Exerzitienvorträge für die Oblatinnen 1884

      

2. Vortrag: Sursum corda – Erhebet die Herzen

Dienstag Vormittag, 9. September 1884

Meine Kinder, die Exerzitien sind keine gewöhnliche Zeit mehr, sie sind manchmal eine Krise im Ordensleben. Das Ordensleben ist wie das natürliche Leben. Es hat seine verschiedenen gefährlichen Augenblicke. Unsere Seele ist sehr oft wie ein Schwerkranker. Eine Krise taucht auf, diese Krise kann eine völlige Veränderung und sogar eine vollständige Heilung oder den Tod bringen. Die Exerzitien erzeugen in uns etwas Analoges. Sie bringen unserer Seele immer eine Veränderung, aber diese ersten Exerzitien in Morangis sind wichtiger als die anderen. Das ist der Ausgangspunkt. Ich wiederhole es: wir sind hier wie im Abendmahlssaal. Ebenso wie die meisten Apostel nicht aus Jerusalem waren, ist keine von euch aus Morangis, und dennoch müssen wir von da ausgehen, um in aller Welt das Werk Gottes zu vollenden, als ob es der Gedanke von Monseigneur Mermillod wäre, der Gedanke der Guten Mutter Marie de Sales Chappuis, der Gedanke all jener, die bei eurer Gründung dabei waren.
Ich erinnere mich, dass Monseigneur Mermillod und Monseigneur Robin (Generalvikar von Troyes) sagten: „Das ist ein neuer Bienenschwarm unter dem Himmel der Kirche, ein neuer Bienenschwarm, um an der Ehre Gottes zu arbeiten. Man muss hoffen, dass er zum größten Wohl der Seelen größer wird.“ Eure Aufgabe ist also etwas sehr Wichtiges. Denkt ihr genug darüber nach? Ohne Zweifel seid ihr gut, ihr seid ergeben, aber das genügt nicht. Ihr seid bei eurer Beschäftigung, das ist alles für euch, eure Gefährtinnen, das Haus, das ihr bewohnt, das ist euer ganzer Horizont. Meine Kinder, ihr müsst euch höher erheben, ihr müsst die Größe des begonnenen Werkes verstehen und ihr werdet es durch die Mittel der Ordensregeln und ihrer Beobachtung erhalten. Ihr seid gut und ergeben und ich anerkenne es gern. Neulich war der Hausseelsorger der Schwestern der Vorsehung, der mit mir von Saint-Bernard wegging, sehr erstaunt, als er sah, dass sich eine Schwester mit Kühen beschäftigte. Er sagte zu mir: „Wie, mein Pater, finden Sie Schwestern, die so etwas machen?“ Ich antwortete ihm: „Ich habe sehr viele gefunden, die zustimmten, mit den Mädchen in der Fabrik von Herrn Happenot zu arbeiten.“ „Aber ich verstehe das nicht“, sagte er mir. „Ich würde es nicht verstehen, wenn es anders wäre. Wenn von der Ersten bis zu Letzten nicht alle geneigt wären, die Kühe zu melken und alles zu machen, was man von ihnen verlangt, so würde ich sie nicht haben wollen.“
Ich ließ unsere Patres zu diesen Exerzitien kommen, damit sie sehen, wie ich zu euch spreche, denn ich werde nicht immer bei euch sein und ich will, dass sie wissen, wie ich euch erziehe. Das ist etwas Wesentliches, ein wichtiger Punkt, den mehrere von euch noch nicht genügend verstanden haben. Das Ordensleben, meine Kinder, ist kein gewöhnliches Leben. Ihr habt nicht genügend verstanden, dass es für euch die Hauptsache ist, Nonnen zu sein. Der heilige Franz von Sales will nicht, dass ihr Mädchen seid, sondern dass ihr euch über euren Charakter, über eure Gedanken erhebt. Ihr müsst männlich sein wie Männer. Ich will jedoch wohl, dass ihr nicht ganz so stark seid wie Männer, dass ihr reden und euch sogar beklagen müsst, aber wenn der erste Augenblick vorbei ist, soll es beendet sein. Die Grundlage eures Leben muss eine große Energie sein. Vermeidet es, bei euch selbst stehen zu bleiben, bei einer solchen Schwester, einem solchen Kind, einer solchen Schwierigkeit. Vermeidet es, euch um die Nahrung zu sorgen, und das Haus, in dem ihr wohnt, soll nicht der einzige Gegenstand eurer Gedanken sein. Heftet euch an den Heiland und nicht an euch selbst. Achtet sehr darauf.
Messt dem keine Wichtigkeit bei, das nur ein Anhängsel des Ordenslebens ist. Geht geradewegs auf das Ziel zu, auf das Wesentliche. Geht geradewegs zu unserem Herrn, der auf euch wartet, ohne euch bei den Einzelheiten des Weges zu verzetteln.
Es ist sehr gut im Orden der Heimsuchung, dass dort das Ich nichts zählt. Fragt eine Heimsuchungsschwester: „Was machen Sie?“ Sie wird euch antworten: „Ich gehe zu Gott.“ „Ihre Absicht?“ „Zu Gott gehen“: Ich lege großen Wert darauf, meine Kinder, dass es bei uns ebenso ist, und ich versichere euch, dass in das Herz des heiligen Franz von Sales und in meines nur die Nonnen jener eingeschrieben werden, die so handeln werden. Heißt das, dass ich in der Gemeinschaft zwei Teile mache? O, nein, ich stelle niemanden zur Rechten, niemanden zur Linken, ich stelle alle vor mich. Und das sind sogar diejenigen, die die meisten Schwierigkeiten haben, die einen besonderen Anteil aus meinen Gedanken und Gebeten haben.
Versteht also, dass diese Exerzitien etwas sehr Ernstes, etwas sehr Wichtiges sind. Wenn in euch keine wahre Grundlage des Ordensgeistes ist, sondern: „Meine Schwester, dies hat mir das gesagt, jenes gemacht….“ O, dann ist das Haferbrei. Wohlan, meine Kinder! Sursum Corda! Hebt euer Herz höher empor als das! Wenn unser Herz in Gott verankert ist, macht es uns wenig aus, was rechts oder links geschieht. Wenn wir uns über die irdischen Gebiete erheben, sind die Wolken unter uns. Kein einziges Hagelkorn, kein einziger Regentropfen erreicht uns. Warum seid ihr schwach, schmachtend? Weil ihr dieser oder jener gehorcht. Aber das ist es keineswegs! Fragt unsere Patres, wem sie gehören, wem sie gehorchen, sie werden euch antworten: „Gott“. Zu wem gehen sie? Wieder zu Gott. Und warum? Weil es Männer sind, die dem lieben Gott gehören wollen, denn der liebe Gott ist alles, und dass wir selbst ihm gehören, ist alles. Das Herz ist oben auf dem Gipfel, es ist nicht in den Wolken. Heißt das, dass ihr keine Herzenszuneigung zu euren Oberinnen haben dürft, dass ihr diese oder jene Mitschwester nicht lieben sollt? O doch! Liebt den lieben Gott und ihr werdet alle lieben, wie ihr sollt, und alle werden euch lieben. Da ist keine einzige Seele, die Gott liebt, die nicht mit mir verbunden wäre.
Meine Kinder, ich spreche zu euch, als ob ich Autorität hätte. Nehmt also, was ich euch sage, sehr wichtig. Heißt das, dass ihr die Sichtweise eurer Oberinnen annehmen sollt? Nun, heißt das, dass ihr alles gut finden werdet, was gemacht wird? Nein. Aber was macht das? Ihr wollt wirklich fromm sein? O, legt euer Herz in den lieben Gott und alles wird gut sein, alles wird vollkommen sein und ihr werdet Frieden, Liebe und Geduld haben, ihr werdet alles haben!
Versteht meine Überlegungen gut, meine Kinder. Diese Dinge habe ich euch oftmals gesagt, aber nicht so offen wie heute. Ich sage euch das, weil ich euch aufrichtig liebe. Ihr seid hier wie die Schwalben, die sich auf den Telegrafendrähten sammeln. Warum versammeln sie sich? Weil sie sich auf eine große Reise begeben. Sie fliegen in ein fernes Land. Sie verständigen sich, um diese große Reise, diese große Überquerung zu machen. Es ist ihr Ziel, in ein warmes Land zu kommen, um Nahrung zu finden. Unser Ziel ist es, zum lieben Gott zu gehen. Verirrt euch nicht in allem Möglichen, sonst wäre es die Erniedrigung, der Ruin eurer Seelen. Man macht damit nichts Gutes. Ich habe den lieben Gott sehr gebeten, starke, mutige Töchter zu bekommen.
Seht den heiligen Franz von Sales, wie alles in ihm würdig war. In einem Kloster der Heimsuchung war die Oberin ein wenig zu hart in der Beobachtung der Ordensregel. Der heilige Franz von Sales kommt eines Tages mit seinem Sekretär Herrn Michel ins Sprechzimmer. Die Oberin hatte soeben ein Grundstück gekauft. Sie zeigt ihn ihm durch das Gitter, obwohl es doch den Bischöfen erlaubt war, die Klausur zu betreten und umso eher noch dem heiligen Franz von Sales. Herr Michel sagte zu ihm: „Sie haben da eigenartige Töchter.“ Der heilige Franz von Sales antwortete: „Ich werde Ihnen etwas sagen, das sie trösten wird. Dieses haus wird, so lange es besteht, am meisten von allen an die Ordensregeln gebunden sein.“ „Ich verstehe“, sagte Herr Michel, „Sie haben für dieses Haus den Schmerz geopfert, den Sie empfanden.“
Ich habe euch heute ernste Dinge gesagt, meine Kinder. Bis jetzt haben wir nach dem gehandelt, das uns gut schien, aber wir können nicht mehr so handeln. Wir sind verpflichtet, ganz den Regeln der heiligen Kirche zu folgen und uns bereit zu machen, dass die Kongregation gegenwärtig ist, was sie später sein soll. Seine Eminenz, der Kardinal von Paris, will, dass unsere Ordensregeln in Rom vorgelegt werden. Sie müssen also gänzlich eingehalten werden, damit die Erzdiözese ihre vollständige Beobachtung bezeugen kann. Es gibt so vieles im lieben Gott zu sehen, damit wir einen festen, unerschütterlichen Weg beschreiten können. Jede wird etwas geben müssen und ich meinerseits bitte um die Gnade, alle persönlichen Opfer, die von mir verlangt werden, gut zu bringen, und wenn wir das großmütig tun, sind wir sicher, dass der liebe Gott bei uns ist. Das ist die wesentliche Bedingung, um das Gute zu bewirken. Dazu muss man sich an den lieben Gott wenden. Versteht die Notwendigkeit des Sursum corda, das Herz weit nach oben. Die sogleich auf den Grand Som [Berg, der die Grande Chartreuse, die große Kartause, überragt] steigen können, werden wahre Nonnen sein. Ich möchte, dass ihr nach den Exerzitien dorthin gelangt. Fühlt ihr, dass das, was ich euch sage, Worte der Wahrheit und des Lebens sind? Seid sehr treu und der liebe Gott wird mehr als ihr euch vorstellen könnt mit euch sein. Wenn man sich an die Seite des lieben Gottes stellt, wird man nie zurückgestoßen werden.
Beten wir gut, es scheint mir, dass ihr die Worte versteht, die ich euch sage. Der liebe Gott gibt mir das Gefühl dafür. Seid also sehr großmütig beim Annehmen der Schwierigkeiten. Das ist das ungesäuerte Brot, um das Osterlamm mit bitteren Kräutern zu essen. Das ungesäuerte Brot ist ein Teig ohne Hefe, es hat keinen Geschmack. Jeder hat seinen Teil des ungesäuerten Brotes. Ich habe meinen, ihr habt euren. Weist nicht euren Teil der Gnaden zurück, weist ihn nicht zurück! Sagt Jesus, dass ihr diesen Teil mit ihm essen wollt, teil es ihm durch die Opfer, die Wirrnisse, die Angst mit. Man kann nur einmal am Tag die Kommunion empfangen, aber mit eurem ungesäuerten Brot könnt ihr es zehnmal, zwanzigmal am Tag. Möge euch der Heiland Jesus dazu die Gnade verleihen und euer Brot des Lebens sein. Amen.