6. Vortrag: Über die in den Beschäftigungen, in der Erholung und durch das Gebet geübte Nächstenliebe
Mittwoch Abend, 6. September 1882
Meine Kinder, der Fortgang der Vorträge braucht nicht unsere innere Sammlung zu stören. Wir müssen auf unsere Exerzitienübungen sehr aufpassen und uns all dessen bedienen, was wir hören, um unsere Vorsätze vorzubereiten, uns zu sammeln und uns auf unsere Vorlieben und Gedanken zu konzentrieren. Was immer uns gesagt wird, soll uns mit unserem Herrn vereinen.
Heute Abend werde ich das Thema fortsetzen, das ich euch heute Vormittag vortrug. Ich sagte euch, dass es uns an Nächstenliebe fehlt, weil wir nicht wissen, weil wir in unseren Angelegenheiten blind sind, weil wir die Fehler der anderen, aber die eigenen nicht bemerkt, weil man danach strebt, durch den Willen, den Feinheiten des Herzens und des Geistes zu herrschen, weil man das Bedürfnis hat, geliebt zu werden. Diese Anlagen haben wir wegen vieler Verfehlungen gegen die Nächstenliebe. Wir geben uns über unseren Charakter nicht gut genug Rechenschaft. Es ist da etwas, das wir nicht wissen, und – ich wiederhole es noch einmal auch im Sinne der guten Marie de Sales Chappuis – die Unwissenheit ist die tiefste und allgemeinste Wunde, die uns die Erbsünde zufügt. Es muss unser ganzes Herz Gott um das Licht bitten, um alles zu sehen, das uns fehlt. Wir müssen ihn um die Nächstenliebe bitten, da er ganz Liebe ist. Er ist der große Meister dieser Tugend. Um das Licht zu bekommen, muss man beten und nachdenken, weil man nur durch das Gebet und das Nachdenken lernt.
Meine Kinder, es fehlt uns an der Nächstenliebe, weil wir unwissend sind, und sehr oft denken wir nicht. Zum Beispiel fehlen die, welche mit anderen Schwestern zusammen sind, gegen die Nächstenliebe, weil sie nicht daran denken. Sie haben eine mangelhafte Art zu sehen, zu handeln, zu sprechen, über die sie sich nicht Rechenschaft geben, aber die, die bei ihr sind, bemerken es. Wenn zwei Schwestern mit derselben Beschäftigung betraut sind und eine davon einen beträchtlichen Fehler gegen die Nächstenliebe macht, ist es mir liebe, wenn die andere es bemerkt, weil dann die, welche fehlte, sich bessert. Nichts ist so sehr ein Ärgernis für die Gläubigen, als zwei Ordensschwestern zu sehen, die nicht in aller Herzlichkeit, mit den Worten, die die Ordensregel vorschreibt, miteinander sprechen, wenn sie „Meine Schwester“ sagen. Diese Worte sind einfach, aber sie sind höflich, herzlich, gläubig.
Es ist eine wesentliche Bedingung, dass in unseren Beziehungen zueinander alles ganz einfach ist, dass alles herzlich ist, dass unsere Worte sehr angemessen sind. Ich wiederhole es oft, man denkt nicht daran. Man reicht einander einen Gegenstand sehr brüsk und wenig höflich. Das zeigt von einer fehlerhaften Erziehung. Es ist ein Vorwurf, den ihr euch machen müsst, euer Noviziat, eure klösterliche Erziehung und Ausbildung nicht besser genützt zu haben. Man muss sich die Gegenstände mit Achtung in der Art des heiligen Franz von Sales mit derselben Höflichkeit vorstellen, die wir zu Personen hätten, die unsere Vorgesetzten sind. Es muss unsere Handlungsweise so achtungsvoll sein, dass wir den Nächsten ehren, dass wir uns zu ihm immer aufmerksam verhalten.
Wir müssen, meine Kinder, die heilige, sanfte, milde, anmutige Nächstenliebe in allen unseren Worten, unseren Handlungen und sogar in unserem Gesichtsausdruck einhalten. Wir müssen daran denken, dem Nächsten in unserer Arbeit ein gutes Gesicht zu zeigen. O, in der Arbeit! Wenn zwei Schwestern irgendwo zusammenarbeiten, wenn sie zum Beispiel unterrichten, sollen das Wort, die Handlungsweisen und die Gestalt gut sein, einfach, vertrauensvoll, entgegenkommend und mildtätig. Warum machen wir es nicht so? Warum fehlen wir da? Weil wir es nicht wissen, nicht daran denken. Viele Fehler sind der Ungeschicklichkeit, dem Fehlen an Aufmerksamkeit zuzuschreiben.
Wir nützen nicht die Gnaden, die der liebe Gott uns schickt, und die die Nächstenliebe verschafft. Der Heiland entzieht sie uns, weil wir nicht treu waren. Wir fühlen und verlassen, von unserer Berufung abgewendet. Wir fühlen uns allein und unwohl und das, weil uns die Liebe zum Nächsten fehlt. Der liebe Gott kommt oft durch das Herz des Nächsten zu uns. Also die Nächstenliebe in der Arbeit durch gute Worte, gute Beispiele und ein gutes Gesicht.
Jetzt, meine Kinder, die Nächstenliebe in der Zeit der Erholung. Denken wir genau daran? Wir denken wohl daran, den Nächsten nicht zu verletzen, nicht zu betrüben. Ich glaube gern, dass man keine Bemerkungen machen will, die ihn demütigen könnten. Man will den Nächsten nicht verletzen, nicht seine Handlungsweise kritisieren, seine Ausdrucksweise, denn das wäre eine schwere Verfehlung gegen die Nächstenliebe. Und da die meisten von euch das Gelübde der Nächstenliebe abgelegt haben, wollt ich ihm nicht untreu werden. Ich glaube, dass mich alle gut verstehen.
Aber man denkt nicht an den Geist der Erholung. Die Erholung ist gemacht, um sich zu erholen, und um die Gemeinschaft zu erholen. Wenn die Erholung nur für sich wäre, wäre es bequemer, in eine Ecke des Gartens zu gehen und sich dort wohl zu fühlen. Aber in der Gemeinschaft ist die Erholung für die Gemeinschaft. Tragt ihr also euren kleinen Teil bei, um diese Übung froher, angenehmer zu machen, als sie wäre, wenn ihr nicht da wäret? Muss man deshalb Komplimente machen, Schmeicheleien sagen? O, nein! Aber wenn ihr das Werkstück einer unserer Schwestern reicht und ein kleines, angenehmes, höfliches Wort sagt, ist die Schwester zufrieden. Ich wiederhole es, man muss sich nicht Komplimente machen, das wäre schlecht, aber wenn man im Herzen die Nächstenliebe hat, findet man etwas Liebenswürdiges, das man seiner Mitschwester sagen kann. Man hat Anteil an dem, das sie liebt und sagt und auch an ihren Schmerzen und Heimsuchungen. Und dadurch ermutigt man sie, weil es ihre Seele erfreut. Wisst ihr, meine Kinder, wie unendlich gut ein so verbrachte Erholung tut?
Bei Besuchen berührt die ankommende Postulantinnen die Erholung, die Herzlichkeit der Schwester am meisten. Erinnert euch wohl, wir gehen zur Erholung nicht nur für uns, sondern für die anderen, für die Gemeinschaft, für jede unserer Mitschwestern. Nichts erhebt die Herzen so sehr wie eine so verbrachte Erholung. Jede trägt ihren Anteil, ihren kleinen Tribut hinein, das gilt dem lieben Gott, er ist da. Ich sage euch wahrhaftig, wenn ihr zwei oder drei in seinem Namen vereint seid, ist er mitten unter euch. Versteht wohl die Wichtigkeit der Erholung, macht sie so. Also die Nächstenliebe bei den Beschäftigungen, in der Erholung. Denkt getreu daran, meine Kinder.
Noch etwas, das wir zu sehr aus den Augen verlieren: die Nächstenliebe im Gebet, die Nächstenliebe bei Gott. Man betet nicht genug für die Gemeinschaft, für unsere Mutter Generaloberin, für die Mitschwestern allgemein, für jede Mitschwester im Besonderen, für diese oder jene, die uns ein wenig Kummer verursachte, mit der wir Schwierigkeiten haben, eine Mühe des Geistes, des Herzens. Denken wir daran? Wie viele haben im Laufe dieses Jahres oft für unsere Mitschwestern gebetet? Nicht viele vielleicht. Und warum? Weil ihr nicht daran gedacht habt.
Wir müssen für unsere Oberinnen, für unsere Mitschwestern, für die beten, denen wir unterstehen. Am Morgen müsst ihr euch in eurer Betrachtung mit der Mitschwester vereinen, die während des Tages mit euch in Beziehung sein wird. Das ist die zu befolgende Ordensregel. Also das Gebet für die, mit denen wir in Beziehung sind, besonders für die, mit denen wir arbeiten, damit wir im Herzen unseres Herrn ein und dieselbe Seele sind.
Meine Kinder, steht in den Büchern, die ich hole, was ich euch sage? Nein, ich inspiriere mich an unserem seligen Vater [Franz von Sales], was er wollte, dass wir machen. Und erinnert euch, welche Macht er überall hatte, die ihn umgaben, wie alles, was er unternahm, gelang! Er kannte das Geheimnis der Macht über die Herzen, der Liebe zum Nächsten.
Üben wir also die Nächstenliebe des Gebetes für unsere Oberinnen, üben wir diese Nächstenliebe zu unseren Mitschwestern, vor allem zu denen, die gerade eine Heimsuchung, eine Versuchung erleben. Beten wir für jene, die bezüglich ihrer Berufung, ihrer Familie Schwierigkeiten haben. Und wenn ihr dieses Mühsal mit ihnen tragt, wird eure Belohnung sogleich groß sein, weil ihr die Bürde eurer Schwestern erleichtert habt, in dem ihr sie mit ihnen getragen habt.
Meine Kinder, macht eure Gewissenserforschung über die Nächstenliebe, in dem ihr diese Regel befolgt. Sagt euch: „Da ist mein Gelübde der Nächstenliebe.“ Es erstreckt sich auf alle Empfehlungen, die ich euch soeben gab. Ihr habt vielleicht nie daran gedacht. Von nun an werdet ihr daran denken, ihr werdet es euch merken. Ist es schwer, sich daran zu erinnern? O, nein, meine Kinder, und wenn ihr darin treu seid, werdet ihr ganz einfach Heilige werden, denn es ist der Weg der Vollkommenheit! Wenn ihr hingegen nicht macht, was das Herz unseres Herrn verlangt, ich weiß nicht, ob er seinen Blick der Liebe auf euch werfen wird. Er könnte euch nur wie Fremde betrachten.
Meine Kinder, eine halbe Unze von dem, was ich euch da sage, ist mehr Wert als hundert Bücher über die Abtötung, die gemacht sind, um ihrem Geschmack, ihrer Handlungs- und Sichtweise zu folgen. Heißt das, dass man sich nicht abzutöten braucht? O doch, ihr werdet es sehen, ich werde darauf zurückkommen. Aber warum ist die Nächstenliebe so kostbar? Weil es Gott selbst ist, und was Gott ist, ist mehr Wert als alles andere. Gott ist die Liebe, sagt der heilige Apostel Johannes, und wer in der Liebe bleibt, bleibt in Gott und Gott bleibt in ihm (vgl. 1 Joh 4,7-16). Es ist also die Liebe etwas höchst Hervorragendes. Wenn wir die Liebe üben, vereinen wir uns mit Gott, sind wir mit Gott, treten wir in Verbindung mit Gott.
Das, meine Kinder, ist die Lehre der Nächstenliebe. Mögen alle, die das Gelübde der Nächstenliebe ablegen werden, diese Lehre gut überdenken, sie gut üben, und sie werden dem Herzen des lieben Gottes teuer sein. Ihr werdet auch dem Herzen der Personen teuer sein, mit denen ihr euch beschäftigt, die ihr um euch habt, die mit euch arbeiten werden. Die Liebe ist das Band aller Herzen, die Quelle allen Glückes von Zeit und Ewigkeit. Amen.