11. Vortrag: Über den Gehorsam
Samstag Vormittag, 9. September 1882
Meine Kinder, verdoppelt die Wachsamkeit, um euch die innere Sammlung, die Gegenwart Gottes gut zu erhalten. Am Ende einer Arbeit erhält man die Belohnung dafür. Am Ende der Exerzitien erntet man die Wohltat, wie man am Ende des Herbstes die Früchte erntet.
Heute Vormittag werde ich einige Worte über den Gehorsam an euch richten. Wem und wobei muss man gehorchen, wenn man das Gelübde des Gehorsams abgelegt hat? Man muss seinen Oberen und der Ordensregel gehorchen. Man muss also der Ordensregel gehorchen und sich nicht ohne besondere Erlaubnis davon befreien. Wer kann uns davon befreien? Nicht wir, sondern die Oberin oder die Novizenmeistern. Sie können von einem Punkt der Ordensregel in besonderen Fällen befreien, wie nicht zur Betrachtung zu gehen, später aufstehen, aber wenn uns eine Befreiung gewährt wird, dann ist das nie für immer.
Ihr bittet eines Tages um die Erlaubnis, nicht zur Betrachtung gehen zu müssen, nicht zur Stunde der Ordensregel aufzustehen, eure Schriftlesung nicht zu machen. Könnt ihr da sagen: „Ich habe die Erlaubnis für den ganzen Rest meiner Tage?“ Gewiss nicht. Die Befreiung ist immer auf die Zahl der Tage beschränkt, für die sie gegeben wird, außer wenn man krank ist. In jedem anderen Fall darf man die Erlaubnis nie verlängern. Wenn ihr zum Beispiel befreit seid, an der Versammlung teilzunehmen, dann gilt das für einmal. Wenn euch aber eure Beschäftigung daran hindert, dann besteht die Befreiung so lange wie eure Beschäftigung.
Man hat die Erlaubnis, in einem vorliegenden Fall eine bestimmte Sache für einen bestimmten Gebrauch zu verwenden, aber das ist für einmal. Und wenn der Fall eintritt, muss man die Erlaubnis wieder einholen. Es ist nicht erlaubt, die Erlaubnis für unendlich zu nehmen. So ist es euch gestattet zu diesem Zweck, unter diesen Umständen über Geld zu verfügen. Eine solche Erlaubnis gilt nur für diesen Fall. Man muss sich wohl hüten, die Erlaubnis zu verlängern, denn unser Leben ist ein Leben der Unterordnung unter den Gehorsam.
Ein Gelübde, meine Kinder, ist eine sehr ernste Verpflichtung. Einen bestimmten Punkt eines bestimmten Gelübdes aus Missachtung nicht zu erfüllen, kann sehr schwerwiegend sein, da läuft man Gefahr, sich in den Zustand der Sünde zu begeben. Wenn man aus vorgefasster Meinung nie den Gehorsam machen würde, wäre man in einem gefährlichen Zustand. Man kann ohne Erlaubnis nicht an den Fasttagen Fleisch essen. Das gleiche gilt für die Beobachtung der Ordensregel. Die Ordensregel bleibt nicht dem freien Willen überlassen. Und wenn ihr ohne ernsten Grund einen Punkt der Ordensregel auslasst, macht ihr einen Fehler. Man muss also der Ordensregel sehr genau und mit Furcht folgen. Ohne Zweifel muss man mit Liebe gehorchen, aber man muss die Furcht, den lieben Gott zu beleidigen, hinzufügen. Diese Furcht ist heilsam.
Wir müssen unseren Oberinnen gehorchen. Denn es ist sehr sicher, dass wir nur eine lässliche Sünde begehen, wenn wir gegen einen kleinen Gehorsam fehlen, wenn wir aber gegen einen schweren Gehorsam fehlen, kann auch der Fehler schwer werden. Wir müssen sehr genau machen, was uns befohlen wird. Wir sind durch unser Gelübde des Gehorsams dazu genötigt. Ich wiederhole es, man kann sich nicht gewohnheitsmäßig vom Gehorsam befreien, ohne sich in einen Zustand zu begeben, wo man sein Heil beschädigt.
Wie muss man gehorchen? Meine Kinder, um euch eine Idee vom Gehorsam zu geben, erinnert euch an einige Tatsachen des Alten Testaments. Da ist Mose. Er hatte Gott gesehen, er war ein großer Freund Gottes. Der Herr befahl ihm, auf den Felsen zu schlagen, um Wasser heraussprudeln zu lassen. Anstatt einmal vertrauensvoll an den Felsen zu schlagen, zögert Mose und schlägt vor dem ganzen Volk zwei Mal auf den Stein (vgl. Num 20,8-13). Dieser scheinbar an sich leichte Ungehorsam wurde sehr streng bestraft, denn Mose führte das Volk Gottes nicht in das gelobte Land. Nachdem er die Hebräer vierzig Jahre durch die Wüste geführt hatte und die Last von diesem ungehorsamen Volk ertragen hatte, war die rechtmäßige Belohnung, die er sich erwarten konnte, das Volk Israel in das gelobte Land zu führen, und da sagte Gott zu ihm: „Da du an mir gezweifelt hast, wirst du mein Volk nicht das Land Kanaan betreten sehen.“ Versteht wohl, was der Gehorsam ist, meine Kinder. Seht, wie der liebe Gott Mose für ein einfaches Zögern bei der Ausübung des Gehorsams bestraft (vgl. Dtn 32,49-52). Versteht wohl, was der Gehorsam ist, meine Kinder. Sehr, wie der liebe Gott Mose für ein einfaches Zögern bestraft.
Seht auch Saul. Er wird ebenfalls wegen eines Ungehorsams von Gott zurückgewiesen. Der Prophet Samuel hatte ihm gesagt, er solle das Opfer nicht vor seiner Rückkehr anbieten. Aber als sich Saul von Feinden umgeben sah, fand er die Zeit lang und sagte sich: „Wenn ich das Opfer nicht sogleich darbringe, werden die Philister auf mich losgehen und ich werde besiegt.“ Kaum war das Opfer dargebracht, kam Samuel an und mit einem ganz traurigen Gesicht sagte er zu Saul: „Du hast wie ein Wahnsinniger gehandelt. Da du zu den Befehlen Gottes ungehorsam warst, wird deine Herrschaft nicht weiter bestehen und Gott wird sich einen Mann nach seinem Herzen wählen, um ihn zum Haupt seines Volkes zu machen“ (vgl. 1 Sam 13,8-14).
Das ist die Strafe, die Gott dem Ungehorsam auferlegt. Mose und Saul werden äußerst streng bestraft. Seht, was es heißt, dem gegebenen Gebot nicht genügend Wichtigkeit beizumessen. Man darf nicht sagen: „Gut, gut, ich werde es machen oder auch nicht.“ Der liebe Gott will solche Worte nicht. Sehr, wie er Mose und Saul bestrafte! Diese Beispiele der Heiligen Schrift sind wohl überlegenswert.
Der Ordensgehorsam ist etwas sehr Ernstes. Wenn wir nicht machen können, was uns befohlen wird, muss man es ganz einfach sagen. Wenn wir einen Widerwillen empfinden, sagen wir es ebenfalls. Wenn wir Heilige wären, würden wir nichts sagen. Aber auf jeden Fall, fehlen wir nicht gegen den Gehorsam, weil wir uns den größten Gefahren aussetzten.
Es ist also der Gehorsam eine zu beachtende Pflicht. Es ist der Ungehorsam ein großes zu vermeidendes Unglück. Ihr werdet mir sagen: „Der liebe Gott ist sehr streng!“ Nein, er ist nicht streng. Aber ihr habt ihm euer Herz, euren Willen geschenkt, und der liebe Gott ist äußerst eifersüchtig. Er will euren Willen ganz. Wenn er euch straft, so ist es, damit ihr ihm, seinem Herzen und seiner Liebe näher seid. Je mehr man liebt, desto heikler wird man. Je mehr man liebt, desto empfindlicher ist man. Üben wir also den Gehorsam sehr genau, sehr pünktlich und handeln wir immer, wie uns gesagt wird. Wir können unsere Schwierigkeiten unseren Oberinnen anvertrauen, aber wir müssen gehorchen, selbst wenn man daran sterben sollte.
Seht Abraham! Sein Glaube wurde auf eine harte Probe gestellt. Gott befiehlt ihm, seinen einzigen Sohn zu opfern (vgl. Gen 22,1-19). Abrahm widerspricht nicht. Und dennoch hatte ihm Gott versprochen, dass seine Nachkommen so zahlreich wie die Sterne des Himmels sein werden. Auch wir haben unsere kleinen Isaaks zu opfern. Werden wir Abrahame, bringen wir Opfer, die von uns verlangt werden. Wenn wir bereit sind, sie zu bringen, wird sie der liebe Gott vielleicht nicht fordern. Aber wenn wir nicht bereit sind, wird er sie verlangen. Diese und noch viele andere! Wir werden also gut gehorchen, nicht nur aus Liebe, sondern auch aus Furcht, nicht aus einer knechtischen, sondern aus einer kindlichen Furcht.
Meine Kinder, wir fürchten uns nicht genug davor, Gott zu beleidigen. Ihr seid Nonnen, ihr habt Gelübde abgelegt, ihr gehört euch nicht mehr. Gott ist der Herr, er lenkt und befiehlt euch. Befolgt seine Befehle, was immer es auch kostet. Es ist gewiss, dass der Gehorsam die Grundlage der Vollkommenheit des Ordenslebens ist.
Der heilige Benedikt sagte eines Tages zum heiligen Maurus, er möge einem jungen Ordensmann, der am Ertrinken war, zu Hilfe eilen. Maurus geht los und in der Schnelligkeit seines Gehorsams geht er auf dem Wasser und bringt Placidus zurück. Das ist die Frucht des Gehorsams, sie wirkt Wunder.
Hier in Saint-André erinnert man sich an den heiligen Frodobert, Abt von Moutier-la-Celle. Als er in Luxeuil sein Noviziat machte, wollte ein Mönch seinen Gehorsam auf die Probe stellen und sagte ihm, er solle einen Zirkel oder einen Mühlstein von einem Mönch verlangen, den er ihm nannte und mit dem er sich verständigt hatte. Damals gab es so genannte „Mühlsteinzirkel“, dessen Spitzen in kleine Rädchen endeten und einen solchen Zirkel sollte der heilige Frodobert holen, allerdings war ihm das nicht klar.
Der Novize lud daher einen halben Mühlstein auf seine Schultern und trug ihn zum Abt, der die Einfachheit seines Gehorsams bewunderte und Tränen der Rührung vergoss. Das sind Tatsachen, die in den Annalen des Ordenslebens festgehalten sind. Wenn man gehorsam sein will, wirkt der liebe Gott Wunder.
Haben wir ein wenig von diesem Glauben. Wir sagen: „Es ist sehr schön, aber es ist eben das Leben von Heiligen.“ Das ist alles, was wir sehen. Ich aber sehe das Leben der Heiligen, die Heilige Schrift und euch … all das müsste eigentlich dasselbe sein. Wenn ihr nicht widersprechen würdet, müsste das tatsächlich eins sein.
Meine Kinder, wir glauben nicht genug an den Gehorsam. Bitten wir um diesen Glauben, der Berge versetzt. Warum haben wir ihn nicht? Weil wir uns nicht genug diesem göttlichen Gehorsam nähern, der bis zum Tod, ja bis zum Tod am Kreuz gehorsam war. Er gehorcht einem Priester, wer er auch sei. Er gehorcht ihm in alle, er wirkt in seinen Händen das größte aller Wunder. Er gehorcht, indem er so oft in unser Herz kommt. Bitten wir ihn, wie er zu gehorchen, bitten wir ihn um den Glauben an den Gehorsam.
Wir sind zu natürlich, zu alltäglich, zu sehr erdverbunden. Wir erheben uns nicht zur Höhe des Gehorsamsgelübdes. Wir fallen flach, wir sind mit uns selbst beschäftigt, unser Herz ist nicht in Sicherheit. O, noch einmal, meine Kinder, wenn ihr die Berichte der Heiligen Schrift und der Heiligenbiografien lest, haltet euch nicht auf Distanz, betrachtet sie nicht als Beispiele, die ihr nicht erreichen könnt, sondern findet darin eine Unterweisung für die Erfüllung eurer Pflichten, eurer Verpflichtungen. Wenn ihr nicht so weit seid, versucht durch unermüdliche Arbeit dorthin zu gelangen.
Das Ordensleben verpflichtet alle Seelen, die es angenommen haben, an ihrer Vollkommenheit zu arbeiten. Diejenigen, die nicht daran arbeiten, machen es wie die Leute der Welt, die ihre Pflichten als Christen nicht erfüllen. Diese kommen nicht zu ihrem Heil und jene nicht zur Heiligkeit. Versteht das gut, meine Kinder, es ist sehr ernst.
Bittet unseren Herrn, der durch die Heilige Kommunion in eurer Seele gegenwärtig ist, bitten den gehorsamen Jesus, den Gehorsam zu verstehen und zu üben, wie er selbst ihn verstand und übte. Amen.