8. Vortrag: Über die Armut - Fortsetzung
Donnerstag Abend, 7. September 1882
Meine Kinder, heute Vormittag sprach ich zu euch über das Gelübde der Armut. Dieses Gelübde hat nicht nur den Zweck, uns Verpflichtungen aufzuerlegen, es verschafft uns auch große geistliche Güter. Die Armut bringt uns die innere Freude, den Seelenfrieden und alle möglichen Hilfen von Gott. Die Armut gibt uns nicht nur Hilfen von Gott für uns, sondern auch für den Nächsten. Sie kann uns bis zur Macht bringen, Wunder zu wirken. Die gut geübte Armut ist für uns – ich wiederhole es – die Quelle einer sehr großen Zufriedenheit und eines inneren Friedens. Betrachtet die wahren Bettelorden, sie alle sind fröhlich. Man sagt oft: „Fröhlich wie ein Kapuziner.“ Die Karmelitinnen sind fröhlich. Die abgetöteten und armen Orden sind immer zufrieden. Gott gibt der Seele eine unvergleichliche Fröhlichkeit, wenn sie die Abtötung übt.
Oft seid ihr traurig, entkräftet. Ihr wollt das eine, dann das andere. Es gibt ein sehr wirksames Mittel gegen die Traurigkeit: seid arm und abgetötet. Nehmt bei eurer Mahlzeit, was ihr nicht mögt, esst, was euch nicht passt, wenn ihr dazu den Mut habt, und wenn es euer Magen zulässt. Wenn ihr barfuß gehen, hart liegen und nur Wasser trinken könntet, wäret ihr vollkommen glücklich. Die abgetöteten Seelen sind immer sehr glücklich und sehr zufrieden.
Ich kannte eine arme Frau, die von Natur aus einen traurigen und melancholischen Charakter hatte und trotzdem war sie froh, glücklich und zufrieden. Warum? Weil sie sehr abgetötet war, oft nur Brot aß und nur Wasser trank. Wenn sie die Traurigkeit zurückkommen fühlte, ergriff sie sogleich ihr Mittel, das ihr sehr gut gelang. „Da bin ich nun traurig“, sagte sie, „ich werde gleich Brot essen und Wasser trinken,“ und sogleich kam ihre Fröhlichkeit zurück.
Seid ihr traurig? Esst etwas weniger oder esst, was euch nicht schmeckt, und ihr werdet fröhlich sein. Bittet um die Erlaubnis, eine gute Buße zu tun, und die Fröhlichkeit wird in eure Seele zurückkehren. Ich wiederhole es euch: Wollt ihr gewohnheitsmäßig fröhlich und zufrieden sein und den Seelenfrieden haben, dann liebt es aus Wunsch und Zuneigung, arm zu sein. Wenn ihr euch etwas wünscht, seid ihr schlechter als die Reichen. In den Jahrhunderten des Glaubens gab es Könige, große Persönlichkeiten, die in dem Sinne arm waren, dass sie inmitten ihrer Reichtümer, ihrer Größen keinen Wunsch hatten. Sie hatten die Liebe zur Armut im Herzen.
Seht den heiligen Franz von Assisi: er war immer froh und so liebenswürdig, dass jeder seine Gesellschaft suchte. Er war sehr aufgeweckt. Warum das? Weil er äußerst arm war.
Ein altes chinesisches Sprichwort sagt: „Die Freude hat keine Schuhe.“ Wollt ihr eine große innere Zufriedenheit? Seid ganz arm, tötet euch ab. Die Frucht der heiligen Armut ist der Friede. Oft haben wir ihn nicht, wir suchen ihn und finden ihn nicht. Warum? Weil wir an die irdischen Dinge zu sehr gebunden sind. Wir wünschen sie uns zu sehr. Wir sind gebunden, angeleint wie die Vögel. Diese Leine hängt an uns und hindert unsere Seele, bis zu Gott zu fliegen. Wollte ihr die Gabe der Betrachtung, die Liebe zu Gott haben? Seid arm! O, wenn wir wüssten, was die Armut wert ist, wie würden wir sie lieben! Mit ihr würden wir die innere Freude, den Seelenfrieden besitzen, die ihre Belohnung ist.
Meine Kinder, liebt die Armut, entbehrt gerne. Wenn ihr die Perle der Betrachtung haben wollt, gebt gerne alles, was ihr habt. Ihr kennt das Gleichnis des Evangeliums (vgl. Mt 13,45-46): Ein Kaufmann, der schöne Perlen suchte, hatte eine teure gefunden. Er ging hin, verkauft alles, was er hatte, und kaufte sie. Unser Herr sagte außerdem: Geht, verkauft alles, was ihr habt, und ihr werdet einen Schatz im Himmel bekommen (vgl. Mt 19,21). Verkauft alles, was ihr habt, das heißt, löst euch völlig von allem. Das Verkaufte gehört uns nicht mehr. „Aber, mein Vater“, werdet ihr mir sagen, „ich habe nichts mehr.“ O, ich bitte euch um Verzeihung! Ihr hängt an eurem kleinen Haushalt, an euren Möbeln, an eurer Nahrung, an euren Vorlieben, verkauft das alles, um die kostbare Perle der Gottesliebe zu bekommen.
Die großen Gottesgaben sind an die Übung der Armut gebunden. Der heilige Bernhard, der heilige Franz von Assisi verdanken einen Teil ihrer großen Heiligkeit der Armut, die sie übten. Der heilige Bernhard hatte für sich die unbequemste Zelle gewählt. Als ihn der Pfarrer von Montièramey eines Tages besuchte, sagte er ihm: „Aber, mein Vater, wie können Sie, der Sie so leidend sind, in einer so kleinen Wohnung bleiben?“ „Mein Vater,“ antwortete der Heilige, „ich weiß nicht, was sie meinen.“ Ich weiß, dass uns unsere Gesundheit nicht gestattet, uns so sehr wie der heilige Bernhard abzutöten, und dennoch war auch er immer leidend. Viele seiner Wunder waren seiner Armut zuzuschreiben.
Liebt die Armut, meine Kinder, lasst euch von einer großen Liebe zu ihr durchdringen, denn sie erwirbt uns die Gabe der Betrachtung. Die heilige Theresa von Avila hatte die Gabe der Betrachtung, denn sie war frei von jeder Art von Bindung, von Selbstsuche. Daher wurde sie die heilige Theresa.
Gehen wir nach Nazaret, wo unser Herr dreißig Jahre in der Übung der Armut verbrachte. Man kann dieses heilige Haus, das nach Loretto gebracht wurde, nicht betreten, ohne reichlich Tränen zu vergießen. Alles ist dort so arm! Wenn es ein Palast wäre, würde man dort nicht weinen. Die Gabe Gottes ist also mit der Armut. Verstehen wir gut, was unser Herr in den Seligpreisungen sagt. Es ist sehr bemerkenswert: „Selig die Sanftmütigen, denn sie werden die Erde besitzen. Selig, die reinen Herzens sind, denn sie werden Gott schauen. Und selig seid ihr Armen, denn das Himmelreich ist euer. Das ist euer Eigentum, eure Gabe.“ (Vgl. Mt 5,3-12). Unser Herr wendet sich also in ganz besonderer Weise an die Armen. Er sagt ihnen: „Das Himmelreich ist euer auf Erden und im Himmel.“ Auf der Erde ist es die Freude, der Friede, die Macht Gottes über die Seelen. Es ist die stete Einheit mit Gott. Im Himmel ist es die ewige Belohnung, die Erfüllung aller unserer Wünsche, die Fülle aller Freuden, schließlich das Leben mit Gott selbst. Wem gibt unser Herr diese wunderbaren Versprechen? Den großen Tugenden? Nein, der Armut. Den Ordensleuten, euch, meinen Kindern, gelten diese großen Versprechen.
Da uns die Armut so viele Güter verschafft, lösen wir uns täglich von etwas. Seid wie die Armen, die nichts haben, die nichts suchen, wie die Armen des Evangeliums. Heute betrachtet man die Armen wie Unglückliche. Wenn der Geist des Glaubens noch in der Gesellschaft herrschte, wären die Glücklichsten nach Gott die Armen.
Meine Kinder, ich möchte wohl, dass ihr mich versteht, und dass ihr die Armut liebt. Seid immer an etwas arm. Habt es gern, dass in eurem Etui eine Nadel fehlt, dass in eurem Papier, in euren Bleistiften, in alle, die Armut fühlbar ist. Entbehrt gern immer etwas. Nehmt, woran ihr am meisten hängt, löst euch davon, in dem ihr es der Oberin für die Gemeinschaft gebt. Macht euch das zur Regel, sagt euch, dass den Oblatinnen immer etwas fehlen muss.
Möchtet ihr nicht diesen Frieden, diese himmlische Freude, dieses Glück, das alles übertrifft, das den Himmel fühlt? Wohlan! Erkauft es euch, in dem ihr den Verzicht, die Abtötung, die Armut übt. Seid nie irgendwo gut drauf, in eurer Kleidung, eurem Schuhwerk. In eurer Zelle soll immer etwas sein, das zu wünschen übrig lässt. Versteht das, meine Kinder, diese Liebe und diese Übung der Armut ist äußerst wichtig.
Erinnert euch immer an die paar Worte, die ich euch heute Abend sagte. Ich wünsche mir, dass der in seinem kleinen Haus zu Nazaret arme göttliche Meister euch verstehen lässt, wie gut es ist, mit ihm arm zu sein.
Als der heilige Petrus auf dem Land in der Umgebung von Rom ging, heißt es, dass er es nicht verhindern konnte zu weinen. Seine Jünger fragten ihn nach dem Grund und er antwortete: „Diese Landschaft erinnert mich sehr stark an Galiläa, wo der Heiland mit uns lebte. Als wir in der Nacht schliefen, bemühte sich der gute Meister, uns mit unseren Mänteln zuzudecken, damit wir nicht froren. Und wenn wir uns bei Tag ausruhten, brach er Zweige von den Bäumen, um uns zuzudecken, damit uns die Hitze der Sonnenstrahlen nicht erreichte. Wenn wir nichts zu essen hatten, zerrieb er einige Ähren mit der Hand und gab sie uns.“ So tief berührte die Erinnerung an die Aufmerksamkeiten des guten Meisters für seine Jünger das Herz des heilige Petrus. Die Apostel wären von den Aufmerksamkeiten des Heilands nicht so berührt worden, wenn sie alles gehabt hätten, was sie brauchten.
Meine Kinder, wenn ihr Ziel der Aufmerksamkeit des Heilands sein wollt, seid arm in eurer Nahrung. Er wird euch dann selbst das Nötige geben. Seid arm in eurer Kleidung, fühlt euch gern nicht wohl, er wird sich um euch kümmern, er wird über euch wachen, wie die zärtlichste Mutter über ihr kleines Kind wacht. Wollt ihr den Weg seines Herzens finden? Verzichtet auf etwas. Das ist unser Geist. O, verzichtet, meine Kinder, und ich wiederhole es, unser Herr wird euch immer das Nötigste geben.
Bittet den göttlichen Armen des Tabernakels, diese Dinge zu verstehen. Wenn ihr sie übt, werden sie euch die Titel des Paradieses in die Hand geben, das Himmelreich ist euer. Ihr bemerkt schon ein Leuchten, eine kleine Helligkeit. Und wenn ihr durch die Tür dieses Lebens gegangen sein werdet, wird euch der Himmel gehören, ihr werdet ihn verdient haben. Amen.