5. Vortrag: Über den Gehorsam - Fortsetzung
Mittwoch Vormittag, 31. August 1881
Meine Kinder, ihr habt gestern gehört, wie ihr euer Gelübde des Gehorsams verstehen müsst. Ich wiederhole es, dieses Gelübde hat bei den Oblatinnen eine besondere Eigenheit: ihr Gehorsam muss dem unseres Herrn völlig gleichen, und da der Heiland den Gehorsam im Leiden lernte und das Leid das Maß seines Gehorsams war, ist der Gehorsam einer Oblatin nicht vollständig, wenn kein Leid dabei ist. Warum das? Da die Oblatin keine großen körperlichen Strengen haben, müssen sie umso mehr die innere Abtötung üben, um sie zu ersetzen.
Jedes Mal, wenn uns die Ordensregel, das Direktorium etwas kosten, sind wir sicher, den Gehorsam zu erfüllen, wie eine Oblatin ihn üben soll. Ich weiß wohl, dass der heilige Franz von Sales sagt, dass es im Ordensleben einer Anziehung bedarf. Aber was ist die Anziehung? Es ist ein inneres Gefühl, das uns nicht ohne innere Freude verstehen lässt, dass wir sind, wo wir sein sollen. Die Anziehung ist kein natürliches Lieben, sondern sich aus ganzem Herzen dem hingeben, was Gott verlangt, was immer es kostet. Die Heiligen erfüllten, was Gott von ihnen verlangte, und machten es nicht, ohne zu leiden. Hätten sie es anders gewollt? O, nein! Dies dargelegt, wem schulden wir den Gehorsam, den wir versprechen, und wem versprechen wir zu gehorchen? Wir versprechen zu gehorchen unseren Oberen gemäß unserer Ordensregeln, unserer Satzungen und unseres Direktoriums.
Meine Kinder, ihr müsst wohl von dem durchdrungen sein: Es ist unmöglich, dass ihr Nonnen seid, wenn ihr eure Ordensregel nicht genau ausführt. Ihr habt versprochen, euren Oberen gemäß der Ordensregel, den Satzungen und dem Direktorium zu gehorchen, aber wisset wohl, ihr habt euch durch ein Gelübde dazu verpflichtet. Und diese Verpflichtung ist absolut: Man glaubt manchmal, dass man die Regel übt, wenn man, um sich von einer oder mehreren Übungen zu befreien, sich eine halbe Erlaubnis verschafft, die man auf unbestimmte Zeit verlängert. Aber nein, das ist keine treue Erfüllung der Ordensregel.
Es muss also jede ihren ganzen guten Willen einbringen. Es sollen die Oberinnen darauf achten, dass die Ordensregel genauestens beachtet wird, ich sage nicht hart, denn das ist nicht unser Geist. Der heilige Franz von Sales lehrte, dass ihnen umso besser gehorcht wird, je weniger sie von ihrer Persönlichkeit hineinlegen. Sie müssen sich also bemühen in der Führung und in den Beziehungen zur Gemeinschaft sanft zu sein, aber sich strengstens an die Ordensregeln zu halten, einen Handschuh aus Seide, aber eine Hand aus Eisen zu haben.
Jede von euch, meine Kinder, ist verpflichtet, die Ordensregeln zu beobachten. Und die Oberinnen haben die Verpflichtung, ihre Erfüllung zu veranlassen und sie selbst zu üben. Das Urteil Gottes über die Einhaltung der Satzungen wird nicht nur streng sein, sondern hart, äußerst hart für die Personen, die damit beauftragt sind, darauf zu achten, dass sie befolgt und geachtet werden. „Die, welche befehlen“, sagt die Weisheit, „werden äußerst streng beurteilt werden.“ (vgl. Weish 6,5) Es möge also jede Schwester wissen, wenn die Oberin ein wenig Glauben und Gottesfurcht hat, sie sich nicht mit den Schulden der anderen belasten kann. Man muss den Oberinnen diese Seelenangst so weit wie möglich erleichtern.
Meine Kinder, halten wir uns vor allem an die Beobachtung der Ordensregeln. Möge in allen Häusern die Ordensregel genau geübt werden. Wenn wir es genau machen, werden wir von vielem gegenwärtigem und kommendem Übel befreit werden. Wenn wir treu sind, wird der liebe Gott mit uns sein, er wird uns nicht verlassen, er wird eher ein Wunder wirken, wir können damit rechnen. Wir finden dafür die Versicherung in den Versprechungen der guten Mutter Marie de Sales Chappuis, von meiner Schwester Marie-Geneviève. Üben wir also die Ordensregel in allem und für alles. Möge sich jede liebevoll einordnen und sich bemühen ihr Amt zu erfüllen, ohne gegen die Ordensregel zu fehlen. Die Ordensregel ist die Grundlage, sie ist das Ordensleben. Das Übrige ist eine an die Ordensregel gebundene Funktion. Ich selbst wäre schuldig, wenn ich über die Beobachtung der Ordensregel nicht wachen würde. Und unsere Mutter [Generaloberin] wäre es ebenfalls, würde sie nicht darauf achten, dass die Ordensregel beobachtet wird. Das Amt der Oberin – ich wiederhole es – ist mehr zu fürchten als die niederen Funktionen, weil die Urteile Gottes sehr streng für die sein werden, die die Beobachtung der Ordensregel durchführen lassen müssen, und die es nicht gemacht haben werden. Ich übertreibe nicht. Die Schriften der heiligen Väter, besonders des heiligen Bernhard, zu diesem Thema sind alle voll in dem Sinn, den ich hier angebe. Wenn ich euch die Beschlüsse der Päpste und der Konzilien über die Leitung von Ordensgemeinschaften vorlesen würde, würdet ihr sehen, mit welcher Strenge sie diese Fragen behandeln. Bei uns ist diese Strenge durch die Anmut des heiligen Franz von Sales gemildert, aber die Verpflichtung dazu ist nicht weniger groß. Fasst also alle gut den Vorsatz, die Ordensregel zu beobachten und ihre Beobachtung zu veranlassen, denn die genaue Beobachtung der Ordensregel ist die große Tugend einer Nonne.
Ich bringe ein Beispiel. In meiner Kindheit kannte ich eine gute, sehr lebendige, lustige, immer zur Freude bereitet Schwester der Vorsehung. Dennoch beobachtete sie genau die Ordensregel, obgleich es nicht in ihrem Naturell lag. Wohlan, sie starb wie eine Heilige, und das Gute, das sie tat, besteht noch heute. Eine Person sagte mir: „Dieses Gute kam von der großen Beachtung der Ordensregel, wovon jeder erbaut war.“ Ich gebe euch dieses Beispiel, weil es mir aufgefallen ist. Es ließ mich die Beobachtung der Ordensregel sehr schätzen.
Meine Kinder, ihr müsst euch ganz genauso an die Beobachtung der Ordensregeln machen. Diejenige, die einige Punkte der Ordensregel nicht einhalten könnte, wird dies nur mit einer sehr sicheren Erlaubnis tun und diese monatlich erneuern lassen. Was ihr macht, ist nichts. Vom lieben Gott wird die Ordensregel in Rechnung gestellt. Das ist der Glockenschlag, die angegebene Stunde, man muss unterbrechen, einen Brief unvollendet lassen. Wir dürfen nie eine Übung ohne Erlaubnis auslassen. Wir müssen in der Ordensregel sein. Ohne formale Erlaubnis dürfen wir nichts außerhalb machen, und wir müssen sie erneuern, wenn die Dispens verlängert werden muss. Schließlich muss uns die Ordensregel in allem und überall halten.
Ich muss abkürzen. Wir sind schon am dritten Tag der Exerzitien. Aber ich wiederhole es: die Oberin muss die Ordensregel genau beobachten lassen. Sie wird über die geringste Auslassung, die sie aus Schwäche durchgehen ließ, Rechenschaft ablegen. Seht, welch strenge Strafe der Hohepriester Eli erhielt, weil er seine Kinder nicht zurechtwies! (vgl. 1 Sam 2,30-32). Die Schwestern werden als die Liebe haben, solche Bestrafungen nicht auf die Oberen herabzurufen.
Meine Kinder, ich bitte unseren Herrn, der eine lebende Ordensregel war, euch das Licht für das zu geben, was ich euch empfehle. Seht ihn bei der Hochzeit von Kana (Joh 2,1-12). Die heilige Jungfrau bittet ihn um ein Wunder mit den Worten: Sie haben keinen Wein mehr. Unser Herr antwortet ihr: „Meine Stunde ist noch nicht gekommen.“ Und bewundert die Unterwerfung der heiligen Jungfrau: „Was er euch sagt, das tut!“ Sie sagt ihnen also nicht, auf ihren Standpunkt zu beharren, sondern zu warten, ihrem Sohn zu gehorchen. Sie achtet den Augenblick des lieben Gottes. Der Augenblick des göttlichen Willens ist die Stunde des Heilands. Macht es so, meine Kinder, gehorcht augenblicklich: eher ist es nichts, später ist es nichts wert.
Also, der Gehorsam zur Ordensregel. Es ist notwendig, dass man sich in jedem Haus mehr denn je daran macht mit großer Treue. Und überall soll jede eine lebendige Ordensregel sein. Würdet ihr nur zwei sein, muss die Ordensregel beobachtet werden, wie sie euch kundgetan ist. Wenn gewisse Punkte wegen der geringen Zahl nicht erfüllt werden können, werdet ihr machen, wir man euch sagen wird. Die Oberin wird gewissenhaft schauen, dass alles beobachtet wird. Wenn sie darin fehlt, wird sie ihre Kulp sagen und sich beim heiligen Gericht dafür anklagen, weil sie einen Fehler gemacht haben wird, der wegen der Folgen schwer sein kann.
Meine Kinder, versteht die Wichtigkeit dessen, was ich euch soeben sagte und macht euch daran, es zu üben. Zuerst die Ordensregel, dann das übrige. Wir werden uns über die Fehler erforschen, die wir gemacht haben. Die Oberinnen über die Fehler, die sie gemacht haben, und über die, die sie machen ließen. Dies möge heute euer innere Beschäftigung sein. Haltet euch noch näher beim Heiland, der die von seinem Vater festgesetzte Stunde nicht vorverlegen wollte. Bittet ihn, er möge euch zeigen, worin ihr gefehlt habt, damit ihr gut beichtet. Amen.