Exerzitienvorträge für die Oblatinnen 1881

      

8. Vortrag: Über die Keuschheit

Freitag Vormittag, 2. September 1881

Meine Kinder, beten wir gut. Die Exerzitien können ihre Wirkung nur durch eine ganz besondere Gnade vom lieben Gott hervorbringen. Unser guter Wille genügt, um uns in der geistlichen Sammlung zu halten, aber er genügt nicht, um zu verstehen, was uns gesagt wird. Die Gnade Gottes wirkt in den Seelen. Manchmal glauben wir zu verstehen, was wir hören, und wir irren uns. Ein kleines Kind liest das Evangelium, es glaubt, es zu verstehen; später, wenn es studiert hat, sieht es darin Dinge, die es nie bemerkt hatte. Und wenn es ein Heiliger wird, entdeckt es noch viel mehr darin, als wäre es nur ein Gelehrter. Wieso das? Weil die Wahrheiten Gottes, der wahren Religion nur durch eine ganz besondere Gnade verstanden werden. Deshalb, meine Kinder, rufen wir vor unseren Exerzitien den Heiligen Geist an. Er gibt das Verständnis für die Dinge Gottes. Beten wir also gut, dass die Exerzitien eine Zeit des Gebetes sind. Unser Herr sagt es: „Getrennt von mir könnt ihr nichts vollbringen.“ (Joh 15,5) Ohne Christus ist es unmöglich, dass ihr irgendetwas versteht. Bleiben wir von ihm durchdrungen. Da ihr heute alle den lieben Gott in eurem Herzen empfangen habt, sei dies ein Tag des Gebetes, der Bitten an unseren Herrn. Lassen wir uns nicht nach in unseren Bemühungen, stützen wir unseren Mut, unseren Eifer.
Meine Kinder, ich muss heute über das Gelübde der Keuschheit zu euch sprechen, über das, was ihr zu machen habt, um es zu erfüllen. Wie ist das Gelübde der Keuschheit bei uns zu verstehen? Wir wollen überhaupt nichts außer dem machen, was uns der heilige Franz von Sales lehrte, denn der Sinn unserer Gelübde, das Aussehen, die Gestalt unserer Gelübde muss uns unser seliger Vater [Franz von Sales] geben.
Das Gelübde der Keuschheit verpflichtet uns, alle Gedanken zu entfernen, die gegen diese heilige Tugend sind. Das ist selbstverständlich. Der heilige Franz von Sales beharrt ganz besonders auf unserem Gespräch. Er will, dass es unbefleckt und engelhaft ist. Er lässt nicht zu, dass man von den Dingen spricht, die die Welt betreffen, von keiner Frage bezüglich der Ehe. Er will, dass man ängstlich vermeidet, das geringste Worte gesagt werden, die man in Gegenwart der Engel nicht aussprechen könnte. Unsere Gedanken dürfen sich nicht bei der Derbheit oder dem Geist der Welt aufhalten. Wir müssen es vermeide, gewisse Ausdrücke zu verwenden, die im Mund einer Nonne und vor allem einer Oblatin so unschön klingen, da in ihren Worten und in ihren Handlungsweisen alles rein sein muss. Ihr versteht also, meine kinder, was ihr gelobt und wozu ihr euch verpflichtet habt.
Ich kann nicht umhin, ein Beispiel anzuführen. Ich kannte eine Nonne, die einer heiligen Ordensgemeinschaft angehörte. Sie war sehr ordensstreng, von einer mathematischen Genauigkeit in der Beachtung der Ordensregeln, aber sie hatte oft unstatthafte Worte im Mund. Wahrscheinlich sündigte sie nicht, aber sie war in ihren Ausdrücken nicht keusch. Wohlan! Ihr Tod war einer der traurigsten für eine Nonne. Der liebe Gott behandelte sie mit großer Strenge, er schien sie nicht wie ihre Schwestern anzunehmen. Sie hatte nichts von diesem Duft, der das Totenbett der Nonne umgibt, die zum Himmel geht. Ich glaube nicht, dass der liebe Gott sie wie die anderen aufnahm. Dieses Vergessen des Gehörigen und ihres Standes ist so hässlich, so abstoßend.
Meine Kinder, wie werden wir unser Gelübde der Keuschheit erfüllen? Ihr werdet mich verstehen. Der heilige Franz von Sales sagt in seinen Ordenssatzungen: Sie dürfen nur für ihren himmlischen Gemahl leben, atmen und streben. Wenn ich euch zu Beginn der Exerzitien sagte, dass ich ganz mit dem lieben Gott vereint sein sollt, lehrte ich euch nur, was euer Gelübde der Keuschheit verlangt. Ein- und Ausatmen währt nicht lange, es dauert nur zwei Sekunden. Unser seliger Vater will also, dass alle unsere Sekunden unserem Herrn gehören, dass wir seiner Liebe angehören, das heißt, dass wir uns keinen Augenblick lang von ihm trennen.
Wir haben vielleicht nie verstanden, dass wir, um unser Gelübde der Keuschheit ganz zu erfüllen, stets und dauerhaft in der Liebe unseres Herrn sein müssen, in seiner Gegenwart und ihn nicht verlassen. Wie viele haben das gemacht? Da ist dennoch die Verpflichtung des Gelübdes der Keuschheit. Ihr kommt, um zu klagen, dass ihr keine Frömmigkeit habt. Warum? Weil ihr eure Gelübde nicht erfüllt. Ihr werdet sagen: „Ich wusste es nicht.“ Nun gut, jetzt wisst ihr es. Euer Streben soll nur dem himmlischen Gemahl gelten, für ihn allein sollt ihr atmen. Gebt ihr dem Heiland all eure Atemzüge? Sind da nicht viele unter euch, die ihm nur ein Tausendstel davon geben? Ihr kommt, um euch zu beklagen, dass ihr mutlos, antriebslos seid. Würdet ihr bedauern, eure Gelübde abgelegt zu haben? O nein, denn dann wäret ihr schon für die Zeit und vielleicht für die Ewigkeit verurteilt.
Meine Kinder, denkt daran. Ich suche nicht in der Ferne, ich erfinde nichts, in nehme den Text, sogar die Worte des heiligen Franz von Sales: Sie sollen nur für ihren himmlischen Gemahl leben, atmen und streben. Wenn wir das machen, werden wir alles gemacht haben. Versucht es! Wenn ihr nicht arm seid, wenn ihr nicht gehorsam seid, wenn ihr die Ordensregel nicht beobachtet, so erfüllt ihr euer Gelübde der Keuschheit nicht gut. Ihr werdet mir sage: „Mein Vater, wir müssen also bei jedem Atemzug einen Akt der Liebe machen!“ Aber ja, meine Kinder. Hört gut zu: So sollt ihr euch daran halten. Ihr macht einen Akt der Liebe aus ganzem Herzen, in dem ihr einen Gedanken des Direktoriums nehmt. Und eine Viertelstunde später nehmt ihr einen anderen Atemzug des Direktoriums. Ihr habt dem lieben Gott euer Atmen geopfert. Ihr seid nun mit einer Sache oder mit einer anderen beschäftigt, euer virtueller Akt der Liebe bleibt so lange bestehen, wie ihr nicht untreu wart auf Grund des Willens, den ihr habt. Der liebe Gott will, dass wir ihm den ganzen Tag gehören. Ihr habt euren Willen nicht zurückgenommen, die Einheit bleibt. Ihr atmet nur für den himmlischen Gemahl. Wenn ich euch das sage, halte ich euch keine Exerzitienpredigt. Ich erkläre euch die Pflicht, die ihr streng erfüllen müsst. Wenn ihr sie nicht beobachtet, seid ihr keine wahren Oblatinnen.
Ich werde nicht weiter darauf eingehen, damit ihr gut unter diesem doppelten Eindruck bleibt. Ihr sollt nur für den himmlischen Gemahl atmen, und wie ich euch am Anfang sagte, euer Gespräch soll makellos und engelhaft sein.
Meine Kinder, wir lieben unseren Herrn nicht genug. Deshalb sind wir ohne Mut, ohne Tugend. Durch die Einheit mit unserem Herrn können wir alles. Ohne ihn sind wir nichts, können wir nichts. Das muss der Grund unserer Handlungsweisen sein. Es muss jede Oberin die Seelen immer zu unserem Herrn, zu seiner Liebe, zum Leben des Heilands zurückführen, sich für sich selbst und für die anderen daran erinnern. Sie muss ihre Mitschwestern daran erinnern, dass es im Leben der Oblatin nichts für sich selbst geben darf, sondern dass alles für unseren Herrn sein muss, dass er in allem an erste Stelle stehen muss, und wenn man sie ihm nicht gibt, geht er weg, und dann gelingt nichts mehr. Schließlich muss jede unseren Herrn lieben und ihm ganz gehören. Sie soll sich bei ihm halten und machen und wollen, was er will. Versteht es gut: wir sind nicht Nonnen, um dies oder das zu machen, wir sind es viel mehr, um unseren Herrn vollkommen zu lieben.
Hört also gut auf den Heiland, meine Kinder, prüft, wo ihr in der Übung eures Gelübdes der Keuschheit seid, dann werdet ihr ihn um Verzeihung bitten. Unser Herr ist so gut, dass er zu barmherzig verzeiht, aber er will nicht, dass man sein anbetungswürdiges Herz neuerlich verletzt. Denkt wohl daran! Bittet ihn um die Gnade, von nun an nur noch für ihn zu atmen. Amen.