Exerzitienvorträge für die Oblatinnen 1882

      

9. Vortrag: Über die Keuschheit. Gefahren der natürlichen Anhänglichkeiten

Freitag Vormittag, 8. September 1882

Meine Kinder, heute Vormittag werde ich euch einige Worte über das Gelübde der Keuschheit sagen. Das ist ein Gelübde, durch das sich die Nonne verpflichtet, nicht zu heiraten, über sich, ihre Gefühle, ihre Eindrücke zu wachen, zu nichts zuzustimmen, das gegen die Keuschheit ist.
Die gewollte Jungfräulichkeit ist eine neue, vom Christentum eingebrachte Tugend. Die Alten kannten sie nicht. Sie ahnten ihre Würde, wie die Vestalinnen bezeugen. Unser Herr machte kein Gebot der Keuschheit, aber einen Rat. Um ihn zu befolgen, bedarf es einer besonderen Berufung. Die, welche den Rat unseres Herrn befolgen, sind glücklich. Sie müssen nur Gott gehorchen und nicht einem Wesen, das niedriger ist. Das gilt für alle Nonnen.
Aber für uns, meine Kinder, hat das Gelübde der Keuschheit etwas ganz Besonderes. Der heilige Franz von Sales sagte: Sie dürfen nur für ihren himmlischen Gemahl leben, atmen und streben. Wir fehlen also gegen diese Tugend, wenn wir uns selbst lieben, wenn wir unser Wohlbefinden lieben. Unsere Berufung nötigt uns, die ganze Zärtlichkeit unseres Herzens Gott darzubringen, nur nach ihm zu streben, und das nicht nur durch einige vorübergehende Taten, sondern immer. Zwischen dem Ein- und Ausatmen ist kaum eine Sekunde. Daraus folgt, dass es keinen unserer Augenblicke gibt, der nicht Gott gehört.
Meine Kinder, wer fehlt gegen diese schöne Tugend? Die, welche verweichlicht sind, die wollen, dass sie nichts stört oder behindert, die nur für sich selbst atmen. Es sind die, welche das Geschöpf lieben, die sich natürlich an eine Schwester binden, weil daraus folgt, dass das Herz nicht ganz Gott gehört.
Ihr dürft auch den Kindern nicht menschlich zugetan sein. Liebt sie in Gott. Ihr werdet mir sage: „Aber mein Vater, wie ist das auseinanderzuhalten?“ O, ich möchte euch dazu lieber nichts sagen, weil man es ohnehin fühlt. Ihr braucht euch nur zu fragen: Liebt ihr eure Mitschwestern, eure Kinder für euch oder für den lieben Gott? Ihr werdet euch darüber Rechenschaft geben, das ist klar wie der helle Tag. Ihr könnt versuchen, dieses klare Licht ein wenig zu verschleiern, aber ihr werdet es nicht löschen können. Geht eurer Seele auf den Grund, und dort werdet ihr sehen, dass euch der liebe Gott dazu ein richtiges Gefühl schenkt.
Ich werde mich wohl hüten, weiter auf dieses Thema einzugehen. Jede fühlt und sieht, wie das ist. Sobald ihr sagt: „Ich sehe nicht, ich weiß nicht recht.“ Ich weiß es zu gut! Es ist zu entschuldigen, dass der Geist etwas nicht versteht, aber das Herz versteht immer, wohin es seine Zuneigung richtet. Das fühlt man.
Nie wird eine Nonne in ihrer Berufung bleiben, nie wird sie durchhalten, wenn sie eine Zuneigung außerhalb ihrer Gemeinschaft hat, außerhalb dessen, was der liebe Gott will, das sie liebt. Die natürliche Zuneigung zu den Weltlichen ist nicht nur ein Fehler, sondern auch die größte Gefahr. Und von 100 Nonnen, die sich zu einer solchen Zuneigung hinreißen lassen, ist keine einzige, die eine gute Nonne bleibt. 99 harren nicht aus, und ich möchte nicht an der Stelle der 100. sein, um vor Gott zu erscheinen, und hätte sie Wunder gewirkt! Das ist eine nicht wieder gut zu machende Situation. Ihr besprecht eure Angelegenheiten mit einer weltlichen Person, ihr plaudert über die Schwestern der Gemeinschaft, wenn ihr nicht sofort damit aufhört, rennt ihr in euer Verderben.
Ich mache einen Vergleich. Da ist ein Priester, ein Ordensmann. Wenn er die Seelen der Personen nicht liebte, die sich an ihn wenden, wird er ihnen nichts Gutes tun können. Aber er wird ihnen nicht von seinen Angelegenheiten, seiner Gemeinschaft erzählen. Wenn er es macht, läuft er Gefahr, seinen Ordensgeist zu verlieren.
Ich weiß wohl, meine Kinder, dass dies keine von euch tut. Aber ich spreche darüber, damit ihr da eine klare Verhaltenslinie habt, und dass ihr nie zulasst, dass eine junge Nonne einer weltlichen Person zugetan ist.
Man möge sehr gute Beziehungen zu den Personen von draußen haben, nichts ist besser. Aber wenn das bis zur Vertrautheit geht, ist es der Gräuel der Verwüstung! Ich wiederhole es, von 100 Nonnen, die das machen, halten 99 nicht durch und für die 100. würde ich keinen Heller geben. Werden sie sich retten? Mein Gott, ich hoffe es! Aber sie werden ein schreckliches Fegefeuer durchmachen. Ich fürchte sogar, dass viele nicht hineingelangen. Bemerkt es, die Beziehungen des Priesters zu den Gläubigen sind keineswegs Beziehungen der Vertrautheit und des Vertrauens. Man muss euch diesen Vergleich nahebringen, meine Kinder, und vermeidet vor allem die natürlichen Freundschaften.
Besagt das, dass man die Seelen nicht zu lieben braucht? O, doch. Aber bleibt auf eurem Platz, bewahrt eure Würde. Übt euer Apostelamt aus, aber geht nicht bis zur Vertrautheit, zur Vertraulichkeit. An dem Tag, an dem ihr einer Person von draußen ein kleines Ärgernis anvertraut, das ihr in der Gemeinschaft hattet, wird man euch natürlich gegen eure Oberinnen, eure Mitschwestern Recht geben, und ihr setzt euch der Gefahr aus, eure Berufung zu verlieren. Ich wiederhole es noch einmal, unter 100 Nonnen, die ihre Gemeinschaft verlassen, sind 99, die diesen Weg gegangen sind. Heißt das, dass man zu dieser oder jener Person, die euch Sympathie bezeugt, nicht mildtätig, herzlich sein darf? O doch! Seid Beschützerin, Ratgeberin, Stütze, aber nie eine natürliche Freundin!
Bei den Kindern ist das Mittel, sie zu verlieren, sie natürlich zu lieben. Ich sah nie, dass ein von einer Nonne natürlich geliebtes Mädchen gut wurde. Wenn ihr sie natürlich liebt, wird sie die Strafe Gottes für Zeit und Ewigkeit treffen. Liebt sie natürlich und ihr seid sicher, dass es für immer vorbei ist. Es ist, als ob ihr ihr eine Fahrkarte des Verlierens geben würdet. Ich übertreibe nicht, ich habe meine Lektion nicht studiert, ehe ich sie euch hielt, ich habe sie in keinem Buch gelesen, aber ich sah sie um mich herum entstehen. Achtet gut darauf, fürchtet euch davor, werft in diese Seele nicht das Feuer, das nie erlöschen soll. Und ihr macht es unfehlbar, wenn ihr euch natürlich einlässt. Weint über dieses arme Mädchen, denn ihr müsst sie vielleicht die ganze Ewigkeit beweinen. „Aber, mein Vater, kann man für diese Person nicht beten, die man liebt?“ Sprecht dieses Gebet: „Mein Gott, lass mich sie nicht verlieren.“ Und sagt nicht mehr darüber, bitte. Oder auch: „Herr, ich übergebe sie dir.“ Und nicht mehr. Noch einmal: Ich bitte euch darum im Namen unseres Herrn, der diese Seele zurückgekauft hat, verliert sie nicht für die Ewigkeit! Ihr wäret grausam, denn die Kinder, die Gott euch schickt, sind Seelen, die euch anvertraut sind.
Meine Kinder, ihr müsst euch fest an euer Gelübde der Keuschheit halten. Man muss heikle Vorsichtsmaßnahmen treffen, weil der liebe Gott sehr streng ist. Man darf also nur für den Heiland atmen. Wir müssen es wie unser seliger Vater [Franz von Sales] machen, der sagte: Würde ich einen einzigen Faden der Zuneigung erkennen, eine einzige Faser meines Herzens, die nicht Gott gehört und nicht für ihn ist, würde ich sie sogleich ausreißen. Sucht diese Faser, diese Bindung. Reißt sie aus am Morgen bei der Betrachtung und am Abend bei der Gewissenserforschung. So werdet ihr zu den heiligen Frauen gehören, die unserem Herrn folgten, und die von ihm die Aufgabe erhielten, den Aposteln und Jüngern die Auferstehung zu verkünden. Ihr werdet die Helferinnen des Klerus sein. Amen.