Ehre Gottes arbeiten, aber in den für jeden bestimmten Grenzen. Unser Ziel ist es, die Hilfskräfte des Klerus zu sein, dem Priestertum zu helfen. Ich sagte euch, wie ihr handeln müsst, um eurer Berufung zu entsprechen, um euer Amt würdig zu erfüllen. Ich fügte hinzu, dass es einer großen Treue bedarf, und dass es notwendig ist, um zu eurem Ziel zu gelangen, dass ihr die Mittel anwendet, die dem Priestertum angeboten werden. Ich sagte, dass die Heilige Kommunion ein sehr mächtiges Mittel sein muss, um eurem Herzen die nötige Energie zu geben. Ich sprach von der Verbindung mit dem göttlichen Willen mittels des Direktoriums. Das ist euer wesentliches Mittel, euer Mittel.
Der heilige Franz von Sales wollte euch durch goldene Ketten, durch diamantene Ketten an Gott binden. Außer dem geschriebenen Direktorium, meine Kinder, gibt es noch für jede von euch das Direktorium, das ich das Direktorium der Vorsehung, das Direktorium des Göttlichen Willens nennen werde. Außer dem, das für jedermann ist, hat jede Seele ihr Leben, ihre Kreuze, ihre Wirrnisse. Das ist unser großes Direktorium. Es ist das verschlossene Buch, das Buch mit den sieben Siegeln. Der heilige Apostel Johannes sieht in seiner Apokalypse ein verschlossenes Buch. Er weint viel, weil es niemand weder im Himmel noch auf Erden öffnen kann. In diesem Buch gibt es Glückliches und Unglückliches, Segenswünsche und Flüche. Es sind die Geheimnisse Gottes. „Ich werde viel weinen“, sagt er, „weil niemand auf der Erde und niemand im Himmel würdig war es zu öffnen.“ Nach langem Warten sah er dann das Wort Gottes, dem allein diese Macht gegeben war, und er öffnete es (vgl. Offb 5,1-14). Nun gab es dort Voraussagungen, Segnungen, Freuden und Heimsuchungen. Dieses Buch enthielt die Geheimnisse des Lebens.
Jeder von uns steht vor diesem Buch. Allein der Heiland kennt die Geheimnisse. Selbst unsere Tränen werden es nicht öffnen. Es muss der sein, der alle Macht im Himmel und auf Erden hat. Es ist auch ein Direktorium, in dem der Wille Gottes in dicken Lettern geschrieben steht. Dieses Direktorium läuft Seite für Seite, Tag für Tag, Stunde für Stunde ab. Vergeblich würde man es vor uns öffnen, wir könnten es nicht vor der bestimmten Zeit lesen. Es wäre eine unbekannte Schrift. So sah man im Festsaal gut die Hand, die die geheimnisvollen Lettern machte, aber nur Daniel konnte sie lesen (vgl. Dan 5,1-30).
Dieses Buch läuft also Stunde für Stunde ab. Da ist der Trost, das Licht, dann wird es der Nebel sein. Heute das Ausruhen, morgen das Leiden, übermorgen die Dunkelheit, die Schwächung des Willens, der nicht mehr will … dann … eine schmerzliche Heimsuchung, eine Schwierigkeit, und so geht es Tag für Tag weiter. Wer hat dieses Buch geschrieben? Der liebe Gott mit der Fülle seiner Weisheit und Liebe. Ist dieser Tag der Heimsuchung eine Strafe? Das ist möglich, aber es ist vielleicht auch nur ein Mittel, das euch der liebe Gott schickt, um euch verdienstbar zu machen. Er zeichnete Schritt für Schritt den Weg, auf dem ihr gehen müsst. Das ist das wesentliche Direktorium für uns, das heißt wir müssen in jedem Umstand, was kommt, den Willen oder wenigstens die Zulassung Gottes betrachten.
Das, meine Kinder, ist etwas, das euch in Achtung vor dem lieben Gott halten muss. Es muss euch als Mittel dienen, um euch mit ihm zu vereinen. Zum Beispiel ist euch heute morgen die Betrachtung mühsam, ihr seid mutlos oder auch krank, ihr könnt nicht mehr. Ihr wendet euch also an den lieben Gott und sagt:
„Mein Gott, ich bin mit deinem heiligen Willen einverstanden, es ist ein Kennzeichen der Liebe, das ich aus deiner Hand empfange.“ Das ist ein schmerzlicher Gehorsam. Man versucht, sich dagegenzustemmen. Das ist entschuldbar. Wenn man sich an einen Stein stößt, wenn man einen heftigen Schlag erhält, führt man die Hand zur Wunde, man schreit sogar: Autsch! … Aber wenn dieser erste Augenblick vorbei ist, führt euren Willen, eure Gedanken zu diesem Direktorium zurück. Es ist eures, das, durch welches ihr zum lieben Gott geht. Es ist euer Mittel, zum Himmel zu gehen. Es ist der Dampf, es sind die Waggons, die euch zum Heiland bringen. Ihr habt keine anderen.
Wir wird die Seele fromm, achtsam auf den göttlichen Willen, wenn ihr so handelt! „Mein Gott, ja, ich unterwerfe mich, ich nehme an! Mein Gott, ich danke dir, ich gehöre dir mehr denn je!“
Meine Kinder, versteht diese Lehre gut. Es ist die des heiligen Franz von Sales, die der Guten Mutter Marie de Sales Chappuis. Es war ihr Leben, und ich behaupte, dass in meinen Gedanken die Gute Mutter die größte Heilige ist, dich ich kenne (Diese Worte sind unter Vorbehalt gemäß den Dekreten Papst Urbans VIII. bezüglich der Heiligsprechungsprozesse gesagt). Ich sage nicht, dass sie die größte Heilige des Himmels ist, aber die größte Heilige, die ich gesehen und gekannt habe. Nun! Was machte sie so heilig? Ist es die Vollkommenheit, mit der sie ihre Gelübde erfüllte? Ja. Ist es die Vollkommenheit ihrer Treue zum Direktorium? Ja. Ist es die Vollkommenheit ihrer Liebe zu Gott? Ja, es ist wohl all das. Aber es ist noch viel mehr die Vollkommenheit ihrer Anhänglichkeit, ihrer Treue zu den Eingebungen des lieben Gottes, die Vollkommenheit ihrer liebe zu diesem inneren Direktorium. Sie hat nie verlangt, außerhalb der gewöhnlichen Beichten zu beichten, wenn sie sich nicht sogleich einer mühsamen Sache bediente, um zum Heiland zu gehen, wenn sie glaubte, nicht mit der Fülle ihres Willens angenommen zu haben, was ihr der liebe Gott schickte. Wenn ich sie fragte, warum sie beichten wollte, antwortete sie mir: „Ich war dem lieben Gott untreu, ich suchte eine Erklärung für etwas, das ich nicht verstanden hatte, ich sah nicht sogleich den göttlichen willen. Ich möchte von dieser Untreue gereinigt werden und mein Leben mit dem Heiland wieder aufnehmen.“
Versteht das, meine Kinder, es ist eure Angelegenheit. Wenn die Nonne von diesem Geist durchdrungen ist, wie fühlt dann in ihr alles den lieben Gott, wie ist sie von Gott durchdrungen, wie ist sie von einem Heiligenschein umgeben, der macht, dass man in ihr die Gegenwart des lieben Gottes achtet! Die Seelen finden in ihr, was sie für ihr übernatürliches Leben brauchen.
Wenn ihr im Augenblick der Versuchung treu seid, werdet ihr glücklich sein. Woher kommt die Versuchung? Sie kommt über uns von einem gewissen Bedürfnis nach Unabhängigkeit, von einer gewissen Neugierde des Geistes, sie kommt über uns von einem Mädchen, von einem Gedanken gegen den Gehorsam, von dem Wunsch, nicht unter dem Joch der Ordensregel zu sein. Ihr möchtet gegen etwas kämpfen, das sich eurem Willen entgegenstellt. Macht es nicht! Diese Versuchung hat der liebe Gott vorhergesehen, lasst euch nicht davon erfassen, unterbrecht. Ist das eine Unterwerfung? Nein, das gibt euch vielmehr eine große Freiheit. Nichts ist freier als eine Seele, die so handelt. Alles ist ihr leicht, alles ist ihr so süß und angenehm, da sie ja in allem eine Anordnung der Vorsehung sieht. Das ist eine sehr große Quelle, um euch zum lieben Gott gehen zu lassen, um euch vor der Versuchung zu bewahren. Manchmal empfindet man eine andauernde Versuchung, sich in seinen Antipathien oder seinen Zuneigungen gehen zu lassen, seiner eigenen Urteilskraft zu folgen. Man ist immer im Kampf, im Krieg. Wie soll man handeln? Man muss den Willen Gottes sehen, der zulässt, dass ihr diese Heimsuchung, diese Versuchung habt. Sagt: „Herr, ich nähere mich dir. Gib mir den nötigen Mut, und mit deiner heiligen Gnade werde ich machen, was du von mir verlangst.“
Versteht ihr die Ehrfurcht für den Willen Gottes? Ich sage es noch einmal, was die Gute Mutter Marie de Sales Chappuis so heilig machte, ist nicht nur ihre große Regel, sondern ihre große Treue zu diesem besonderen Direktorium. War sie unglücklich? Ich habe nie eine glücklichere Seele gesehen. War sie frei? O ja! Und sie sagte angenehm: „Man muss das Ganze für das Ganze geben.“ Das ist also unser Geist.
Fasst heute, meine Kinder, diesen Vorsatz, sehr ehrfürchtig vor dem Willen Gottes zu sein. Ich lasse die erste Bewegung, das erste Gefühl des Widerspruchs zu. Wenn man gefühllos ist, hat man kein Herz. Ich würde sagen, dass man eine Heilige ist. Aber nein, je heiliger Man ist, desto fühlender ist man. Und die Heiligkeit besteht genau darin, sich über das natürliche Gefühl zu stellen, den lieben Gott walten zu lassen.
Meine Kinder, wenn ihr den Schmerz ertragt, so hängt euren Willen an den Willen Gottes. Ich bitte ihn, er möge euch wohl verstehen lassen, dass er das von euch will. Es ist sein unmittelbarer Wille für euch. Man verwendet alles, um zum Heiland zu gehen. Ihr habt soeben eure Exerzitien gemacht. Nun, wenn ihr im Garten, in eurer Zelle oder in der Kapelle achtsam ward, habt ihr sicher etwas vom lieben Gott bekommen. „Aber, mein Vater, ich habe nichts gefühlt.“ „Hattet ihr nicht ein Gefühl der Mühe, der Betrübnis, des Schmerzes an diesen oder jenem Ort?“ „Ja.“ Nun denn! Es war der Ort, wo unser Herr Veronika begegnete, der Ort, wo er den weinenden Frauen von Jerusalem begegnete. Wenn ihr an einer Stelle gegangen seid, werdet ihr euch daran erinnern. Seid damit zufrieden. Abraham setzte einen Gedenkstein an die Stelle, wo er seinen Sohn opfern sollte. Vergesst auch ihr, meine Kinder, diese Plätze nicht. Ihr müsst sie kennzeichnen, ihr müsst einen Gedenkstein hinstellen. Warum kommt ihr in den schweren Augenblicken nicht dorthin zurück? Hier schenkte euch der liebe Gott durch diese Heimsuchung ein Licht und gab euch eine gute Bewegung ein. Da ist eine große Seite eures Buches, erinnert euch gut daran. Euer Leben muss ein vollkommenes Ganzes sein, damit wir nicht wie der gleichgültige Vogel über diesen oder jenen Ort fliegen. Wir sind dazu bestimmt, auf Erden zu arbeiten, sie muss also die Gedenksteine unserer Erinnerungen tragen.
Versteht ihr, meine Kinder, wie nun alles für uns eine heilige Stätte wird? Wenn der heilige Franz von Sales ein Tal, einen Bach, eine Blume saht, warum brachte ihn das zu Gott? Weil für ihn alles ein Memento war. Es war sein Direktorium und er las es in allen Umständen seines Lebens. Gott in allem und überall sehen ist das Geheimnis und die Grundlage eures Ordenslebens. Die Gute Mutter Marie de Sales Chappuis, deren Leben wir nachahmen und deren Werke wir fortführen sollen, gab mir für euch allgemeine und besondere Voraussagen. Diese Prophezeiungen laufen vor meinen Augen ab. Ich sehe, dass der liebe Gott die Dinge lenkt, ich sehe, dass sich von Tag zu Tag erfüllt, was sie mir vorhersagte. Also, meine Kinder, müsst ihr in ihre Seinsart einsteigen und ihre Töchter sein. Das muss es sein oder nichts. Wenn ihr das nicht seid, werdet ihr die Kirche verwirren. Wenn ihr euer Ziel nicht erreicht, seid ihr unnütze Wesen, seid ihr dieser Feigenbaum, den unser Herr verfluchte, weil er keine Feigen trug und den die Jünger am nächsten Tag ganz verdorrt fanden (vgl. Mt 21,18-22). Jede Seele, die im Garten der Kirche einen Platz einnimmt, hat ihr Ziel. Vom Feigenbaum verlangt der liebe Gott Feigen. Von einer Oblatin wird er nicht verlangen, was eine Barmherzige Schwester oder eine Karmelitin macht. Er verlangt von ihr das, warum sie Oblatin wurde, nämlich ihr Direktorium einzuhalten, dem göttlichen Willen anzuhaften, einem Willen, der im Vorhinein nicht bekannt ist. Es ist dieses gut verschlossene Buch, dessen Seiten wir in dem Maß kennenlernen müssen, als die Ereignisse eintreten. Das ist ein so wichtiger Punkt, den die Gute Mutter Marie de Sales Chappuis so vollkommen erfüllte. Die zahlreichen Gelübde, die sie gemacht hatte, hatten als ein einziges Ziel die Treue, die zarte Aufmerksamkeit für dieses besondere Direktorium, über das ich heute zu euch spreche.
Es ist ein sehr wirksames Mittel, um zur Heiligkeit zu gelangen. Daher bitte ich unseren Herrn, dass er euch alles, was ich euch soeben sagte, gut verstehen lasse, dass er euch dazu den Verstand und vor allem die Liebe gebe. Amen.