Exerzitienvorträge für die Oblatinnen 1882

      

5. Vortrag: Über die Nächstenliebe. Über die Charakterfehler

Mittwoch Vormittag, 6. September 1882

Meine Kinder, machen wir wohl unsere Exerzitien mit viel Mut. Der heilige Franz von Sales sagt oft: „Seid guten Mutes!“ Er kommt sehr oft auf diesen Gedanken zurück. Wir können sie tatsächlich nur mit Mut gut machen. Das Wort Tugend bezeichnet eine ständige Anlage, gut zu handeln, sich zu überwinden.
Während der Exerzitien müsst ihr guten Mutes sein, um eure Übungen sehr sorgfältig zu machen. Ich wiederhole es: die Exerzitien haben etwas Sakramentales. Wenn man die Taufe spendet und nur darauf achtet, das Wasser zur gleichen Zeit anzuwenden, wie man die Worte ausspricht, ist es keine sorgfältige Taufe. Ebenso müsst ihr eure ganze Sorgfalt darauf verwenden, damit die Gefühle und das Bemühen eurer Seele den Übungen der Exerzitien entsprechen, damit sie euch nützlich sind. Seid also sehr genau, der liebe Gott ist mit euch, wenn man sich bemüht, hilft er wohl. Fasst also Mut, meine Kinder, damit ihr ganz darangeht, gute Exerzitien zu machen.
Heute Vormittag will ich über die Nächstenliebe sprechen. Unser seliger Vater [Franz von Sales] hatte die Absicht, seine Kongregation ohne die Gelübde der Armut, der Ehelosigkeit und des Gehorsams zu gründen. Er wollte nur ein einziges, das Gelübde der Liebe. Er hatte sehr recht, unser guter heiliger Franz von Sales. Er ist viel schwieriger, die Liebe, vor allem die Nächstenliebe zu üben als die anderen drei Gelübde. Man gehorcht seiner Oberin gemäß den Ordensregeln, man kann arm sein, man kann sein Herz beim lieben Gott halten, aber die Liebe zum Nächsten ist etwas ganz anderes. Unser seliger Vater [Franz von Sales] wollte nur die Liebe, weil sie von allen Tugenden, die in der Gemeinschaft zu üben sind, die schwierigste ist. Aber wenn sie die schwierigste ist, ist sie auch die verdienstvollste.
Wie soll man also die Liebe üben? Es ist unnötig, dass ich zu dieser Tugend auf viele Einzelheiten eingehe. Der heilige Johannes sagt: „Gott ist die Liebe, und wer in der Liebe bleibt, bleibt in Gott und Gott bleibt in ihm“ (1 Joh 4,16b). Seht ihr, wie schön die Liebe ist. Es ist der Himmel! Aber, wartet … Es ist der Himmel von der einen Seite und nicht immer von der anderen. Der Himmel von der Seite Gottes, aber von unserer ist es meistens Mühe, harte Arbeit und Opfer. Es ist nichts so schwer zu üben wie die Nächstenliebe, aber es gibt auch nichts Schöneres, da es der Himmel ist.
Ihr habt fast alle das Gelübde der Liebe abgelegt. Ich bemerke, dass man im Allgemeinen milde ist. Und da ich euch über die Liebe predige, muss ich selbst milde sein. Meine Kinder, ihr habt alle den Wunsch, die Liebe zu üben. Und diese Tugend blüht unter euch, weil jede ihren ganzen guten Willen dazu beiträgt. Es bleiben jedoch viele kleine Punkte, die man nicht so beobachtet, wie es nötig wäre, - ohne Zweifel, weil man nicht daran denkt – und das sind die Einzelheiten, die ich euch anführen werde.
Der französische Schriftstelle Jean de La Fontaine (1621-1695) sagte, dass wir alle als Bettler geschaffen wurden, da wir die Fehler der anderen in die Tasche vorne stecken, die unseren in die hinten. Er sprach wahr. Wir kennen uns selbst nicht, und wir halten uns für sehr geschickt, über den Nächsten zu urteilen. Wenn ich den Wert einer Mitschwester sehen will, gebe ich ihr daher eine Postulantin als Hilfe. Die Schwester ist sicher guten Willens, sie will in keiner Weise ihre Hilfskraft schlecht erbauen. Wenn diese Schwester milde ist, ist die Postulantin glücklich, aber wenn es die Schwester nicht ist, geht es nicht. Sieht das die Schwester? Ich glaube es nicht, aber die andere sieht es wohl. Es ist also sehr wahr, dass wir in unseren eigenen Angelegenheiten blind sind. Man muss diesen Mangel durch eine große Demut ausgleichen. Wie werden wir sie erlangen? Indem wir den lieben Gott bitten, erhört zu werden.
Ich gebe euch ein Beispiel an, weil es verblüffend ist. Jede Schwester, die milde sein wird, wird eine gute Wirkung erzielen. Sie wird einen guten Eindruck machen. Die Postulantin ist wie ein Spiegel, in dem sich die Tugenden der Schwester widerspiegeln. Es gibt sehr wenige, die aus dieser Erfahrung ehrenvoll hervorgehen. Welche von euch, meine Kinder, erzeugen diese gute Wirkung? Schaut, Schwester Marie-Elisabeth, die vor zwei Jahren starb, machte diesen Eindruck auf die Postulantinnen, die ich nach Saint-Bernard schickte, weil sie sehr milde und tief gläubig war. Ich sage nicht, dass es nicht auch andere gibt, ich sage nicht, dass es deren viele gibt, ich sage nichts … man soll nur die Toten loben.
Es gibt also vieles, das wir nicht wissen, das wir nicht einmal ahnen. Deshalb, meine Kinder, müssen wir, um die Liebe gut zu beachten, den lieben Gott in aller Demut darum bitten und en Wunsch haben, sie gut zu üben.
In der Heimsuchung von T*** gab es ehedem eine gewisse Methode, die Berufungen auf die Probe zu stellen. Man vertraute die Postulantinnen Schwester Marthe-Elisabeth an, die für das Refektorium zuständig war. Sie hatte viel Energie und rief gerne zur Ordnung, obgleich sie ein wenig sonderbar war, war sie sehr milde. In der ersten Zeit machte sie bei den Postulantinnen einen sehr unangenehmen Eindruck. Daher hatten sie zuerst große Angst vor ihr, aber nachdem die Postulantinnen sie näher kennenlernten, bemerkten sie ihre große Liebe und nach einiger Zeit gab ihnen das eine tiefe Wertschätzung und eine große Bindung an die Gemeinschaft.
Wir brauchen nur den zweiten Teil der Methode von Schwester Marthe-Elisabeth nachahmen. Wir müssen einen Eindruck wahrer Liebe und Vertrauen machen. Aber seht ihr das Übel, das ihr den Postulantinnen antun könnt, wenn ihr nicht milde seid? Und habe ich nicht Recht zu sagen, dass uns vieles entgeht?
Sagen wir jetzt ein Wort zu eurem Charakter. Da kommt eine Postulantin an. Habt ihr nicht schon am Anfang eine kleine Spitze gegen sie? Eine Neigung, dagegen zu sein, weil sie intelligenter ist als ihr, weil ihr glaubt, dass sie eines Tages eine bessere Nonne sein wird als ihr, weil man sie mehr lieben wird als euch, weil …, weil … Wenn die Liebe in eurem Herzen wäre, kämen euch nicht diese Gedanken.
Meine Kinder, es sind die Exerzitien der Professschwestern. Ich kann euch wohl im vertrautem Kreis Dinge sagen, die ihr nicht ahnt. Ihr werdet von eurem Charakter, euren Neigungen mitgezogen, ihr folgt ihnen, und da die Liebe in euch nicht genug vorherrscht, was fühlbar ist, ist das die Spitze, von der ich gesprochen habe. In unseren Häusern bemerkt es das Dienstpersonal. Sie stellen Überlegungen an, und ihr ahnt es nicht. Ihr haltet euch vielmehr für sehr eifrig, sehr fromm, sehr erbauend. Sie beurteilen euch zwar streng, aber warum? Weil die Liebe nicht ganz in euch wohnt. Da ist Vieles, das ich nicht wisst, unter anderem, dass eure Seinsweise von eurem Charakter, von diesem oder jenem Gefühl abhängt, worüber ihr euch keine Rechenschaft ablegt, und ihr ahnt es nicht!
Um diese Fehler zu verhindern, muss man sehr demütig sein und den lieben Gott um sein Licht bitten. Es ist so schwer, diesbezüglich seine Gewissenserforschung zu machen, dass es nötig wäre, dass uns die anderen helfen. Deshalb muss uns die Mutter Oberin des Hauses, in dem wir sind, warnen, in dem sie uns sagt: „Meine Schwester, ich habe in Ihrem Charakter, in Ihrer Persönlichkeit diesen oder jenen unangenehmen Zug bemerkt. Das sind sie!“ Wenn die Schwester nicht sehr unterwürfig ist, wird sie ihren Unmut zeigen. Ist sie aber sehr demütig, wird sie die Bemerkung annehmen und ihr Unrecht anerkennen. Und mit der Liebe geht man in den Himmel.
Die Männer haben schwere Fehler, die Frauen haben kleine. Aber die kleinen sind am härtesten auszumerzen. Die Frau ist von Natur aus eifersüchtig. Sie hat ein instinktives Bedürfnis, geliebt, verzogen zu werden. Der Mann ist eher unabhängig und, vorausgesetzt, dass er seinen Willen tut, seine Geschäfte regelt, er nach seinem Willen handelt, verlangt er nicht mehr. Er will vor allem befehlen. Er hat es jedoch auch sehr gern, geliebt zu werden, aber die Eifersucht erreicht ihn schwächer. Die Frau, die unterworfener sein muss, hat mehr den Wunsch, die Zuneigungen zu beherrschen. Der Mann will die Köpfe beherrschen, und die Frau will über die Herzen herrschen. Der Grund an sich ist nicht schlecht, aber die Eifersucht und die Charakterunterschiede sind die beiden Hauptgründe für die Verfehlungen gegen die Liebe.
Der Wunsch zu befehlen, Herrin zu sein, ist die Eigenliebe des Geistes. Die Eifersucht ist die Eigenliebe des Herzens. Die Frau lebt mehr durch das Herz als durch den Geist. Dennoch lässt sie sich oft von diesen beiden Neigungen ihrer Natur mitreißen. Am bedauerlichsten ist nun, dass wir uns gewöhnlich nicht Rechenschaft darüber geben. Der heilige König David sagte: „Verzeih mir, Herr, meine Unwissenheit.“ Die Gute Mutter Marie de Sales Chappuis sagte auch, dass das größte Unrecht, das die Erbsünde der Menschheit brachte, das Übel der Unwissenheit ist. Ich habe also sehr recht, euch, meinen Kindern, zu sagen, dass wir nicht demütig sind, da wir unsere Verfehlungen nicht bemerken. Gott wirft Perlen auf unseren Weg. Heben wir sie auf und es werden Perlen sein. Wenn wir aber daran vorbeigehen, werden sich diese Perlen in Kieselsteine verwandeln, weil der liebe Gott nicht will, dass die Perlen den Schweinen vorgeworfen werden.
Seht, meine Kinder, wie notwendig, wie wesentlich die Exerzitien sind! Ich werde nichts mehr über unsere Unwissenheit sagen. Wir werden über die beiden Gründe nachdenken, die uns blenden. Es sind die beiden Hände der Unwissenheit, die Eifersucht und der Stolz, die sich auf unsere Augen legen, das heißt, ein gewisses Bedürfnis, vorgezogen zu werden, und ein geheimer Wunsch zu befehlen. Wir öffnen wohl die Augen. Da jedoch die beiden Hände der Unwissenheit darauf liegen, sehen wir nichts.
O, meine Kinder, betet viel während der Exerzitien. Überdenkt vor unserem Herrn, was ich euch soeben sagte. Und wenn ihr den Weg betreten wollt, den ich euch aufzeige, wird der liebe Gott sehr zufrieden sein, und ich auch. Wir werden auf dem Weg der Vollkommenheit weitergehen als zum Kap (Anspielung auf die Abreise der ersten Oblatenmissionare im Jahr 1882 zum Kap der Guten Hoffnung, Südafrika), denn wir werden viel früher in das Herz Jesu eindringen. Amen, Amen!