10. Vortrag: Über die Keuschheit - Fortsetzung. Über die Reinheit des Herzens
Freitag Abend, 8. September 1882
Meine Kinder, verdoppelt euren Mut, eure innere Sammlung, euer Gebet, um in euch die Früchte der Exerzitien gut zu sichern. Wenn wir brav auf die innere Stimme des lieben Gottes hören, wenn unser Herz gut veranlagt ist, werden wir während der Exerzitien reichlich beschenkt werden.
Die Exerzitien sind eine Zeit des Segens, eine Zeit, in der sich der liebe Gott offenbart und in der er uns den Weg zeigt, auf dem wir gehen müssen. Ich bemerke das jedes Jahr im Kloster der Heimsuchung. Mehrere Schwestern sagen mir nach den Exerzitien, was ihnen während des Jahres begegnen wird. Sie irren sich nicht, sie fühlen, was ihnen der liebe Gott gibt. Diejenigen, die während des Jahres sterben werden müssen, haben eine Vorahnung. Die Exerzitien sind für sie das Vorwort des nächsten Jahres. In einem Vorwort kündet der Autor an, was er in seinem Buch sagen will. Und ich sehe, dass die Exerzitien für die guten Nonnen immer das Vorwort des folgendes Jahres sind. Meine Kinder, die unter euch, die während der Exerzitien Schönes und Gutes vom lieben Gott erhalten wollen, müssen ein sehr reines und gelöstes Herz haben.
Ich sprach heute Vormittag über euer Gelübde der Keuschheit. Lasst in eurem Herzen keine andere Liebe zu als die zum lieben Gott. Er will mit einer ausschließlichen Liebe geliebt werden. Die Liebe ist etwas sehr Hohes. Der heilige Franz von Sales sagt mit der Heiligen Schrift, dass die Liebe stark wie der Tod ist. Man geht sehr weit in der Gottesliebe, wenn man ein sehr gelöstes Herz hat. Diese Liebe kann bis zum Martyrium gehen. Ihr werdet alle diese Vorteile genießen, wenn ihr nur für den himmlischen Gemahl ein- und ausatmet. Ihr werdet dann unseren Herrn in den verschiedenen Handlungen eures Tages erkennen, aber vor allem in der Betrachtung.
Meine Kinder, wer sieht den lieben Gott schon auf Erden? Es sind die reinen Herzen. Wenn es aber in uns eine ungeordnete Anhänglichkeit gibt, sehen wir Gott nicht, offenbart er sich uns nicht. Und wie kann man den liebe Gott auf Erden sehen, wenn man ihn von Angesicht zu Angesicht nur im Himmel sieht? Meine Kinder, einige Seelen sehen ihn schon auf wunderbare Weise hier herunten.
Die Gute Mutter Marie de Sales Chappuis sah ihn überall, wo sie ging. Der Heiland begleitete sie, folgte ihr ins Kloster. Die Gute Mutter sah ihn so, weil sie seit ihrer zartesten Kindheit sich eine wunderbare Herzensreinheit bewahrt hatte. „Aber“, werdet ihr mir sagen, „hatte die Gute Mutter nicht sehr außergewöhnliche Gnaden?“ Ohne Zweifel, aber ich wiederhole es, sie sah Gott, weil ihr Herz durch das Fehlen von Sünden rein war, weil sie von irdischen Anhänglichkeiten losgelöst war, losgelöst von sich selbst, und sich nie eine Zufriedenstellung gewährte. Der liebe Gott gestattete es ihr nicht. Zu diesem Thema werde ich euch die Geschichte von ihren kleinen Löffeln erzählen.
Als die Gute Mutter krank war, musste sie ein sehr starkes Medikament nehmen. Der Arzt hatte empfohlen, das Medikament nicht mit einem Metalllöffel umzurühren, sondern mit einem Löffel aus Holz oder Knochen, weil dieses Medikament die verschiedenen Metalle oxidierte. Nun gab es keine solchen Löffel im Haus.
Eine befreundete Dame und Wohltäterin des Klosters erfuhr von der Not der Ökonomin und schickte sogleich ein Kästchen mit kleinen Löffeln aus Elfenbein, die kunstvoll geschnitzt waren. Die Gute Mutter, die einen sehr guten Geschmack hatte, findet sie sehr hübsch und hält einen Augenblick inne, um sie mit Wohlgefallen zu betrachten. Aber bei der Abendbetrachtung hat sie nicht mehr vom lieben Gott bekommen. Gewöhnlich erhielt sie da viel. Sie erzählte mir davon oft sehr Schönes. Am nächsten Morgen macht die Gute Mutter ihre Betrachtung und erhält wieder nichts. Sie bleibt zwei oder drei Tage in diesem Zustand.
Sehr überrascht beklagt sie sich beim lieben Gott und sagt ihm: „Herr, wo bist du denn? Wieso lässt du mich in diesem Zustand?“ Der Heiland antwortet ihr: „Man muss die kleinen Löffel betrachten.“ Die Gute Mutter verstand. Sie machte ihren Fehler wieder gut und der Heiland kam zurück.
Ihr seht es, meine Kinder. Selig, die ein reines Herz haben, denn sie werden Gott schauen. Sehr gut gelöst und abgetötet zu sein, ist die Bedingung, um Gott zu sehen.
Schwester Marie-Geneviève, die ebenfalls eine äußerst reine Seele hatte, sah auch den lieben Gott. Der heilige Victor von Plancy hatte in seiner kleinen, beim Fluss Aubè erbauten Zelle oft Verbindungen mit Gott. Engel besuchten ihn, weil seine Seele sehr rein war. Der heilige Bernhard sprach im Stundengebet, das er zu Ehren Gottes verfasste, sehr schön von ihm. Es war ihm gegeben, sich oft der Anschauung Gottes zu erfreuen. Er sah den Himmel sich vor seinen Augen öffnen. Die Schau des Himmels verlangt einen reinen Blick.
Ihr versteht es, meine Kinder, die Reinheit des Herzens ist die Bedingung, um Gott zu sehen. Werden wir also den lieben Gott sehen wie die heiligen Seelen, von denen ich euch erzählte? Wir werden ihn weniger fühlbar sehen, aber nicht weniger wirklich. Wenn man arbeitet, sieht man durch den Glauben den lieben Gott, der da ist und uns hilft. Wenn man leidet, fühlt man ihn auch. Wenn man einen schweren Gehorsam gerne ausführt, sieht man den Heiland, der uns vorangeht. Die Gute Mutter Marie de Sales Chappuis sah ihn wirklich vor sich hergehen. Wir haben dieses Glück nicht, aber wenn wir ein sehr reines Herz haben, werden wir ihn fühlen und mit ihm wie mit einem Freund sprechen.
Alle Worte des Evangeliums sind bemerkenswert. Die Armen haben das Himmelreich für sich, es gehört ihnen, es ist ihr Los, ihr Eigentum. Was die reinen Herzen betrifft, so ist es ihr Anteil, Gott nicht wie jeder zu sehen, aber sie werden ihn sanfter, vollständiger sehen. Ihnen wird es zuteil werden, Gott zu sehen. Niemand wird ihn sehen, wie sie ihn während ihres Lebens und nach ihrem Tod sehen werden. Ich wiederhole es: Dieses Wort unseres Herrn ist sehr bemerkenswert: Die reinen Herzen werden Gott schauen. Sie werden ihn im Himmel sehen, sie werden ihn in allen Handlungen des Lebens sehen. Erinnert euch an den Glauben Abrahams und seiner Gerechtigkeit. Er sieht Gott, er geht mit ihm. Auch Mose sieht Gott auf dem Berg Sinai. Die große Herzensreinheit wird uns Gott sehen lassen, vor allem bei der Betrachtung werdet ihr ihn sehen.
Wenn unser Herz sehr rein und losgelöst ist, ist die Betrachtung für uns eine Zeit des Ausruhens. Wir sind da, beim Heiland wie Magdalena, wie der geliebte Jünger beim Abendmahl. Wir sehen ihn, wir fühlen ihn. Er ist das, es ist der Augenblick, sich mit ihm zu unterhalten, da wir das Glück haben, ihn zu hören, ihn zu kosten. Ihr werdet mir sagen: „Aber, mein Vater, es ist nicht immer so.“ O, nein, aber wenn man ein reines Herz hat, geschieht das fast ständig. Gott liebt so sehr die reinen Herzen, dass es ihm eine Wonne ist, bei ihnen zu sein.
Unser Herr hatte seine Wonne mit den Kindern, und auch mit den Seelen, die ihnen ähnlich sind, mit denen, die keine anderen Vorlieben haben als seine, die sich nur an ihn binden wollen. Er ist bei der Betrachtung bei ihnen.
Ihr beklagt euch, eure Betrachtung nicht gut machen zu können. Warum das? Weil euer Herz nicht genug rein ist. Wie soll der Spiegel eures Herzens Gott wiedergeben, wenn ihr so viel Staub darauf lagern lässt? Ihr atmet nur für euch selbst! Euer Atem trübt den Spiegel, und wenn der liebe Gott kommt, um sich vor den Spiegel eurer Seele zu stellen, kann sich sein göttliches Antlitz nicht widerspiegeln.
Dieser Vergleich soll euch verständlich machen, wie notwendig es ist, ein reines und freies Herz zu haben, um den lieben Gott zu sehen. Heißt das, dass eure Betrachtung immer von Erleuchtungen begleitet wird? O, Nein! Der liebe Gott lässt sich gerne einladen, rufen, und nachdem er uns einige Zeit leiden ließ, kommt er zu uns zurück, dann sind wir glücklicher, zufriedener. Aber – ich wiederhole es – diese Abwesenheiten sind für das reine Herz kurz. Wenn uns unsere Betrachtung schwer fällt, werfen wir einen Blick auf den Spiegel unseres Herzens und wir werden sehen, dass der Widerstand, das Hindernis meistes von mehr oder weniger ungeordneten Zuneigungen kommt.
Versteht ihr nun, meine Kinder, euer Gelübde der Keuschheit? Versteht ihr den Vorteil, von jeder menschlichen Zuneigung rein zu sein?
Die ersten Mütter der Heimsuchung versammelten sich bei ihrem heiligen Gründer, um ihm über ihre Betrachtung Bericht zu erstatten. Was sagten sie? Nehmt das wunderbare Buch der „Abhandlung über die Gottesliebe“, und ihr werdet sie nacheinander erkennen. Der heilige Franz von Sales wendete sich an sehr reine Seelen, zu denen der liebe Gott oft kam. Daher benützte er, was diese heiligen Seelen ihm sagten, um sein Buch zu verfassen.
Seht, meine Kinder, wenn der Anfang schön ist, wenn die ersten Schwestern Gott sahen, sehen ihn die anderen auch. Doch wenn die ersten ihn nicht sehen, wie werden ihn dann die anderen sehen? Entschuldigt, wenn ich oft auf denselben Gedanken zurückkomme, aber es ist aus Liebe zu euren Seelen und damit ihr alle davon durchdrungen seid, dass es wie die Grundfeste eures Ordenslebens ist.
Wir werden also wohl den lieben Gott um diese große Loslösung des Herzens bitten, damit wir ihn bei der Betrachtung sehen. Es ist so schön, den liebe Gott bei der Betrachtung zu sehen.
Wenn ich die Gute Mutter Marie de Sales Chappuis nach ihrer Betrachtung besuchte und sie das Gitter des Sprechzimmers öffnete, war ihr Gesicht wie ganz in das Licht Gottes getaucht. Man sah, dass sie aus einer göttlichen Atmosphäre kam, ihr Gesicht strahlte wie das von Mose, über den es in der Heiligen Schrift heißt: „Während er mit Gott sprach, erstrahlte sein Gesicht“ (vgl. Ex 34,30). Und als er vom Berg hinabstieg, verhüllte er sein Gesicht, damit die Hebräer nicht von seinem Glanz geblendet werden. Ich verstehe das.
Mehrere Personen wagten es nie, die Gute Mutter Marie de Sales Chappuis zu besuchen. Ich kannte unter anderem einen jungen Professor, der nie mit ihr sprechen wollte, ohne vorher gebeichtet zu haben, aus Furcht, dass sie ihm seine Sünden sagte.
Die Gute Mutter saht Gott gewohnheitsmäßig und alles in ihm. O, wie schön war es, was der liebe Gott ihr sagte! Es war gut und sehr nützlich für jene, denen sie es mitteilte. Man erfuhr, was im Himmel vor sich ging. Selig, die reinen Herzen, denn sie werden Gott schauen.
Meine Kinder, wir werden also unseren Herrn um die Gnade bitten, in der Betrachtung einen Vorgeschmack dieser Schau zu bekommen, die das Glück der Erwählten im Paradies ausmacht. Amen.