Exerzitienvorträge für die Oblatinnen 1882

      

2. Vortrag: Über die Verpflichtung, sich gegenseitig zu erbauen

Montag Abend, 4. September 1882

Meine Kinder, heute Vormittag sprach ich zu euch über eure Verpflichtung, den Nächsten zu erbauen, überall, wohin ihr geht, die Tugenden unseres Herrn hinzutragen, das heißt, die Demut, die Milde, die Einfachheit, mit einem Wort die frommen Tugenden. Heute Abend will ich zu euch über einen sehr wesentlichen Punkt sprechen, an den man kaum denkt, nämlich über die Erbauung, die ihr den Mitschwestern geben müsst.
Ich weiß wohl, dass es eine gewisse Leichtigkeit der Beziehungen gibt, die ihre Vorteile hat, eine gewisse Offenheit, wie unser seliger Vater [Franz von Sales] sagt, die innerhalb der Gemeinschaft notwendig ist. Wir müssen tatsächlich so herzlich sein, dass wir uns alle Zuhause fühlen, aber es gibt etwas, das wir vielleicht zu oft vergessen: die einen kümmern sich nicht genug um die anderen. Vielleicht denken wir nicht daran, und dennoch muss es sein. Ihr müsst dieses Ziel erreichen. Es genügt nicht, euch zu sagen: „Ich muss erbauen“, sondern man muss tatsächlich erbauen.
Wann und wie werdet ihr eure Mitschwestern erbauen? Während des Gebetes, bei der Heiligen Messe, bei der Betrachtung? Ja, ohne Zweifel. Ihr müsst durch eure fromme, gesammelte Haltung erbauen, dass sie den anderen als Beispiel dient. Wir müssen beim Beten so vom lieben Gott durchdrungen sein, dass unser Äußeres jene, die uns sehen, dazu bringt, in dieselben Gefühle einzutreten. Wenn wir beim Beten eine zerstreute Miene haben, wenn wir eine Haltung haben, die kundtut, dass wir nicht unter dem Blick Gottes sind, wenn wir scheinbar da sind, wie um uns nur unserer Pflichten zu entledigen, wenn wir und zu langweilen scheinen, erbauen wir nicht. Man muss sehr auf den Eindruck achten, den wir auf die anderen machen.
Meine Kinder, man muss erbauen, um dem Nächsten zu helfen, nicht nur, um von uns nichts Schlechtes anzunehmen, sondern auch, damit er durch unsere Seinsweise ermutigt wird. Versteht es also gut, die Verpflichtung, euch gegenseitig zu erbauen, ist streng. Und an diese Verpflichtung erinnere ich euch besonders für die Heilige Messe, die Betrachtung und das Stundengebet. Ist nicht die Gleichgültigkeit die Ursache, dass ihr manchmal bei diesen Übungen seid, als wäret ihr ganz wo anders? Sehen diejenigen, die rechts und links von euch sind, dass ihr ganz dem lieben Gott gehört? Können alle anderen fühlen, dass euer Herz Gott lobt, wie es sich gehört, dass ihr wahrhaftig ihm gehört? Ist eure Erbauung ganz, ist sie vollständig? Zeigt eure Seinsweise nicht eure Lässigkeit, eure Vernachlässigung, euren Charakter? Das fühlt man, und wenn diejenige, die neben euch ist, nicht bessere Anlagen hat, hat sie kaum Lust, es besser als ihr zu machen. Sie wird nicht ermutigt, sie findet in euch eine Stütze der schlechten Anlagen, und ihr seid an dem schädlichen Einfluss Schuld, den ihr hattet.
Jetzt, meine Kinder, zur Erholung. Erbaut ihr in euren Gesprächen? Sprecht ihr über Gutes? Dennoch ist es notwendig. Ihr seid mit den Mitschwestern zusammen, sie haben ein Recht auf eure Erbauung. Nützt ihr die Mittel der Ordensregel? Sie empfiehlt, Gutes zu sagen. Wenn es nun in euren Gesprächen nie ein Wort vom lieben Gott und der Ordensregel gibt, erbaut ihr nicht. Ihr denkt nicht daran, ihr wisst nicht, dass es eine Verpflichtung ist. Aber ich sage euch, dass es eine sehr große ist. Denkt wohl daran. Der Ordensgeist wird daran erkannt. Warum sind in manchen Familien die Kinder schlecht? Warum sind sie keine Christen? Weil sie oft dem Einfluss der schlechten Beispiele unterliegen, die sie vor Augen haben.
Wacht ihr gut über eure Worte? Seid ihr sehr wohlwollend? Findet ihr einen Grund der Entschuldigung, wenn euch die Handlung, die ihr vollbringen seht, tadelnswert scheint? Vor Kurzem bat ich einen jungen Priester um Auskünfte über einen seiner Mitbrüder. Ich erwartete nicht, dass er mir Gute geben würde, aber ich war sehr erbaut von der wohlwollenden Art, in der er von ihm sprach. Ich sah, dass sein Geist in die Vertrautheit der Nächstenliebe eintrat.
Erbauen wir durch unsere Nächstenliebe? Erbauen wir durch unsere äußere Zurückhaltung? Woran bemerken unsere Mitschwestern eure Abtötung? Sieht man sie um euch herum? Nein, ihr tut euch bei euren Mitschwestern keinen Zwang an. Ihr habt nicht genug Gewohnheit, euch zu erbauen, und dennoch ist es ein wichtiger Punkt. Der heilige Paulus beschwört die Christen bei der Bescheidenheit unseres Herrn. Die Bescheidenheit ist eine Art, einfach und zurückhaltend zu sein. Sie ist eine Tugend, die ein ganzes Paket von guten Verhaltensweisen enthält, die der Stil des wahren Christen ist. Möge also eure Bescheidenheit, eure Art so fromm zu sein, dass jede in euch die Seinsweise unseres Herrn erkennt. Erbauen wir in dieser Hinsicht? Haben wir in unseres Worten, in unseren Blicken, in unseren Verhaltensweisen diese Zurückhaltung, die der frommen Seele zusteht, und die alle Personen, die uns umgeben, zum lieben Gott trägt.
Meine Kinder, erbauen wir unsere Mitschwestern in der Ausübung der Ordensregel? Wollt ihr eure Gewissenserforschung gut machen? Dann fragt euch: „Wie viel habe ich gemacht, um unsere Mitschwestern in der Beobachtung der Ordensregel zu erbauen? …“ Wenn ich so zu euch spreche, ist meine Rede nicht zu streng, ich sage euch nur die Wahrheit. Ihr müsst daran denken, ihr müsst einander erbauen. Wie oft, wann und wie erbauten wir den Nächsten in Bezug auf die Beobachtung der Ordensregeln? Wenn man in einer Gemeinschaft lebt, muss man die Neigungen und die Handlungsweisen der anderen ertragen. Und ihr seid nicht so vollkommen, dass ihr nicht alle viele Opfer bringen lasst. Das ist eine Last, die der Nächste erträgt. Was geben wir ihm dafür? Er erträgt uns das ganze Jahr, und wir geben ihm nicht die geringste Erleichterung.
Ich empfehle euch, meine Kinder, die Erbauung des Nächsten in den Angelegenheiten der Ordensregel und deren Beobachtung. Ich wiederhole es euch: es geht nicht darum, uns an das Beispiel dieser oder jener zu halten, aber wenn wir sehen, was sie Gutes tut, fühlen wir uns ermutigt, es ebenso zu machen.
Meine Kinder, helfen wir den Seelen unserer Mitschwestern, die um uns sind? Erbauen wir sie immer durch unsere Eilfertigkeit, den gegebenen Gehorsam zu befolgen? Wir möchte nicht schlecht erbauen, aber gibt es bei uns diesen schnellen, frohen Gehorsam, der die anderen ermutigt und stützt? Doch der Nächste hat ein Recht, von uns diese Erbauung zu verlangen.
Erbauen wir wohl im Büßen, im Üben der Ordensregel? Machen wir diese Beobachtung gut, legen wir unser ganzes Herz hinein? Wenn eine unserer Mitschwestern etwas sagt, das uns verletzt, machen wir dann, was die Ordensregel verlangt?
Ihr seht, meine Kinder, wir fehlen in Vielem, wir erbauen nicht. Und gebe Gott, dass wir nicht schlecht erbauen. Das wäre wohl etwas Anderes. Unglück über den, durch den der Skandal kommt! Die Gemeinschaft und das Noviziat sind für einige Übungen vereint. Die Novizinnen sehen euch, sie beobachten euch, sie können sich sagen: „Es ist ganz unnötig, die Vorschriften der Ordensregel zu befolgen, da es die Professen nicht machen.“ Und sie bilden sich ihr Urteil, sie nehmen ihre Gewohnheiten an. Wessen Fehler ist das? Eurer. Der liebe Gott wird darüber Rechenschaft von euch verlangen. Seine Vorwürfe werden zuerst euch treffen, weil ihr sie der Erbauung beraubt habt, des guten Beispiels, das ihr ihnen schuldet.
Versteht es also, es ist äußerst wichtig. Man denkt nicht genug daran, man geht und kommt, man schränkt sich in nichts ein. Man hält seine Zunge nicht zurück, man lässt sich in allen seinen Neigungen gehen. Ich stelle dieses Vergessen fest, weil es ganz wesentlich ist. Fasst dafür einen guten Vorsatz und schreibt ihn auf. Die meisten von euch haben die Nächstenliebe versprochen. Es scheint mir, dass meine Empfehlungen von Heute der Anfang sind, die Grundlage der Nächstenliebe. Man muss den Nächsten erbauen, er hat ein Recht darauf. Einigen wir uns jetzt, dass wir nicht genügend daran gedacht haben, dass wir es selten machten, dass wir nicht daran gearbeitet haben.
Meine Kinder, diese Erbauung, die wir den anderen geben müssen, darf uns nie als Vorwand dienen, um uns mit uns zu beschäftigen, für die Selbstsuche, für Gefühle der Eigenliebe, des Stolzes, um dem lieben Gott zu gefallen. Handeln wir so, um sein Werk zu vollbringen. Bis jetzt haben wir nicht genug darüber nachgedacht.
In der Heimsuchung achten die Schwestern gut darauf, einander zu erbauen. Keine von ihnen hält sich an das Beispiel der anderen, aber sie wäre betrübt, dem Nächsten ein Ärgernis zu sein. Sie erbaut durch ihre Haltung, ihr Gebet, ihre Treue zur Ordensregel, durch ihre Worte, durch ihr Schweigen. Man sieht, dass die Schwestern alles aus tiefer Achtung, aus Liebe zur Ordensregel machen.
Man muss also unseren Herrn bitten, der euch segnen wird, eure Seelen zu erleuchten und euch die Verpflichtung verständlich zu machen, die ihr alle habt, einander zu erbauen. Amen.