5. Vortrag: Über den Gehorsam
Donnerstag Vormittag, 11. September 1884
Meine Kinder, da ist ein weiteres Gelübde, das uns als Nonnen in die Pflicht nimmt, es ist das Gelübde des Gehorsams. Das Gelübde des Gehorsams ist sicher am schwierigsten einzuhalten, weil es das Gelübde ist, dessen Verpflichtungen sehr verschieden und weitreichend sind. Es umfasst alle Handlungen des Ordenslebens. Und obwohl alles, was der Ordensgehorsam auferlegt, nicht Stoff der Sünde ist, ist es sehr sicher, dass man, wenn man schwer gegen dieses Gelübde fehlt oder gewohnheitsmäßig dagegen verstößt, im Zustand der schweren Sünde ist. Es ist nicht möglich, sich der von ihm auferlegten Verpflichtungen zu entziehen, ohne eine Sünde zu begehen.
Wem muss man gehorchen? Zuerst der Ordensregel. Ihr könnt nicht über eure Zeit verfügen. Die Ordensregel sagt euch dies zu dieser Zeit, jenes zu einer anderen Zeit zu tun, das ist eine wesentliche Verpflichtung. Ich sage nicht, dass eine Verfehlung des Gehorsams gegen die Ordensregel eine Todsünde ist. Oft ist es nicht einmal eine lässliche Sünde, denn die Vorschriften dieser Art verpflichten nicht durch sich selbst unter Sündenstrafen, aber die Gewohnheit dieser Verfehlung lässt die Seele verwelken, lässt sie ihre Berufung verlieren, und indem sie ihre Berufung verliert, setzt sie sich dem Verlust des Himmels aus. Die Theologen sind da sehr streng, und der heilige Thomas [von Aquin] sagt, dass die ihrer Berufung untreuen Ordensleute, nur durch das Feuer hindurch gerettet werden. Da ist eine Person in einem brennenden Haus eingeschlossen, die Flammen kommen von überall her. Wird sich diese Person retten? Ebenso ist es zu befürchten, dass von zehn Personen, die ihre Berufung verlieren, vielleicht fünf sind, die sich nicht retten. Man spottet nicht über Gott. Der liebe Gott schenkt uns die Gnade der Berufung. Wir verlieren sie durch eine Reihe von Untreue und Ungehorsam. Werden wir uns danach retten? Ich weiß nichts darüber.
Da ist ein armer Sünder, der gewohnheitsmäßig in der Sünde lebt. Er verfällt immer wieder in seine Fehler, er hat keine Zeit zu beichten und plötzlich stirbt er. Was wird aus ihm? Wer kann für sein Heil aufkommen? Nun wird dieser arme Elende verdammt, weil er nach einem Schwächeanfall durch einen unvorhergesehenen Tod in die Hand Gottes gefallen ist. Und da ist eine Nonne, die auf ihren Schleier getreten ist, die sich über Gott lustig machte, und ihr möchtet, dass sie gerettet wird … Ich sage, dass ihr Heil schwierig ist, ich sage nicht, dass es unmöglich ist … da sind welche, die es sagen würden. Kann man sie der Unvorsichtigkeit bezichtigen? Nein. Was mich betrifft, so behaupte ich in meiner Seele und in meinem Gewissen, dass ich sehr sicher bin bezüglich des Heils der Heiden, der Zöllner, die vor ihrem Tod zum lieben Gott zurückkehren werden als des Heils einer Nonne, die ihrer Berufung nicht treu ist, denn diese untreue ist etwas Riesiges.
Ich sah manchmal Schwestern, die sich vom lieben Gott entfernt hatten, in dem sie ihre Berufung verlassen hatten. Sie waren in die Welt zurückgekehrt. Nun, ich versichere euch, dass der Zustand ihrer Seele für mich ein schmerzhaftes Problem war und ich habe mich mehr als einmal gefragt: Wir der liebe Gott diese Seelen retten?
Der Heiland ist auf unser Herz eifersüchtig. Hat er ein Recht, eifersüchtig zu sein? O, ja! Er gab uns so viele Zeichen der Liebe. Man macht sich nicht vergeblich über ihn lustig. Die Nonne, die er aus Liebe aus Tausenden und Zehntausenden erwählt hat, die ewige Verlobungsbänder empfangen hat, kann sie ihn verachten, vergessen? … Habt Angst, große Angst vor der Eifersucht Gottes.
In meiner Seele und meinem Gewissen versichere ich euch, dass ich die Gerechtigkeit Gottes wegen des kleinsten Blicks seiner verkannten Liebe mehr fürchte als wegen einer Menge Fehler. Ich würde weniger die Gerechtigkeit Gottes für eine mit Sünden beladenen Person fürchten als für die, welche ein sicheres Zeichen des Willens Gottes für sich erhalten hat und dieser Gnade untreu würde.
Ich sage nicht, meine Kinder, dass es besser ist, Verbrechen zu begehen, nein, aber ich sage, dass es leichter sein wird, sich nach einer schweren Sünde wieder mit dem lieben Gott zu versöhnen als nach einem Fehler, wo die Seele ihre Berufung missachtet und die Gnade des Heilands zurückgewiesen hat. Ich glaube sicher, dass die Lage einer verbrecherischen Seele beim letzten Gericht weniger unglücklich sein wird als die, welche den Blick der Liebe Gottes verachtet hat. Gebt also sehr acht, meine Kinder. Möge uns das Beispiel des Mose belehren. Weil er einen Augenblick lang an der Erfüllung des Wortes Gottes zweifelte und in diesem Zweifel zwei Mal an den Felsen schlug, sagte der Herr zu ihm: „Weil ihr mir nicht geglaubt habt und mich vor den Augen der Israeliten nicht als den Heiligen bezeugen wolltet, darum werdet ihr dieses Volk nicht in das Land hineinführen, das ich ihm geben will“ (Num 20,12). Nichts verletzt das Herz des lieben Gottes mehr als das dünkelhafte oder verächtliche Vergessen seiner Gnade. Er bestraft es streng.
„Volk Israel, du konntest Götzenbilder verehren, große Fehler machen, ich habe sie dir verziehen. Aber weil du mich verlachtest und behandelt hast, wie man nicht einmal seinen Feind behandelt, werde ich dir nicht verzeihen.“
Meine Kinder, habt Angst vor dem lieben Gott, fürchtet, seinen Blick zu verachten, fürchtet seine Eifersucht, fürchtet eure Fehler durch Lieblosigkeit, fürchtet die Sünden, die durch Lieblosigkeit entstehen, aber fürchtet hundert Mal, tausend Mal mehr den Blick des lieben Gottes, den ihr vergessen habt, denn das Vergessen ist immer ehrverletzender als der Sarkasmus. In sehr vielen Seelen ist kein Glaube mehr. Der liebe Gott bedeutet nichts mehr für sie. Der Geist des Christentums verblasst. Man gewöhnt sich daran, man geht einen gefährlichen Hang hinab. Aber der liebe Gott geht nie von seiner Allmacht ab. Die Seelen können sich ändern, der liebe Gott ändert sich nicht, er bleibt, was er war, und er bleibt es immer.
Fürchtet sehr den lieben Gott, um eure Berufung nicht zu verlieren. Wenn ich euch das sage, meine Kinder, so weil ich euch in der Wahrheit begründen will. Also Gehorsam zur Ordensregel, gehorcht sogleich, haltet inne, gebt euren Willen ganz.
Ich verlange von euch nicht die Unterwerfung eurer Urteilskraft, denn was ist eure Urteilskraft? Es ist wie ein Stück Papier, das man in einen Schuh legt, der zu breit ist. Und wo mündet euer Urteil? Ihr möchtet es so und man will es anders … Lasst doch euer Urteil da. Es ist so gut zu handeln, wie man euch sagt, und das Übrige beiseite zu lassen. Ihr habt keine Verantwortung, ihr seid nur allein für euch verantwortlich. Ihr habt Frieden und Ruhe. Um ein glückliches, frohes, unabhängiges Leben zu führen, muss euer Gehorsam vollständig sein. Vollbringt so eure Handlungen, es ist das Mittel glücklich zu sein. Die Gute Mutter [Marie de Sales Chappuis] sagte: „Haltet inne, sonst dient es zu nichts, wenn ihr für euch arbeitet. Wenn ihr hingegen euren Strumpf mit Gehorsam strickt, kommt ihr immer voran.“ Aber die Wolle ist schlecht, sagt ihr … Das geht euch nichts an, ihr werdet nicht dafür leiden.
Seid dem Gehorsam treu. Das macht ein gutes Herz, einen guten Charakter. Man hat immer etwas Fröhliches, etwas Glückliches. Sonst reizt, ärgert alles, man bespricht ohne Ende und gibt Gründe an. Der Geist bleibt kleben wie auf Leim. Lasst dies noch einmal, das geht euch nichts an. Ich verlange also nicht von euch, eure Urteilskraft zu unterwerfen. Euer Urteil und ein Hampelmann, den man in eine Schachtel legt, ist das gleiche. Vertieft mir das und steckt es in eure Tasche.
Arme Menschenkinder! … Warum ladet ihr euch Steine auf das Herz? Warum beladet ihr euch mit einem Haufen Dinge, die euch beschweren, die euch erdrücken? Warum hängt ihr euch an Nichtigkeiten? Werft also all das beiseite. Warum nährt ihr euch in der Lüge eurer Urteilskraft, eurer Neigungen, eurer natürlichen und persönlichen Gefühle? Lasst doch das, macht euch ein glückliches, vernünftiges, bequemes Leben. Ergreift diesen Teil, meine Kinder, folgt ihm, alles wird euch gut scheinen. Ihr werdet das Haus lieben, in dem ihr wohnt, die Arbeit, die ihr verrichtet, den Garten, in dem ihr spazieren geht, die Mitschwestern, mit denen ihr leben müsst. Alles wird euch leicht sein, denn ihr werdet von eurem eigenen Willen, von euch selbst losgelöst.
Es gibt auf der Erde kein glücklicheres Leben als dieses. Es ist das Paradies. Der liebe Gott verwöhnt euch in allen Umständen, man kann ihm leicht ein kleines Wort in der Vertrautheit sagen. Er warnt uns selbst, in dem er uns Zeichen seiner Liebe gibt! Wie glücklich ist man, wenn man die Ordensregel genau befolgt!
Meine Kinder, diese Dinge sind sehr wesentlich. Bringt also den Gehorsam der Ordensregel, euren Oberinnen entgegen, macht ihn sehr einfach und herzlich und macht aus ihm kein böses Gesicht. Ihr müsst alle gute Vorsätze fassen, um wahre, sehr gehorsame und vor allem von eurem Urteil losgelöste Nonnen zu werden.
Als Frucht dieser Unterweisung werde ich euch bitten, sogleich die Zeremonie des Wechsels der Kreuze zu machen, die gewöhnlich am ersten Tag des Jahres geschieht. Ihr müsst alle eure Kreuze lösen. Gebt sie in einen kleinen Korb. Ich werde sie mischen und dann aufs Geratewohl ausgeben. Die, welche das Kreuz von Marcilly hatte, wird das von Saint-Quen bekommen. Die, welche das Kreuz von Saint-Quen hatte, wird das vom Kap bekommen und so weiter. Da wir das sehr anmutig machen, können wir es beim Altar, bei unserem Herrn machen. Möge also jede ihr Kreuz aufs Geratewohl nehmen. „Es scheint mir, dass ich an das Kreuz, das ich da hatte, gewöhnt war. Ich hatte wohl meine Mitschwester, die ein Arm davon war, meine Mitschwester als solche, die der andere Arm davon war, der Fuß des Kreuzes war die Arbeit, die ich machen musste. Das Obere Stück war die Hausoberin, aber ich war daran gewöhnt und hatte meinen Teil davon genommen…“ Stellt nicht so viele Überlegungen an, meine Kinder, ihr werdet überall Schwierigkeiten finden. Alle Kreuze haben zwei Arme, einen Fuß und einen Kopf. Sie haben alle die gleiche Form, und alle sind schwer zu tragen. Möge jede sagen: „Mein Gott, ich übergebe dir mein Kreuz, ich werde mit geschlossenen Augen das annehmen, das du mir wirst geben wollen. Wenn ich die Augen öffnen werde, werde ich auf meinem Kreuz geschrieben sehen: Geh hier her, oder geh dorthin, und ich werde dir sagen: Mein Gott, du willst es. Amen.“ Amen.