7. Vortrag: Über die Keuschheit
Freitag Vormittag, 12. September 1884
Das Gelübde der Keuschheit, verstanden wie es der heilige Franz von Sales verlangt, ist nichts anderes als ein starker Akt der Liebe und Treue zu unserem Herrn. „Sie sollen nur für den himmlischen Gemahl atmen. Ihr Gespräch soll rein und engelhaft sein. Sie sollen tief in den Gedanken Gottes eindringen und ihr Handeln in aller Reinheit und Heiligkeit vollziehen.“
Meine Kinder, atmet nur für den himmlischen Gemahl. Möge alle eure Gedanken, eure Zuneigungen nur ein einziges Ziel haben: unseren Herrn. Möge in eurem Willen nicht die geringste Faser, die geringste Neigung sein, die nicht für ihn ist. Das ist der Sinn eures Ordenslebens. Es ist also für uns eine Pflicht, die von unseren Gelübden kommt, unsere Seelen in Reinheit und Klarheit zu halten. Die Wahl, die der Heiland für uns getroffen hat, verpflichtet uns, so treu unser Herz, unsere Neigungen zu ihm zu wahren, dass wir sie auf nichts anderes mehr richten können.
Es ist gegen die Keuschheit, sich natürlich an irgendjemanden zu hängen. Man hat im Herzen ein Gefühl, das euch mehr zu einer Schwester neigt, ist das schlecht? Nein, man muss dies ganz einfach durch ein entgegengesetztes Gefühl korrigieren. So müsst ihr jedesmal, wenn sich eure Gedanken dieser Person zuwenden, einen Akt der Gottesliebe machen und sagen: „Herr, das ist nicht, was ich dir versprochen habe. Da du mich liebst, Herr, lass mich also dich lieben, wie du mich liebst, und den Nächsten in dir und für dich lieben!“ Seid aufmerksam, meine Kinder. Diese Herzensbindungen sind für das Ordensleben äußert gefährlich.
Da ist ein Kind, um das ihr euch kümmert. Ihr Gesicht, die Situation, die sie in ihrer Familie hat, die Gefahren, denen sie in der Welt ausgesetzt ist, alles in ihr erregt euer Mitleid. Ihr findet in ihr Vieles, das eure Sympathie auf sich zieht. Ihr bindet euch an sie und euer Herz verfängt sich und unmerklich geht ihr, ich weiß nicht wohin. Euer erstes Gefühl war gut, aber man muss auf der Hut sein.
Ich hatte nie ein einziges Beispiel, das die natürliche Zuneigung der Nonne für das Mädchen, das der Gegenstand war, nicht tödlich gewesen ist. Der heilige Hieronymus sagt: „Die menschlichen Freundschaften haben einen gewissen Widerschein. Sie erscheinen süß und strahlend. Aber die Freundschaft von zwei Seelen, die sich zu menschlich lieben, ähnelt der von zwei Schlangen, die sich an der Sonne einander wärmen. Durch das Erwärmen beißen sie sich schließlich, und die Wunde ist oft für beide tödlich.“ Ihr glaubt, dass ihr diese Seelen erwärmt, aber ihr verstrickt sie in die Windungen einer Zuneigung, die für sie und für euch tödlich sein wird. Ich sah kein einziges, natürlich geliebtes Mädchen, das in den Werken Erfolg hatte. Ja, meine Kinder, „die Freundschaft der Weltmenschen ähnelt einer Schlange, die eine andere Schlange umschließt.“ Es sind zwei Seelen, die auf den Tod zugehen. Warum? Weil der liebe Gott diese Dinge auf dieser Welt nicht verzeiht. Wird er sie in der anderen Welt verzeihen? Ich glaube es gerne. Diejenige, die ihr so liebt, wird leiden. Es war in einem Internat ein Mädchen, das freundlich, brav und sogar ziemlich fromm war. Eine Lehrerin hatte sich menschlich an sie gebunden. Nun! Dieses Mädchen hatte alles mögliche Elend zu erleiden. Es scheint, dass sich das Unglück wie eine Art Lepra an sie gebunden hatte. Man kann nicht unglücklicher sein als sie es war. War es eine Folge ihrer Vergangenheit? Ich weiß nichts darüber …
Wenn ihr den Kindern, die euch anvertraut sind, nichts Böses tun wollt, liebt sie nicht so. Unter allen, die ich gesehen habe, ist keine einzige, die sich deshalb gut fühlte. Achtet darauf! Wenn ihr menschlich zu dieser Seele strebt, tötet ihr sie. Euer Atem ist der Atem der Schlange. Man sagt, dass es Schlangen gibt, die die Vögel durch ihren Blick behexen. Der heilige Franz von Sales spricht sogar von einer Schlange, die durch ihren Atem alles auf ihrem Weg vergiftet. Die natürliche, menschliche Zuneigung handelt so. Achtet darauf. Heißt das, dass ihr die Kinder, die euch anvertraut sind, nicht lieben sollt? Liebt sie mit einer mütterlichen Liebe, liebt sie für den lieben Gott, aber nicht für euch. Wenn man für den lieben Gott liebt, hat man immer ein losgelöstes, sich wohlfühlendes Herz. Wenn man für sich liebt, ist man verwirrt. Man kann nicht ohne ein gewisses Unbehagen, ohne einen Mangel an Vereinigung mit unserem Herrn leben. Wenn sich das Herz so gebunden hat, hat der liebe Gott nur die Reste, und er mag Reste nicht. Achtet gut darauf.
Also meine Kinder, atmet nur für Gott, bindet euch nur an ihn. Kann man die Kinder lieben, wenn das Herz dem lieben Gott zugewandt ist? Sicher, ihr werdet sie lieben, für sie beten, alle Handlungen für diese Seelen vollziehen, die ihr in Ihm liebt. Es ist ein freies Streben zur Nächstenliebe, ein großes, unendliches Streben, das euch offen steht.
Möge euer Gespräch unbefleckt und engelhaft sein. Ich habe euch da keine Vorwürfe zu machen. Man muss sich immer diese Feinheit bewahren, von der der heilige Franz von Sales spricht. Möge man nicht von gefahrvollen Dingen sprechen, es sei nichts in euren Worten, das die Ohren des Nächsten verletzen könnte. Habt Acht mit den Mädchen, die ihr auf die Beichte vorbereitet. Versteht das. Es gibt eine Art, sie vorzubereiten. Wenn man keinen neugierigen Geist hat, muss man einfach und guten Mutes daran gehen. Sonst würde man Böses tun. Man muss wohl sein Herz zum lieben Gott erheben und vermeiden, was gefährlich sein könnte. Diese Dinge sind wie das Feuer. Man berührt es nur mit Zangen.
Seid sehr wachsam mit den Mädchen. Die Mädchen sind auf einer Ebene, die unter dem des Ordenslebens ist. Sie sind nicht dazu bestimmt, Nonnen zu sein. Sie haben ihre Art zu sein und zu sehen, aber ihr Einfluss kann so sein, dass sie euch auf ihre Ebene herabziehen können. Noch so wenig Hefe verdirbt eine Menge Mehl. Es gibt einen sehr gefährlichen weltlichen Einfluss, es gibt Dinge, die sich weitab von der Nonne ereignen müssen. Das nimmt ihr sonst alle Farbe, entfernt sie vom lieben Gott. Es lässt sie ihre Berufung verlieren. Ergreift große Vorsichtsmaßnahmen bezüglich der Neugierde. Hütet euch vor der schlechten Befriedigung, die man empfindet, wenn man sich über Verbotenes unterhält. Euer Gespräch sei engelhaft, es sei im Himmel. Ihr seid dazu verpflichtet, um euch eure Berufung zu bewahren, um euch an euer Keuschheitsgelübde zu halten. In allen unseren Beziehungen zum Nächsten, in unserer ganzen Seinsweise muss die christliche Bescheidenheit, die Ordensbescheidenheit sein. Sie ist die Hüterin, die Hülle der Keuschheit. Darin muss man dem Rat des heiligen Franz von Sales folgen und unseren Herrn immer mit uns tragen. Der Priester, der unseren Herrn zu einem Kranken trägt, hat einen gemäßigten Schritt, einen bescheidenen Blick. Er geht nicht von einer Seite zur anderen. Meine Kinder, ihr müsst unseren Herrn auch so mit euch tragen.
Die Hausoberin braucht eine große Wachsamkeit über die jungen Mitschwestern, die ihr anvertraut sind, damit sie keine Gefahr erreicht. Sie behütet sie, überwacht sie in aller Liebe. Ihr sollt nicht wie ein kleiner bissiger Hund sein, der beißt, sondern für sie beten. Nicht unvorsichtig sein, ein kleinstes Wort bei Gelegenheit sagen, sondern immer mit großer Vorsicht.
Ihr habt eine Beziehung mit Weltlichen. O, hört gut zu. An dem Tag, wo sich eine Nonne an eine Weltlichen bindet und sie zu ihrer Vertrauten macht, ist sie verloren. Ihr müsst auch bei den Personen vorsichtig sein, die tagsüber in die Häuser kommen. Es gibt eine natürliche Neigung, die vom Gelübde der Keuschheit her verboten ist. Man setzt sich der Gefahr aus, seine Berufung zu verlieren. Man muss darauf achten, sie nicht zu trüben, sondern sehr genau zu schauen. Die Hausoberin muss darauf schauen, nicht wie eine eifersüchtige Frau, sie soll vielmehr in aller Güte und Milde durch die Mittel Einhalt gebieten, die ihr die Liebe und die Klugheit eingeben werden. Durch eure Werke seid ihr in Verbindung mit vielen Leuten. Wenn man nicht nach dem himmlischen Gemahl strebt, kann es die Quelle für Schwierigkeiten werden. Man verfängt sich in einer Zuneigung und man stirbt wie der am Seil klebende Vogel. Das Leben hängt an so wenig und mit einem Milligramm dieser Zuneigung erstickt man seine Seele. Ich sage das, wie ich euch eine Geschichte erzählen würde, da wir nicht dort sind.
Man muss also nur für den himmlischen Gemahl atmen. O, wie glücklich ist die ihrem Gelübde treue Seele, die Seele, die keusch ist. Wie schön ist alles für sie! Sie hat nicht zwei Leben. Alles, was sie vom lieben Gott in ihrer ersten Jugend empfangen hat, lebt noch in ihr. Sie ist eine Blume, alle Tautropfen werden dort aufbewahrt. Sie ist eine Lilie, die jeden Morgen einen neuen Tautropfen erhält. Sie ist nicht verwelkt. Sie hat sich ihre ganze Frische bewahrt. Das ist die reine Seele der keuschen Nonne. Sie ist diese Lilie, nichts ist schöner. Für den König der Jungfrauen ist es eine Wonne, in diesen Seelen zu weilen. Warum sagt unser Herr, dass er seine Wonnen in der reinen Seele findet? Weil die reine Seele ein wahrer Himmel ist. Sie ist ein Paradies für sich selbst. Sie ist ein Paradies für Gott. Er legte alle seine Wonnen, alle seine Anziehung in die reine Seele und überhäuft sie mit seinen Gunstbezeugungen. Die Gute Mutter Marie de Sales [Chappuis] sagte: „Wie ist der Heiland zart, wie weiß er besser als jedermann, was die Seele glücklich machen kann! Wie hat er seine Geheimnisse!“
Welcher Jünger ruht am Herzen unseres Herrn? Es ist der geliebte Apostel, der jungfräuliche Apostel. Seid also rein von allen Arten von Fehlern und es werden euch diese Enthüllungen des Herzens des Heilands zuteil werden. Prüft gut, worin ihr auch nur wenig in dieser Hinsicht habt fehlen können.
Wann wirst du, Herr, die sehen, die ein reines Herz haben? Das ist jetzt, an jedem Tag ihres Lebens und später in der seligen Ewigkeit.
Seid also sehr zart, damit ihr schon auf Erden diese Wonnen jener genießt, die ein reines Herz haben. Amen.