4. Vortrag: Über die Armut
Mittwoch, 10. September 1884
Gestern Abend, meine Kinder, sprach ich zu euch über die Nächstenliebe und ich bemühte mich, euch verständlich zu machen, dass der Grad unserer Liebe zum Nächsten genau das Maß unsere Liebe zu Gott ist. Eure Liebe zum Nächsten muss fehlerfrei sein, wie ich schon ausführte. Ihr sollt es euch zur Gewohnheit werden lassen, euch der Bündel zu entledigen, die ihr einander aufladet. Wenn ein Trappist fastet, isst er nicht, trinkt er nicht. Wenn er sagte: „Ich faste, aber ich werde eine kleine Tasse Schokolade, Kekse mit ein wenig Wein von Alicante zu mir nehmen“, wäre es kein Fasten mehr. Ihr wollt wohl die Liebe üben, aber ihr wollt euch ein wenig das Herz trösten, in dem ihr findet, dieses ohne jenes doch wiederholen zu dürfen … Aber das ist keine Übung der Liebe. Viele von euch haben das Gelübde der Liebe abgelegt. Es ist also eine ernste Verpflichtung. Wenn ihr euch hinterrücks über eine Schwester beklagt, o, dann ist das keineswegs mehr eine Übung der Liebe. In der Heimsuchung habe ich zur Zeit der Guten Mutter [Marie de Sales Chappuis] nichts dergleichen erlebt. Aber ich sah sehr oft Schwestern, die kamen, um zu sagen: „Meine Mutter Oberin, ich war ein wenig rau mit meiner Mitschwester so und so, ich komme, um ihnen meine Schuld mitzuteilen.“
Hütet euch also vor Tratschereien, vor Erzählen von Geschichten, die dazu neigen, Zwietracht zwischen der Oberin und den Mitschwestern oder unter den Mitschwestern zu säen. Das ist ein wesentlicher Punkt. Ihr werdet mir sagen, dass man ebenso wie man Sympathien hat, man Antipathien für einen solchen Charakter, eine solche Natur spürt. Das ist wahr, aber man darf seinen Antipathien nicht mehr folgen als man seinen Sympathien folgen soll. Man muss seine Antipathien besiegen und mit denen, zu denen man sich am weitesten entfernt fühlt, muss man immer am meisten milde, herzlich und entgegenkommend sein. Man muss sein Möglichstes tun, um ihnen Zuneigung zu bezeugen. Für diese müsst ihr beten, Übungen machen. Es ist eure Pflicht, so zu ihnen zu sein, gerade weil sie euch ermüden und ärgern. Versteht ihr das Gebot der Liebe? Ich wiederhole, was ich darüber schon gesagt habe. Es ist das Kennzeichen eurer Berufung. Sonst gibt es keine Oblatinnen. Die Personen, die in die Heimsuchung und zu uns kommen, bemerken die Liebe. Ich preise Gott für dieses Siegel, das wir bewahren müssen. Es möge das Kennzeichen, das Siegel all unserer Handlungen sein. In den großen Geschäften, zum Beispiel im „Billigen Markt“, steht auf allen Etiketten „Billiger Markt“. Wenn ein wertvoller Teppich daraus kommt, ist er mit diesem Etikett gekennzeichnet. Wenn man dort eine Bürste kauft, ist diese ebenso damit gekennzeichnet. Ich sage euch das, um euch zu zeigen, dass alle eure Handlungen, von der wertvollsten bis zur kleinsten, mit dem Siegel der Liebe gekennzeichnet sein müssen. Das sei unser „Billiger Markt“.
Heute Abend, meine Kinder, werde ich euch nun ein Wort über die Armut sagen. Ihr habt alle eure Gelübde abgelegt. Ihr müsst sie erfüllen. Die Theologen sind sehr streng bei den Verpflichtungen, die sie auferlegen. So würde eine Nonne, die das Gelübde der Armut abgelegt hat und ohne Erlaubnis über das verfügte, was sie in der Welt hatte, einen schweren Fehler begehen, den die Theologen dem Diebstahl gleichsetzen. Eine Person, die Geld nehmen würde, würde eine umso größere Sünde begehen, als die Summe beträchtlicher wäre. Der Fehler, den eine Nonne macht, wenn sie ohne Genehmigung über ihre Güter verfügt, ist wie der Fehler gegen das Gebot, welches sagt: Du sollst nicht stehlen. Denn da sie nichts mehr hat, ist es, als würde sie in die Brieftasche eines anderen greifen. Wem hat sie etwas genommen? Einem Eigentümer, der in dieser Beziehung nicht bequem ist, Gott. Wenn man aus familiären Umständen genötigt ist, eine Eigentumsangelegenheit zu regeln, muss man dafür seine Oberin um Erlaubnis bitten.
Seid großmütig, meine Kinder, um kein Eigentum zu haben. Nicht nur über nichts zu verfügen, sondern nichts für sich zu haben. Wenn ihr wüsstet, wie schön und gut es ist, sich der Dinge zu bedienen, die uns nicht gehören, die wir aus Gehorsam verwenden, weil sie uns von der Gemeinschaft gegeben werden. Sie schenken uns den wahren Geist Gottes. Ebenso wie das Weihwasser, das geweiht Brot, die Kreuze, die Rosenkränze den Geist Gottes mitteilen, tragen diese Dinge ihre Gnade mit sich. Hier ist der Beweis dafür. In den großen Ordensgemeinschaften segnet man nicht die Gegenstände, die die Ordensleute benützen, weil man überzeugt ist, dass sie gesegnet sind, sobald dieser Gegenstand im Gebrauch der Gemeinschaft ist, so sehr, dass die Griechen, wenn sie in einem Kloster einen beliebigen Gegenstand fanden, sofort das Kreuzzeichen machten und ihn an ihre Lippen führten, weil dieser Gegenstand einem Ordensmann gehört hatte.
Habt auch ihr eine Verehrung für die Gegenstände, derer ihr euch bedient, denn sie werden euch von der Gemeinschaft gegeben, weil ihr arm seid und nichts habt. Dann werdet ihr die Gabe der Armut bekommen. In Loretto bewahrt man fromm den kleinen Teller auf, der nach der Überlieferung unserem Herrn gehörte. Er ist geweiht und heilig. Warum? Nicht weil er von der Kirche geweiht wurde, wohl aber, weil ihn der Heiland weihte, in dem er ihn verwendete.
Die Armut hat wie die anderen Gelübde ihre Feinheiten. Nicht jeder legt sie auf die gleiche Weise in den Einzelheiten aus. Für uns ist unsere Art sie zu üben die, sie unserem Herrn nachzuahmen. Er war nicht bis ins Extreme arm, er wollte das Notwendige haben. Er musste es zwar verdienen, aber schließlich hatte er es. Er hatte genügend Nahrung und auch eine Wohnung außer in den Jahren seines öffentlichen Auftretens, da er selbst sagte: „Der Menschensohn aber hat keinen Ort, wo er sein Haupt hinlegen kann “ (Mt 8,20). Seine Kleidung hatte weder Flecken noch lächerliche Ausbesserungen. Seine Tunika war sehr ordentlich. Er hatte keinen Luxus in seiner Kleidung, aber sie war sehr gepflegt. Es ist schöner, ein Gewand zu tragen, wie wir es haben, als ein zerrissenes. Versteht wohl meine Gedanken. Nicht, dass ich die Heiligen tadle, die aus Demut zerrissene Kleidung trugen wie der heilige Simeon Stylites und so viele andere. Der Geist Gottes weht, wo er will. Aber ich sage, dass der reinste Geist Gottes der ist, der aus unserem Herrn, dem Stamm Jesse, ruhte. Da kam das göttliche Wohlgefallen zu seiner vollkommensten und totalsten Entfaltung.
So müsst ihr den Geist der Armut verstehen, meine Kinder. Achtet also fromm auf eure Kleidung. Ich gab euch nicht die Kopfbedeckung der heiligen Jungfrau und der Jüdinnen, sondern der Frauen von Tyrus und Sidon. Unser Herr sah diese Kopfbedeckung von der Frau getragen, die kam, um sich ihm zu Füßen zu werfen, und zu der er sagte: „Frau, dein Glaube ist groß. Was du willst, soll geschehen“ (Mt 15,28). Es hat der Heiland eure Kopfbedeckung betrachtet, sie hat ihm gefallen. Dem guten Kardinalerzbischof von Paris und unserer Mutter [Marie de Sales Chappuis] gefiel sie auch. Liebt euer Gewand, behütet es sorgfältig, wie unser Herr die Tunika liebte und bewahrte, die ihm die heilige Jungfrau gemacht hatte. Es sei eure Armut eine Armut der Liebe, der Feinheit. Liebt also euer Gewand, weil es unser Herr, ich wiederhole es, betrachtet hat, unter dem es ihm gefiel die kanaanäische Frau zu sehen.
Meine Kinder, bewahrt eure Kleidung lange, weil die Armen nicht die Mittel haben, oft welche zu kaufen. Und wenn euch an eurer Kleidung etwas stört, seid nicht zu fein. Wenn ihr es auf keinen Fall ertragen könnt, sagt es. Aber wenn ihr es könnt, ertragt es, denn es ist gut, dass eine Oblatin immer etwas zu leiden hat. Wenn ihre Gesundheit schlecht ist, umso besser. Wenn ihre Gesundheit gut ist, muss sie ein Mittel finden, um sich Leiden zu verschaffen. Ich sage euch da keine Feinheiten, sondern Göttliches. Es ist die Handlungsweise unseres Herrn.
Was die Nahrung betrifft, welche hatte der Heiland? Gewiss war seine Nahrung lange nicht so gut wie eure. Ihr arbeitet, ihr müsst haben, was notwendig ist, um euch mit den Werken zu beschäftigen, zu gehen, zu kommen, in der Küche, der Wäscherei, der Klasse zu sein, und so weiter. Ihr müsst also bekommen, was ihr braucht. Aber sonst? O, habt gut acht! Achtet vor allem auf den Teil der Gesundheit. Ich weiß aus Erfahrung, was das ist, und ich wäre hart, euch aufzuerlegen, was ich selbst nicht machen könnte. Wie ein Heiliger sagte, ich weiß, was das Elend ist, ich habe es selbst gespürt, ich glaube, ziemlich gerecht zu sein, um es in den anderen zu fühlen. Nehmt bei den Mahlzeiten, was euch vorgesetzt wird. Ihr sollt bei jeder eine Abtötung machen. Vergesst es nie. Wenn Gott sie euch schickt, ist es noch besser. Ich spreche zu euch nicht von großen Verzichten, die zu machen sind, aber es gibt deren so viele Kleine, die euch dem lieben Gott sehr angenehm machen können. So wurde die Tante von Fräulein Daignez (eine Wohltäterin der Kongregation) von ihrem Beichtvater selbst wie eine Heilige betrachtet, und ich, der ich nicht ihr Beichtvater war, wurde in ihr durch viel Erbauliches überrascht. Seid ihrer frühen Kindheit salzte und pfefferte sie keine ihrer Speisen. Sie nahm sie, wie man sie ihr darbot. Wenn ihr Suppe ganz geschmacklos war, schluckte sie sie dennoch. Sie hatte einen guten Magen, eine andere hätte das nicht machen können, aber schließlich ist es eine Person von Welt, die so handelte, und sie machte nicht nur das, ich sah sie noch vieles andere tun. Aber es waren immer Kleinigkeiten, die unbemerkt blieben. Sie macht das ihr ganzes Leben lang, das heißt achtzig Jahre.
Als ich für unsere Patres die Exerzitien hielt, drückte ich ihnen mein Bedauern aus, ihnen nur Kleinigkeiten für ihre Heiligung vorschlagen zu können. Aber schließlich kam mir ein Gedanke, der mich tröstete. Da wir, die wir hier sind, und die, welche sich am Kap befinden, nur ein und dieselbe Gemeinschaft bilden, können wir sagen, dass wir Abtötungen machen. Unsere Missionare essen nur Brot, wo Mehl mit Kleie vermischt ist. Oft haben sie kein Schaffleisch mehr und müssen sich mit einer Art Tier begnügen, die den Ratten ähnlich sind. Und wenn sie keine fangen können, haben sie vegetarische Kost. Als Getränk haben sie sehr oft nur Wasser und außerdem, sagen sie, ist es kein gewöhnliches Wasser, sondern salpeterhaltiges. Wenn uns unser Brot nicht gut scheint, denken wir daran, dass es noch besser ist als ihres. Wenn uns unser Getränk nicht schmeckt, denken wir an ihr salpeterhaltiges Wasser. Für das Übrige denken wir daran, dass wir noch nicht auf vegetarische Kost gesetzt sind. Diese Entbehrungen werden weit weg von uns ertragen, aber wir haben ihren Nutzen.
Der Obere des Priesterseminars von Troyes sagte mir: „Diese Mission ist ein großer Segen für Sie. Sie werden es merken.“ Kraft der Verbindung der Heiligen gehen die Verdienste unserer Missionare auf uns über. Unsere Patres und unsere Schwestern bemühen sich nicht für sich allein. Wenn wir nicht alles haben, was wir brauchen, wird uns der heilige Franz von Sales gestatten, anstatt an die Väter der Wüste zu denken, wie es unser Direktorium sagt, an unsere Missionare am Kap zu denken. Wir werden mit ihnen unser Direktorium erfüllen, mit ihnen beten und speisen.
Also, meine Kinder, achte man in Bezug auf die Nahrung sehr darauf, in dieser Hinsicht die Armut zu üben. Jetzt zu den Gegenständen, die ihr verwendet. Behandelt selbst die kleinsten, das Papier, den Zwirn, als ob sie Gott gehörten. Fürchtet euch, sie zu verlieren, sie zu verschwenden. Habt unvergleichliche Achtung für sie, denn sie gehören der Gemeinschaft. Sie erhielten den Segen der Engel. Versteht das, meine Kinder, achtet sehr auf diese Dinge. Seid sorgfältig, behandelt sie sehr liebevoll. Sehr ein kleines Mädchen, dem man eine Puppe schenkt. Sie küsst sie, sie drückt sie liebevoll an ihr Herz. Ein kleiner Junge, dem man ein Spielzeug, ein Holzpferd schenkt, er küsst es auch, wie glücklich macht ihn dieser Besitz! Ihr, die ihr wie kleine Kinder sein sollt, liebt eure Sachen in ähnlicher Weise. Küsst ihr euren Schleier, euer Kleid, wie der Priester seine Ornamente küsst? Während der Heiligen Messe küsst er auch oftmals den Altar, denn dieser Stein stellt Jesus Christus dar. Es ist von ihm ein Zeichen der vom Himmel geschenkten Liebe.
Meine Kinder, versteht die Armut in diesem Punkt der Liebe des Heilands. Übt sie mit eurem Herzen, mit aller Frömmigkeit eurer Seelen. O, wie schön ist unsere Armut! Wie gefällt sie unserem Herrn! Es ist die, die er übte, die das Herz der heiligen Jungfrau entzückte, die den heiligen Josef in Betrachtung versetzte und macht, dass sein ganzes Leben ein Leben der Bewunderung des göttlichen Geheimnisses war.
Möge unser Herr euch den Sinn dessen schenken, was ich euch soeben sagte und euch gewähren, in diesem den Geist der Armut gut zu üben! Amen.