10. Vortrag: Über die Nächstenliebe
Samstag Vormittag, 3. September 1881
Bis jetzt, meine Kinder, beschäftigten wir uns mit unseren Pflichten Gott gegenüber, heute werde ich euch ein Wort über die Pflichten dem Nächsten gegenüber sagen.
Es sind die Pflichten des Zusammenlebens nicht nur aus Nächstenliebe sondern aus wahrer Liebe. Durch die Nächstenliebe liebt man; und die wahre Liebe ist nach den Gedanken des heiligen Franz von Sales etwas viel Innigeres, das die Herzen verbindet. Er sagt: „Was gibt es stärkeres als das Band der wahren Liebe?“ Dieser selige Vater liebte so sehr die wahre Liebe, dass er daran gedacht hatte, seinen Töchtern kein anderes Gelübde zu geben als das der wahren Liebe. Wohlan! Meine Kinder, wenn das der Wunsch des heiligen Franz von Sales war, versteht ihr, wie sehr wir verpflichtet sind, seinen Gedanken zu entsprechen, indem wir die heiligen Gesetze der Nächstenliebe beobachten. Aber dazu bedarf es einer besonderen Gnade.
Man ist nicht großmütig genug, um aufzuopfern; man liebt die anderen, weil man einen Nutzen für sich findet, aber man will seine Nächstenliebe nicht über diese Grenze hinaus erstrecken. Nun müssen wir uns im Ordensleben aber alle gegenseitig lieben, und umso mehr, also wir dazu keine natürlichen Neigungen haben. Trotz aller Schwierigkeiten müssen wir die wahr, heilige liebe üben. Welches Mittel werden wir anwenden, um dahin zu gelangen? Es ist vielleicht mühsam, aber es ist einfach.
Fassen wir jeden Morgen den Vorsatz, die wahre Liebe zu unseren Mitschwestern zu üben. Sagen wir: „Ich werde zu dieser oder jener in Beziehung treten, unter diesem Umstand, der mich etwas kostet. Ich werde nicht gegen die Nächstenliebe fehlen.“ Vergessen wir nicht, dass wir, nachdem wir unsere Pflichten gegenüber Gott erwogen haben, an unsere Pflichten dem Nächsten gegenüber denken. Sagen wir also: „Heute werde ich jener Mitschwester dies machen, und ich werde dieser Schwierigkeit entgegentreten können.“ Fassen wir dann einen großmütigen Vorsatz und legen wir ihn in das Herz unseres Herrn. Bitten wir ihn um seinen Segen und begeben wir uns an unsere Arbeit, die die Nächstenliebe sehr fruchtbar machen wird. Wenn wir in der Nächstenliebe sind, sein wir im lieben Gott, ohne die Nächstenliebe bleiben wir nur in uns selbst.
Das ist also, meine Kinder, der Vorsatz, den ihr jeden Morgen fassen sollt. Ich möchte, dass ihr euer Versprechen, euer Gelübde der Nächstenliebe in der Danksagung nach der Heiligen Kommunion erneuert. Bittet unseres Herrn um die Liebe zu den anderen, wie er uns geliebt hat, wie er uns liebt. Bereitet eure Übung der Liebe zu Gott und zum Nächsten vor. Es ist weniger schwierig mit dem lieben Gott als mit dem Nächsten, deshalb muss man sich am Morgen, während seiner Danksagung, umso mehr auf die Begegnungen des Tages vorbereiten, die man mit den Nächsten haben wird. Richtet dann während des Tages jedes Mal, wenn ihr mit euren Mitschwestern in Verbindung treten müsst, eure Absicht aus, nehmt im Vorhinein alles an, was euch an Mühevollem, an Abtötung treffen kann. Ihr werdet also die Sicht, die Erleuchtung haben, um die Nächstenliebe, die Herzlichkeit, die wahre Liebe zu verstehen.
Meine Kinder, übt gerne die Nächstenliebe. Sehr unseren Herrn, wie sehr er diese Tugend hegte! Er übte sie bist zu Qual des Kreuzes. Hatte er Gründe, uns so zu lieben? Weit entfernt! Wohlan! Der Nächste hat uns nicht beleidigt, wie wir unseren Herr beleidigt haben. Lieben wir ihn also, diesen lieben Nächsten, und lieben wir ihn für Gott. Wenn wir für den Nächsten ein Opfer bringen, erinnern wir uns, dass das, was wir ihm geben, wir dem lieben Gott geben. Das Maß unserer Liebe zum Nächsten ist das Maß unserer Liebe zu Gott.
Also, meine Kinder, um die Nächstenliebe gut einzuhalten, muss man am Morgen den Vorsatz fassen, liebevoll zu sein, die Absicht gut auszurichten, jedes Mal, wenn wir dem Nächsten begegnen, die Nächstenliebe zu üben, die wahre Liebe mit jeder, schließlich den Nächsten zu lieben, wie unser Herr uns geliebt hat.
Der heilige Petrus fragte eines Tages den Heiland: „Herr, wie oft muss ich meinem Bruder vergeben …? Siebenmal?“ Und unser Herr antwortete: „Nicht siebenmal, sondern siebenundsiebzigmal“ (Mt 18,21-22). Das heißt: Immer, ohne je müde zu werden.
Macht das wohl, meine Kinder. Übt die Nächstenliebe unter allen Umständen, werdet nicht müde, den Nächsten zu lieben, ihm zu verzeihen, ohne euch an seinem Unrecht euch gegenüber zu stoßen. Verzeiht uns unser Herr nicht „siebensundsiebzig Mal“? Wird er unseres Elends, unserer Rückfälle, unseres Zurückkehrens und Umkehrens müde? Grollt er uns?
Meine Kinder, möge unsere Nächstenliebe großmütig und geduldig sein! Geben wir gerne und geben wir immer, und das im Frieden unseres Gewissens, im Opfer unseres Wohlbehagens und unserer ganzen Person. Woran wird man erkennen, Herr, dass wir deine Jünger sind? „Daran, dass ihr einander liebt!“ (vgl. Joh 13,35). Ebenso wird man an der Liebe, die ihr zueinander habt, erkennen, dass ihr die Töchter unseres seligen Vaters [Franz von Sales] seid. O, fehlt nicht daran! Mögen eure Begegnungen einfach und herzlich sein; mögen eure Worte nichts haben, das an die Welt erinnert. Wenn ihr euch gegenseitig „Meine Schwester“ nennt, so denkt daran, dass ihr es von Herzen macht, aber es sei ohne übertriebene Zuneigung, in aller Einfachheit. Fügt keine andere Namen hinzu und entsprecht dem, was euch gesagt wird. Mehr ist nicht gut.
Seid also herzlich, aber einfach. Sprecht zueinander mit Offenheit und Liebe. In eurem Handeln behandelt euch mit Würde. Wenn ihr einander einen Gegenstand reicht, sei es mit aufmerksamer Achtung, die von Nächstenliebe zeugt, und die der Orden vorgibt. Wenn sich eine unter euch vergisst und ihr eine Klage entschlüpft, seid sehr zurückhaltend und nehmt keineswegs daran teil. Oder wenn ihr ihr antwortet, so sei es, um sie zur Nächstenliebe zurückzuführen.
Beginnt schon heute, meine Kinder, euch als wahre Töchter unseres seligen Vaters [Franz von Sales] zu zeigen. Mögen jene, die sich dazu hingezogen fühlen, das Gelübde der Nächstenliebe ablegen. Es macht unsere Handlungen verdienstvoller, weil das Gelübde ein Akt des Glaubens, ein heiliger Akt ist. Das geweihte Brot hat eine Eigenschaft, die das gewöhnliche Brot nicht hat. Ebenso ist es mit einer Handlung, die Kraft eines Gelübdes gemacht wurde. Das ist geweihtes Brot. Das Gelübde verleiht unseres Handlungen den Segen Gottes. Was man ohne Gelübde macht, ist gewöhnliches Brot.
Bitten wir den Heiland, der in unserem Herzen ist, uns die heilige Nächstenliebe gut verstehen zu lassen. Amen.