9. Vortrag: Über die Betrachtung und die Übungen der Ordensregel
Freitag Abend, 2. September 1881
Meine Kinder, nach den Verpflichtungen der Gelübde, die ihr gut verstanden habt, und über die wir ausführlich und eingehend sprachen, gibt es noch eine ebenfalls schwere Verpflichtung, über die ich jetzt zu euch sprechen möchte: es ist die Betrachtung.
Kann man bei einer Betrachtung fehlen? Nein. Man darf nie seine Betrachtung versäumen. Wenn man sie aus einem guten Grund zur angegeben Zeit nicht machen kann, muss man sie zu einem anderen Zeitpunkt nachholen. Wenn man sie krankheitsbedingt nicht machen kann, gibt es ein gutes Mittel, sie zu ersetzen. Es soll sich die kranke Mitschwester mit denen vereinen, die die Betrachtung machen, und ihr Herz durch Akte der Liebe und der Unterwerfung unter den Willen Gottes dem lieben Gott zuwenden. Diejenigen, die wegen einer dringenden Arbeit, die ihre ganze Zeit in Anspruch nimmt, vorübergehend verhindert sind, die Betrachtung zu machen, da ihre Kräfte es nicht gestatten, sie nachts zu machen, diese, sage ich, sollen sie während des Tages durch häufige Akte der Gottesliebe und der Vereinigung mit seinem Willen ersetzen. Falls die Überlastung einige Tage dauert, müsste man sie so weit wie möglich nur von einem Teil der Betrachtung befreien lassen. Wenn ihr also die Betrachtung am Morgen nicht ganz machen könnt, nehmt wenigstens eine Viertelstunde im Laufe des Tages, denn man muss sich daran halten, die Betrachtung zu machen, und wenn es nur für einige Minuten ist. Es gibt kein wahres Ordensleben ohne Betrachtung.
Wie soll man die Betrachtung machen? Meine Kinder, ich beschränke mich darauf zu wiederholen, was ich euch sagte: für diese Übung müsst ihr euch den Lehren des heiligen Franz von Sales anpassen. Ich habe euch ebenfalls als sehr nützlich empfohlen, den Tag mit dem lieben Gott vorzubereiten, die Umstände zu sehen, die auf einen zukommen, und dort, wo man möglichen Fehlern ausgesetzt ist, ihn um seine Hilfe bitten, ihm versprechen, sich zu bessern, ihm sagen, dass man ihn lieben will, dass man ihm ganz gehören will.
Es gibt noch eine andere Art, die Betrachtung zu machen. Man kann das Thema der Betrachtungspunkte oder jedes anderen, das uns noch mehr berührt, nehmen. Doch soll sie nie ohne Zeichen der Zuneigung und Vorsätzen beendet werden. Machen wir es so und vielleicht kommen wir zur Liebe des Wohlgefallens. Also vielleicht auch gewährt uns der liebe Gott nach einer gewissen Zeit der Betrachtung, dass wir zur Beschauung gelangen. Aber diese Fragen sind für später. Heute beharre ich auf eurer Verpflichtung, die eigentliche Betrachtung zu machen, die nur ein Gespräch mit dem lieben Gott ist.
Meine Kinder, wenn ihr unseren Herrn gern habt, werdet ihr immer Zeit für eine Betrachtung finden. Und wenn ihr die Betrachtung gut macht, werdet ihr sehen, welchen Nutzen ihr daraus ziehen werdet. Macht sie wie Maria von Bethanien zu Füßen des Heiland, wie der geliebte Apostel Johannes, als er beim Abendmahl am Herzen unseres Herrn ruhte, macht sie wie die Freunde unseres Herrn, als sie ihn besuchten und sich mit ihm unterhielten. Liebt diese Art, die Betrachtung zu machen.
Heute hatte ich eine große Freude. Diese Herren, die die diözesanen Exerzitien machen, haben mir gesagt, dass der Prediger über die Betrachtung sprach und ihnen sagte: „Warum bedient ihr euch immer eines Buches, um eure Betrachtung zu machen? Wenn ihr die Gottesliebe in eurem Herzen fühlt, warum wiederholt ihr ihm nicht, dass ihr ihn liebt? Warum sprecht ihr nicht mit ihm über das, was ihr während des Tages machen werdet, über die Heilige Messe, die ihr gleich zelebriert?“ Alle waren glücklich darüber, und der Beweis dafür ist, dass sie es mir wiederholten. Ich antwortete ihnen, dass ich so die Betrachtung verstünde.
Die Betrachtung ist also eine Gespräch mit unserem Herrn, aber sie darf nicht in Zerstreuungen hinabgleiten. Sprechen wir mit dem Heiland über unsere Schwierigkeiten. Wenn wir ihn mehr lieben werden, werden wir mit ihm über ihn, über seine göttlichen Vollkommenheiten sprechen. Wenn man unseren Herrn sehr liebt, kann man sich eine Viertelstunde oder eine halbe Stunde mit ihm unterhalten, das ist nicht lang.
Meine Kinder, heute lässt sich die Jugend von einer List des Teufels einfangen. Da in der christlichen Seele ein natürlicher Schrecken für Schlechtigkeiten ist, sucht Satan, der Geist des Stolzes, der Geist des Bösen diesen Schrecken zu schwächen, in dem er sich zum Einflüsterer der Lektüre und der Wissenschaft macht, um das Böse in die Seelen einfließen zu lassen. Die armen Mädchen müssen in der Schule alles Möglich lernen, alles außer den lieben Gott zu erkennen. Ich nenne diese Wissenschaft, die der Teufel eingibt, nicht Wissenschaft. Sie ist nicht mehr wert als die, die den Hund lehrt, Pfötchen zu geben und Männchen zu machen. Ich sage das, damit diejenigen, die studieren, gut Acht geben. Nichts trocknet eine Seele so sehr aus, nichts behindert die Betrachtung, die Einfachheit der Beziehungen der Seele mit Gott so sehr wie diese eitlen wissenschaftlichen Arbeiten. Um diese Nachteile zu vermeiden, bedarf es einer großen Gabe der Betrachtung.
Ich nenne dieses ganze Böse der Wissenschaft von heute, weil es eine große Falle des Teufels ist, um die Seelen von Gott wegzulocken. Betrachtet die Schlange im Paradies. Sie sagte nicht zu Eva: „Iss von dieser Frucht, sie ist gut.“ Nein, sie versucht sie nicht zuerst durch die Sinnlichkeit, sondern durch den Stolz. Sie sagt ihr: „Sobald ihr davon esst, gehen euch die Augen auf; ihr werdet wie Gott und erkennt Gut und Böse“ (Gen 3,5). Das ist die Wissenschaft, die er heute eingibt. Diese Wissenschaft ist ein Unglück, die in der Seele den Sinn des lieben Gottes, den Sinn seiner Liebe und des Gebetes zerstört.
Sollen also die Studierenden nicht mehr studieren? O nein! Aber es gibt ein Mittel, die Wissenschaft zu heiligen und sie gut zu machen. Man muss oft dem lieben Gott sagen: „Für dich, Herr, lerne ich. Mach, dass mir meine Wissenschaft hilft, dich mehr zu lieben.“ Da diese Studien im Allgemeinen sehr trocken sind, müsst ihr, meine Kinder, die ihr studieren müsst, dreimal so fromm sein, damit ihr nicht vertrocknet. Die heutige Wissenschaft, die Wissenschaft ohne Gott ist so tönend und so hohl wie die Trommel eines Trommlers. Diese Eselshaut ist nicht der geeignete Schmuck, um euch Gott angenehm zu machen und euch ihm näher zu bringen.
Habt also, meine Kinder, die ihr studiert, keine Angst. Wenn ihr es macht, wie ich euch soeben sagte, wenn ihr aus Gehorsam für den lieben Gott arbeitet, werdet ihr dennoch den Geist der Betrachtung haben können. Je mehr ihr mit dem lieben Gott lernen werdet, desto mehr werdet ihr wissen. Wenn man müde, erschöpft ist, erinnert man sich an den Heiland, ruht man sich mit ganzer Liebe bei ihm aus. Denkt doppelt treu an euer Betrachtung, dann wird die Wissenschaft euer Herz nähren, statt es auszutrocknen.
Meine Kinder, macht auch sehr genau eure tägliche Lesung. Wenn eure Beschäftigungen umfangreich sind, kürzt ein wenig mit Erlaubnis eurer Oberin die Zeit, die ihr dazu verwenden sollt, aber macht eure Lesung. Wer wird euren Geist nähren, wenn ihr ihm nur Splitter von Arithmetik und Grammatik gebt? … Die Betrachtung ist die Nahrung des Herzens. Die Lesung ist die Nahrung des Geistes. Lest aufmerksam; genießt eure Lektüre, damit in der Versammlung jede von euch etwas Gutes zu erzählen hat. Versammelt euch gern zu dieser Übung, und jede von euch soll ihren Satz sagen, den sie sich gemerkt hat. Wenn ihr euch an eure Lektüre nicht erinnert, sagt einen Merksatz aus einer Predigt, einer Heiligenbiografie.
Man darf nie versäumen, täglich die von der Ordensregel vorgeschriebenen Übungen zu machen: die Betrachtung, die Lesung, die Versammlung. Man muss auch sehr fromm das Stundengebet oder die Vaterunser beten. Versäumt es nie, aus welchen Gründen auch immer. Es ist eine Verpflichtung. Man kann sich nur im Krankheitsfall davon befreien lassen. Mögen alle Übungen gemacht werden, wie es angegeben ist.
Wir werden unsere gute Mutter Marie de Sales Chappuis bitten, sie möge für euch alle den Geist der Ordenstreue erwirken. Man sah, dass sie in jeder Übung treu war. Wenn zum Stundengebet geläutet wurde und sie gegen Ende ihres Lebens wegen ihrer großen Gebrechlichkeit nicht daran teilnehmen konnte, fühlte man sie durchdrungen, gesammelt in Gott. Man sah, dass sie Gott lobte, dass sie den Heiland anbetete. Bitten wir sie, meine Kinder, um den Geist, der alles mit den vom Direktorium gewollten und verlangten Anlagen macht. Amen.