6. Vortrag: Über den Gehorsam - Fortsetzung
Mittwoch Abend, 31. August 1881
Meine Kinder, wir unterhielten uns schon ausführlich über euer erstes Gelübde des Gehorsams und über die Art, wie ihr ihn üben solltet. Heute Vormittag sagte ich euch, dass ihr der Ordensregel gehorchen müsst. Heute Abend lenke ich eure Aufmerksamkeit auf das, was ich die innere Beobachtung nennen werde, auf den Geist, in dem ihr eure Aufgaben erfüllen sollt.
Um diese innere Übung der Ordensregel zu begünstigen, meine Kinder, habt ihr euer Direktorium, und ihr könnt euch nicht ohne Erlaubnis befreien es zu üben. Nun ist es nicht leicht, das Direktorium zu erfüllen. Man braucht dazu viel Aufmerksamkeit, Großmut und Treue. Doch ohne das Direktorium würdet ihr nicht Oblatinnen sein. Zwar gestattet der heiligen Franz von Sales jene Nonnen von den Gedanken des Direktoriums zu befreien, die zur Vereinigung mit Gott, das heißt zur Liebe des Wohlgefallens oder zur völligen Einheit des Herzens mit dem Willen Gottes gelangt sind, aber man muss erst dorthin kommen. Also müssen diejenigen, die glauben, aus diesem oder jenem Grund das Direktorium nicht ganz üben zu können, es sagen. Es steht der Oberin zu, sie von dem zu befreien, was sie für angebracht halten wird.
Meine Kinder, wenn man ein Jahr lang das Direktorium sehr gut übt, ist es unmöglich, dass man, wenn schon nicht eine Heilige, so doch wenigstens eine sehr gute Nonne wird, die Gott angenehm ist. Man kann es nicht sogleich sehr gut üben, aber in dem man lernt, es zu üben, lernt man Gott zu lieben. Mit jeder Übung aus diesem kleinen Buch kauft man eine kostbare Perle des Himmelreiches. Mit der getreuen Übung des Direktoriums werdet ihr das Herz Gottes verdienen. Und der Heiland wird in dem Maße bei euch sein, als ihr durch das Direktorium bei ihm sein werdet. Seine Seiten sind ebenso viele Banknoten, mit denen ihr die Freundschaft unseres Herrn kaufen werdet. Es ist, als würde er euch sagen: „Ich werde mich verkaufen; die Liebe wird mich kaufen.“
Sprechen wir jetzt, meine Kinder, vom zweiten Teil der Verpflichtungen des Gelübdes des Gehorsams.
Wem müssen wir gehorchen? Wir müssen zuerst dem Papst gehorchen, der das Oberhaupt der heiligen Kirche ist, und unseren gesetzmäßigen Oberen, das heißt denen, die von ihm die Macht empfingen zu leiten. Unser heiliger Vater, der Papst, ist die erste Autorität. Dann kommt der Bischof, der im Namen des Papstes über seine ganze Diözese und besonders über die Ordensgemeinschaften wachen muss. Wir müssen ihm gemäß unseren Satzungen gehorchen. Wir müssen der Generaloberin gehorchen, die vor Gott, vor der Kirche, vor der ganzen Kongregation verantwortlich ist. Wir müssen der örtlichen Oberin gehorchen, die das Haus über hat, in dem wir leben; und wir müssen unserem Gründer gehorchen.
Ich habe gesagt, meine Kinder, dass man der Generaloberin gehorchen muss. Sie verkörpert die Autorität Gottes. Die Generaloberin hat die Macht, in besonderen Fällen von der Ordensregel zu befreien, aber sie kann nichts daran ändern. Die Oberin soll nicht zu großzügig Befreiungen gewähren, denn wenn man zu leicht Erlaubnisse gewährt, wird sie schließlich die Ordensregel angreifen. Die große Pflicht der Generaloberin ist es, darauf zu achten, dass die Ordensregel eingehalten wird. Jede Oberin hat in dem Haus, in dem sie ist, dieselbe strenge Verpflichtung, und ich wiederhole, meine Kinder, was ich euch heute Vormittag sagte, die Oberin wird Rechenschaft ablegen über alle Fehler, die infolge ihrer Nachlässigkeit begangen wurde. Weil bei Nichtbeachtung die Ordensregel die Frömmigkeit sich abschwächt und schließlich verloren geht.
Es muss also die Oberin sehr darauf bedacht sein, nicht die Fehler der anderen auf sich zu laden. Sie hat genug eigene. Sie wird Gott große Rechenschaft ablegen müssen. Die Oberin, die nicht für die Beobachtung der Ordensregel sorgt, hat mehr Schuld als ihr, die ihr die Ordensregel nicht beobachtet. Ich sage es noch einmal, meine Kinder. Die Generaloberin, die Oberinnen der einzelnen Häuser müssen für die Beobachtung der Ordensregel sorgen, und sie haben eine viel größere Pflicht als ihr. Ihr dürft nicht glauben, dass es darin eine übergroße Strenge gibt. Wenn ich sage: die Oberin ist verpflichtet, so ist das, weil es für sie ein äußerst strenges Urteil geben wird, das allerhärteste – durissimum – ist das Wort der Heiligen Schrift.
Die Generaloberin hat das Recht euch zu befehlen, euch hierhin oder dorthin zu schicken. Sie wird es nicht machen, ohne Rat einzuholen, ohne gebetet zu haben. Ihr müsst ihr gehorchen. Manchmal werdet ihr die Mühe fühlen können, es ist sogar erlaubt zu weinen. Hat unser Herr nicht beim Tod des Lazarus geweint? Aber es sollen sich unser Wille und unsere guten Vorsätze nicht in den Tränen ertränken.
Die Oberinnen der Häuser müssen monatlich der Generaloberin schreiben, um ihr Rechenschaft zu geben über die Beobachtung der Ordensregel und die Angelegenheiten des Hauses, außerdem was ihnen persönlich ein Anliegen ist. Die anderen Schwestern können es einige Male im Jahr machen. Wohin ihr also geschickt sein werdet, müsst ihr der Generaloberin schreiben und sie über alle Angelegenheiten auf dem Laufenden halten.
Meine Kinder, ihr müsst in allem der Oberin unterworfen sein. Ich rate euch sehr, ihr monatlich über eure Tätigkeit und die Art wie ihr die Ordensregel übt, getreu Rechenschaft zu geben. Man muss es also sehr einfach mit offenem Herzen machen. Wenn ihr mit eurer Oberin zusammenkommt, habt Vertrauen zu ihr. Man soll nicht Rahel, Jakobs Frau nachahmen. Sie hatte ihre kleinen Götzenbilder im Sattel ihres Kamels versteckt und nahm sie mit nach Palästina (Gen 31,34). Der Teufel förderte ehedem den Kult der falschen Götter. Er ließ sich in verschiedenen Formen verehren. Heutzutage, wo man sagt: es gibt keinen Gott mehr, arbeitet er anders. Man soll also keine versteckten Figuren haben, man soll keine kleinen Münzen haben, sondern die Dinge mit spontaner Hingabe, einfach, großmütig und vertrauensvoll sagen.
Meine Kinder, die Oberin hat die Autorität, sie gibt den Schwestern die Erlaubnisse und die notwendigen Ratschläge, aber sie muss ihr Amt im Geist der Demut ausüben, sich vor dem lieben Gott unter ihre Schwestern stellen. Wenn die Schwestern ihrerseits zu ihrer Oberin Zuflucht nehmen, sollen sie es sehr einfach, sehr zart tun. Es ist eine gute Übung der Demut. Wenn nun diese Demut eine schwer zu übende Tugend ist, lässt sie sehr viele Übel vermeiden. Seht, es ist wie bei einem Kranken, der nur genesen kann, wenn er eine Medizin nimmt, wenn er sie nicht schluckt, begibt er sich in die Gefahr zu sterben.
Da ist eine Schwester, die eine Abneigung für die Übung der Ordensregel oder für ihre Tätigkeit hat, oder eine Schwierigkeit mit dem Nächsten. Ist es richtig, wenn sie es nicht nur ihrem Beichtvater, sondern auch ihrer Oberin sagt? Ja, wenn sie glaubt, dass es ihr nützlicher ist. Und gewiss wird ihr die Oberin wertvolle Ratschläge geben können und indem sie die Last mit ihr trägt, wird sie ihre Bürde um einen Teil erleichtern.
Ihr schuldet der Oberin auch Gehorsam für gewisse Dinge, die nicht in der Ordensregel enthalten sind, die sie aber für die Beobachtung der Gelübde oder für das gute Funktionieren des Instituts für notwendig hält. Man muss sehr genau sein, wenn man sie um Befreiung bittet, denn man muss ganz unter dem Gehorsam in der Ordensabhängigkeit leben.
Hört mir jetzt gut zu, meine Kinder. Die Lage der Oberin eines Hauses ist manchmal schwierig, heikel. Man soll es ihr nicht härter machen, als es schon ist. Ihr schuldet ihr Achtung und Gehorsam. Sie hat Autorität über euch, obgleich ihre Autorität nicht so weitreichend ist wie die der Generaloberin. Seid also immer sehr herzlich, sehr unterwürfig, sehr vertrauensvoll zu ihr.
Gehorchen muss man der Generaloberin, den Oberinnen der einzelnen Häuser. Man muss auch den Amtsschwestern gehorchen. Wenn ihr findet, dass man euch nicht angebracht befiehlt, gemäß eurem Urteil, gehorcht dennoch einfach. Wenn ihr sehr gehorsam wäret, würde der liebe Gott Wunder wirken, und was man euch unangebracht befohlen hätte, würde gerade gelingen. Wenn ihr nicht genügend Tugend habt, um das zu erhalten, könnt ihr eine achtungsvolle Beobachtung machen, indem ihr bereit bleibt, euch dem Bescheid zu unterwerfen, der euch gegeben wird.
Ihr schuldet euch auch untereinander bis zu einem gewissen Grad Gehorsam, weniger achtungsvollen aber liebevollen und herzlichen Gehorsam. Eine Schwester tut euch den Wunsch kund, dass ihr ihr einen Dienst erweisen sollt. Ihr müsst ihn ihr erweisen, soweit es euch möglich ist und als ob es für unseren Herrn wäre.
Mit einem Wort, meine Kinder, wir müssen sehr unterwürfig sein und uns erinnern, dass unser Gehorsam wie der unseres Herrn sein soll, er muss uns das Leiden fühlen lassen, und dass es für uns keinen besseren Gehorsam gibt als diesen. O, wenn wir so handeln, würden wir Zeichen der Macht Gottes sehen, denn der Gehorsam ist sehr nutzbringend. Die ohne Gehorsam gemachten Handlungen sind steril, mit dem Gehorsam bringen sie reiche Früchte.
Ich erinnere mich an ein Beispiel, das uns ehedem bei Exerzitien im Seminar angeführt wurde. Ein Jünger des heiligen Kolumban erfährt, dass die Graubündner in der Schweiz noch Heiden sind. Er bittet, sie missionieren zu dürfen. Sein Oberer will ihn im Kloster zurückhalten, dennoch reist er ab. Er kommt bei den Graubündnern an und ist ganz erstaunt, die Dörfer verlassen vorzufinden. Man sagt ihm: „Heute ist das große Fest zur Ehren der Götter.“ Er geht in den Tempel und predigt diesem Volk den wahren Gott. Diese Leute hören ihm gerne zu und sagen ihm: „Was du da verkündest, ist sehr schön, aber gib uns einen Beweis, dass deine Aufgabe vom Himmel kommt.“ Unser Geistlicher stimmt zu. Man geleitet ihn zur mit Bier gefüllten Wanne, die man den Götzenbildern anbieten wollte. Er macht das Kreuzzeichen und bläst darauf. Die Wanne zersplittert. Als die Heiden das sehen, sagen sie: „O, welch mächtigen Atem hat dieser Mann!“ Aber dieses Wunder bekehrt niemanden. Später bewirkte dieser gute Mönch sehr fruchtbare Bekehrungen aber aus Gehorsam.
Meine Kinder, gehorchen wir also auch ganz, was unsere Beobachtung der Ordensregel verlangt und denken wir daran, dass unser Herr bis zum Tod und bis zum Tod am Kreuz gehorsam war. Amen.