4. Vortrag: Über die Verpflichtung, den Nächsten zu erbauen
Dienstag Abend, 5. September 1882
Meine Kinder, heute Vormittag veranlasste ich euch, einen Tag tiefer geistlicher Sammlung bei unserem Herrn zu verbringen. Ihr wisst es, ich habe es euch schon oft gesagt, damit Exerzitien gut sind, müssen sie nicht Exerzitien des Trostes sein, sie müssen nicht sanft, geistlich angenehm sein, das ist nicht notwendig. Die nützlichsten Exerzitien sind die, in denen man am meisten litt, in denen man am meisten kämpfte, um sich in der Gegenwart Gottes zu halten. Und diese Leiden, ob sie aus uns selbst kommen oder ob der liebe Gott sie uns schickt, indem er uns mit Abneigungen, Ängsten, Langeweile, Leiden heimsucht – ich wiederhole es – machen, dass die Exerzitien, in denen man sie empfindet, im Allgemeinen eine der besten sind. Ich sah nie, dass die guten und heiligen Seelen ihre Exerzitien sehr trostreich machten.
Wenn ihr in der Trockenheit seid, dann braucht ihr darüber ganz und gar nicht betrübt sein, ihr müsst euch vielmehr darüber freuen. Stellt euch dann zu Füßen des Kreuzes unseres Herrn und dankt ihm, denn er zählt euch zu seinen engsten Freunden. Ohne Zweifel tut es gut, im Gras zu sitzen und aus den Händen des Heilands nicht nur das Brot, sondern auch die Fische, die er vermehrt, zu empfangen. Dieses neben dem guten Meister eingenommene Mahl war köstlich, das waren sanfte, tröstende Exerzitien, aber zu Füßen des Kreuzes waren nicht 4000 Leute, da waren nur einige Bevorzugte, und der Verdienst dieser Exerzitien war sehr viel größer. Seid also zufrieden, wenn ihr Exerzitien habt, in denen ihr kämpft und schmachtet. Das sind die besten.
Gestern, meine Kinder, sagte ich euch ein Wort über die Erbauung, die dem Nächsten zusteht. Ich komme darauf zurück, weil ich den Stoff nicht erschöpft habe. Ihr müsst den Nächsten durch eure ganze Person, euer Aussehen, euren Verhaltensweisen erbauen. Erforscht euch gut zu diesem Thema. Unser seliger Vater [Franz von Sales] sagt, unser Gesicht und unser ganzes Äußeres müssen einfach und bescheiden sein und dürfen durch nichts die Aufmerksamkeit anziehen. So wie das Wasser gut ist, wenn es geschmacklos ist, sei unsere Haltung, was sie sein soll, wenn wir uns nicht bemerkbar machen, wenn sie unserem Stand, unserer Situation, unserer Berufung entspricht. Ich empfehle euch keine geschraubt und steife Art, ganz im Gegenteil, aber ich glaube, dass ihr euch alle diesbezüglich etwas vorzuwerfen habt, dass ihr alle mehr darauf achten müsst, den Nächsten durch euer Äußeres gut zu erbauen.
Eines Tages nahm der heilige Franz von Assisi Bruder Leo mit sich und sagte zu ihm: „Bruder, wir gehen predigen.“ Sie gingen los und durchquerten die ganze Stadt Assisi. Bei der Rückkehr sagte Bruder Leo: „Aber, Vater, ich dachte, dass wir predigen sollten, und wir haben den Mund nicht aufgemacht.“ Der heilige Franz von Assisi antwortete ihm: „Haben wir nicht durch unsere gesammelte Miene, unseren bescheidenen Gang, der zeigte, dass wir in der Gegenwart des Herrn waren, gepredigt? Haben wir nicht den Nächsten erbaut, als wir so durch die Straßen der Stadt gingen?“ Meine Kinder, da auch wir durch die Straßen der Stadt gehen müssen, müssen wir gut predigen. Wir achten nicht genug darauf. Manchmal haben wir es eilig, wir gehen schnell, das ist bedauerlich. Wenn wir fünf Minuten früher weggegangen wären, hätten wir uns nicht durch einen überstürzten Gang, der Schleier und Mantel fliegen lässt, der Aufmerksamkeit der Vorübergehenden ausgesetzt. Wir müssen also wohl unsere Maßnahmen ergreifen, um rechtzeitig wegzugehen, damit euer Schritt ernst und ordentlich ist.
Dennoch soll man sich keinen übertrieben herrschaftlichen Schritt aneignen. Zu viel Würde in der Haltung würde sich ins Lächerliche kehren. Aber – ich wiederhole es – euer Schritt darf nicht zu schnell sein, umso mehr als euer weites Gewand keinen überstürzten Schritt zulässt. Das ist ein sehr wichtiger Punkt. Achtet darauf! Die Leute, die euch in der Straße vorbeigehen sehen, und das sind viel mehr als die, denen ihr Katechismusunterricht erteilen werdet, werden euch ungünstig beurteilen, wenn ihr keine gut bekannte Heilige seid. Wenn ihr mit einem gewissen Ernst geht – ich schließe jede Geziertheit aus – wird euer Schritt alle erbauen, die euch sehen werden. Doch wenn ich zu schnell geht, wird man euch für wenig vernünftig halten, wenig würdig eures Standes einschätzen und dieses Urteil wird verdient sein. Und noch bedauernswerter ist, dass diese Einschätzung nicht nur euch betreffen wird, sondern such auf die ganze Gemeinschaft auswirken wird. Eine Nonne, die mit dem lieben Gott beschäftigt ist, die ihr Direktorium befolgt, hat nicht den Gang einer Person, die an nichts denkt.
Meine Kinder, ihr müsst also gut auf euren Schritt, auf eure Haltung achten. Euer Auftreten sei ernst und bescheiden, geht nicht mit der Nase in der Luft. Geht, als ob ihr fünfzehn Schritte vor euch die Erde betrachten würdet. Das ist die würdevollste Haltung. Geht also nicht mit der Nase in der Luft oder mit gesenktem Kopf, was einen Zug von Traurigkeit, Melancholie und Fremdheit hätte. Befolgt diese Regel und eure Haltung wird genau sein, was sie sein soll.
Der heilige Franz von Sales sagte, eure Haltung muss einfach sein, aber diese Einfachheit soll aus Achtung vor der Gegenwart Gottes etwas Würdevolles haben. Alle müssen euch sehr fromm finden. Euer Blick, euer Gesicht muss vom lieben Gott sprechen. Euer Antlitz soll das Siegel von etwas Himmlischen haben, da ihr den Duft unseres Herrn Jesus Christus verbreiten sollt. Wir müssen uns in dieser Hinsicht überwachen, möge sich jede von euch diesbezüglich ernsthaft überprüfen.
Meine Kinder, es ist unbedingt notwendig, dass euer gutes Beispiel, eurer Erbauung Gutes tut, wo immer ich vorbei kommt, denn ihr seid im Gewissen verpflichtet, die Personen zu erbauen, mit denen ihr in Verbindung seid. Da ist eine Frau, die ihre Tochter zu euch in die Schule bringt. Diese Frau ist eine Freidenkerin. Wisst ihr, wie ihr sie erbauen werdet? Nun, durch eure gute Haltung, durch eure Milde, die Einfachheit eures Gesichtes, eurer Worte, und in dem ihr eure Absichten lenkt, werdet ihr dorthin gelangen. Aber oft fleht ihr nicht um die Gnade unseres Herrn, in dem ihr die Absicht lenkt. Ihr behandelt die Sache natürlich, ihr betet nicht für die Person, mit der ihr sprecht, ihr ruft dessen Schutzengel nicht an, also könnt ihr nicht erbauen. Wenn ihr nicht betet, hat euer Wort nur Weltliches. Eine Person von Welt käme zum selben Ergebnis, und da ist für euch nicht genug.
Wenn ihr mit einem guten Menschen, einem guten Mädchen beisammen seid, warum sollt ihr die Gelegenheit nicht nützen, um ein kleines Wort vom lieben Gott zu sagen? Es ist eure Pflicht, es zu tun. Unser Theologieprofessor sagte uns, dass der Priester nirgendwohin gehen dürfe, ohne durch ein gutes Wort zu erbauen. Ihr habt die selbe Verpflichtung. Ihr werdet niemandem von eurer Familie predigen oder einer Fremden, die euch besucht, aber ihr werdet für sie beten und ihr werdet ein gutes kleines Wort der Erbauung fallen lassen. Ihr sagt: „Aber ich werde es nie wagen, ich kann nicht, ich weiß nicht.“ Was sagt ihr da? Dachten die Märtyrer das vor ihren Richtern? Haben sie nicht den lieben Gott um die Gnade gebeten, den Henkern zu antworten und gut zu sterben? Meine Kinder, betet, und ihr werdet verstehen, was die Erbauung ist, die dem Nächsten zusteht, und wie man sie ausübt. Ich könnte nie zu sehr darauf beharren. Es ist ganz notwendig, dass ihr die Menschen der Welt erbaut. Ich möchte euch das gut verständlich machen. Behandelt nie Personen rein menschlich. Jedes Mal, wenn ihr mit jemandem in Verbindung seid, handelt nur mit dem Licht, der Hilfe, dem Gedanken und der Stütze des lieben Gottes. Und was wird dann geschehen? Der liebe Gott wird ganz und überall mit euch sein. Betet also unter allen Umständen, da ihr verpflichtet seid, den Nächsten zu erbauen. Versteht das gut.
Mögen die Exerzitien in euren Seelen, euren Herzen, euren Gefühlen, eurem Äußeren wirken, damit ihr Nonnen seid, die Gott überall hintragen. Unser Herr muss in eurem Herzen sein. Er sei mit euch, in euch, im Ausdruck eures Gesichtes. Habt also nicht die Nase in der Luft, habt keine zerstreute Miene, habt keinen schnellen Schritt, keine überstürzten Bewegungen. Es sei vielmehr in euch etwas Ernstes und gleichzeitig etwas Herzliches, Mildes, Einfaches und Frommes. Das Gesicht einer wahren Nonne ist so schön! Es ist eine Lektion, die jeder versteht. Es muss also unser Herr in eurem Herzen sein, euer Gesicht beleben, in eurem Ausdruck sein. Er möge euren Worten, so Unwichtiges ihr auch zu sagen habt, eine Wendung, eine Betonung geben, die berührt, die erbaut.
Meine Kinder, prüft, ob ihr versäumt habt, den Nächsten zu erbauen, und fasst feste Vorsätze, damit die Exerzitien in euch wirken, dass sie eure Seelen nähren, und dass ihre Wirkungen bis in eurem Äußeren zu Tage treten. Amen.