4. Vortrag: Über die Gelübde im Allgemeinen. Über den Gehorsam
Dienstag Abend, 30. August 1881
Meine Kinder, tun wir unser Möglichstes, um während der Exerzitien sehr gesammelt und sehr fromm zu sein? Wir behandeln in diesen gnadenreichen Tagen die Dinge des lieben Gottes. Wir müssen mit unserer Seele und unserem Herrn allein sein.
Vor Kurzem war ich bei Exerzitien der Diözese. Ich habe gefühlt, dass es gut für mich wäre, mich mit all diesen ehrwürdigen Priestern zu vereinen. Man betete laut den Rosenkranz so fromm, dass mir der Gedanke kam, ihn für euch zu beten. Ich empfehle euch innigst, sehr auf diese beiden Punkte zu achten: die Frömmigkeit und die Gottesliebe.
Meine Kinder, ihr seid Professschwestern, das heißt, ihr habt Gelübde abgelegt. Nun sind das sozusagen drei Gebote, die den zehn Geboten hinzugefügt wurden. Ich spreche nicht von den Geboten der Kirche, weil viele Fälle von diesen Geboten befreien. Wenn ihr krank seid, könnt ihr am Freitag Fleisch essen, zur Erntezeit, im Fall höchster Dringlichkeit, kann man am Sonntag arbeiten. Wenn ihr in einem Land seid, in dem es keine Priester gibt, seid ihr nicht verpflichtet, das Sonntagsgebot zu erfüllen.
Eure Gelübde nun sind ein Gesetz, das euch beständiger verpflichtet als die Gebote der Kirche. Ihr habt vielleicht nie daran gedacht, aber eure drei Gelübde sind wahrlich drei Gesetze, die euch auf gleiche Weise wie die Zehn Gebote verpflichten. Ihr habt also sozusagen dreizehn Gebote zu beachten. Die zehn ersten werden euch wie alle Christen auferlegt, und die drei anderen habt ihr zu halten versprochen. Ihr müsst sie einhalten, sonst verliert ihr eure Berufung, euer Glück, vielleicht beeinträchtigt ihr sogar euer ewiges Heil, denn wer weiß, was aus einer Person wird, die ihren Gelübden untreu ist? … Ich wäre weniger beunruhigt über das Heil eines großes Sünders, ja, eines großen Sünders, denn im Augenblick des Todes wird diese Seele mit der Reue der Vergebung ihrer Fehler erhalten, vor allem, wenn sie die Absolution erhält. Aber einer Nonne, die ihren Gelübden untreu ist, einer Nonne, die ihre Berufung verlässt, wie schwer wird es ihr fallen, etwas tief zu bereuen, das sie gemacht hat, weil sie es vorsätzlich wollte! Man muss wohl fürchten, dass sie kein Erbarmen erhalten wird.
Meine Kinder, ich übertreibe nicht, was ich euch sage. Ich denke, ihr seht wie ich die ganze Schwere dieser Angelegenheit. Ich spreche hier nicht von Fehlern, die man aus Gebrechlichkeit gegen die Gelübde machen kann. Für diese hat der liebe Gott Erbarmen, ich spreche von Personen, die ohne berechtigten Grund ihre Gelübde verlassen! … Der heilige Bernhard sprach nicht anders zu seinen Mönchen, die heilige Johanna Franziska von Chantal sagte es auch ihren Töchtern, der heilige Franz von Sales hatte keine andere Lehre.
Das Ordensleben ist eine Bürde, aber eine sehr süße, sehr leichte Bürde. Unser Herr sagt es: „Mein Joch drückt nicht und meine Last ist leicht“ (Mt 11,30). O ja, Herr, das ist wohl wahr: dein Joch ist süß, das du mir auferlegst, es ist immer liebenswert. Wenn du uns eine Bürde gibst, ist sie leicht, da du dreiviertel davon trägst. Und was es auch sei, man trägt es so leicht mit dir, dass man es kaum bemerkt und unsere Schritte sogar beschleunigt. Aber wie schwer ist die Bürde für den, der sie hinter sich herzieht oder sie nicht mit Liebe trägt!
Seht diesen Holzfäller, der sein Bündel auf den Schultern trägt. Er muss sehr weit gehen, aber er ist zufrieden. Wenn er anstatt das Bündel zu tragen, es mit einem Strick durch die Dornen zieht, welche Mühe, welche schwere Arbeit! Das ist genau das Bild der Nonnen, die ihre Gelübde gut erfüllen, und jener, die sie durch die Dornen und das Gestrüpp ihres bösen Willens, ihrer Sorgen und Befürchtungen, ihrer eigenen Gedanken und Empfindlichkeiten ziehen. Durch diese tausend Dornen, von denen unser Herr spricht, Dornen, die den guten Samen ersticken (Mt 13,7). Der Vergleich ist nicht übertrieben. Also, meine Kinder, seien wir treu in der Erfüllung unserer Gelübde.
Es sind drei Gelübde. Nachdem ich euch heute Abend die Wichtigkeit der Gelübde im Allgemeinen aufgezeigt habe, werde ich damit beginnen, von der Art zu euch zu sprechen, wie ihr das Gelübde des Gehorsams betrachten müsst. Möge euch der Heilige Geist sein Licht schenken, damit ihr gut versteht, was ich euch sagen werde. Ihr werdet mir vielleicht sagen: Ist die Übung der Gelübde nicht in allen Kongregationen gleich? O, nein, meine Kinder. Nach der Theologie ist es sehr sicher, dass der Gehorsam ganz, schnell, augenblicklich und wortgetreu sein muss, aber für euch ist das nicht alles.
Hört gut zu, was ich euch sage. Der heilige Franz von Sales wollte, dass unser Gehorsam dem Gehorsam unseres Herrn ähnlich ist. Kennt ihr den Charakter des Gehorsams unseres Heilands? Ein Vers des heiligen Paulus macht ihn uns verständlich: Obwohl Christus der Sohn Gottes war, lernte er den Gehorsam durch alles, was er litt. Es war der Wille seines Vaters, dass er sich für uns opfert. Im Leiden lernte er den Gehorsam. Und er hatte keinen Gehorsam ohne das Leid. Das Maß seines Leidens war das Maß der Größe und der Qualität seines Gehorsam (vgl. Phil 2,6-11).
Die Lehre, die ich euch vermittle, ist hoch, meine Kinder, aber ich werde versuchen, sie für euch erreichbar zu machen, da sie euch den Charakter eures Gehorsams lehren soll.
Was sagt euer Direktorium? Welches Gebet sollt ihr vor jeder eurer Handlungen sprechen? Mein Gott, ich bitte dich um die Gnade, die Mühe und Abtötung, die darin enthalten sind, mit Frieden und Sanftmut zu ertragen, wie sie aus deiner väterlichen Hand kommen (vgl. DASal 12,403). Ihr müsst also zufrieden sein, in eurem Gehorsam auf das Leiden zu stoßen. Damit es ein sehr verdienstvoller Gehorsam ist, müsst ihr darin etwas finden, das euch etwas kostet. O, versteht es gut: Wir müssen in unseren Tätigkeiten immer das Leiden fühlen, einen kleinen Stachel, einen kleinen Teil von dem, was unser Herr auf dem Kalvarienberg erduldete. Sonst kann man die Freude im Gehorsam empfinden, hier genügt das nicht. Wir müssen darin auch die Bitternis des Leidens empfinden, damit unser Gehorsam dem unseres Herrn ähnlich ist.
Ihr werdet mir sagen: „Mein Vater, warum das? Das ist sehr hart!“ Meine Kinder, der heilige Franz von Sales sagte zu seinen Töchtern, dass sie zu einer großen Vollkommenheit berufen sind, und dass ihr Unternehmen das höchste ist, das man sich denken kann. Weil sie sich nicht nur mit dem Willen Gottes vereinen müssen, wie es alle Christen tun müssen, sondern auch mit seinen Wünschen, sogar seinen Absichten noch ehe sie zum Ausdruck gebracht werden. Und er fügte hinzu, falls man etwas Vollkommeneres denken könnte, würden sie ohne Zweifel dazu aufsteigen, da sie eine Berufung haben, die sie dazu verpflichtet. Was zu machen, sind wir nun hergekommen, außer uns in die Führung unseres seligen Vaters [Franz von Sales] zu begeben? Zu wem gehen wir? Warum sind wir gekommen? Ist es nicht, um den Heiland zu finden und ihm zu folgen?
Ich werde dieses Thema morgen fortsetzen. Ich wollte schon heute diese großen Grundsätze darlegen, um euch verständlich zu machen, wie euer Gehorsam sein woll. Ich wiederhole es: das Gelübde des Gehorsams wird bei den Oblatinnen nur gut geübt, wenn in seiner Ausführung etwas Mühsames ist. Wenn euch alles mühsam ist, umso besser. Das ist dann die Vollkommenheit des Gehorsams, weil ihr gelernt haben werdet, bis dahin zu gehorchen.
Ich komme wieder zu unserem Herrn zurück. Als er in die Welt eintrat, sagte er zu seinem Vater: Hier bin ich, ich komme, um deinen Willen zu erfüllen. Aber der Heiland lernte den Gehorsam durch alles, was er für uns leiden musste. Auch wir lernen den Gehorsam nur durch das Leiden. Je mehr wir leiden, desto besser üben wir ihn.
Das, meine Kinder, ist das Gefühl des heiligen Franz von Sales für unser Gelübde, das ist der besondere Sinn, den er daran knüpfte. Ist es sehr hart? O, nein! Hört diesen Abschnitt aus der Apokalypse. Der Engel erschien dem heiligen Johannes, zeigte ihm das Buch, das er in der Hand hielt, und sagte zu ihm: „Nimm und iss es! In deinem Magen wird es bitter sein, in deinem Mund aber süß wie Honig. Da nahm ich das kleine Buch aus der Hand des Engels und aß es. In meinem Mund war es süß wie Honig. Als ich es aber gegessen hatte, wurde mein Magen bitter.“ (Offb 10,9-10).
Unser seliger Vater [Franz von Sales] verwendete diesen Abschnitt im Vorwort der Ordensregel: „Kommt, o Töchter der ewigen Huld und Liebe, kommt und nehmt und esst dieses Buch, verschlingt es und erfüllt und sättigt eure Herzen damit … Das Buch wird bitter sein in eurem Innern, denn es lehrt die vollkommene Abtötung der Eigenliebe, aber es wird süßer als Honig in eurem Munde sein, weil das ein Trost ohne gleichen ist, die Eigenliebe in uns zu töten, damit die Liebe zu demjenigen in uns leben und herrschen möge, der aus Liebe zu uns gestorben ist.“ Dann fügte er hinzu: „Auf diese Weise wird sich eure sehr herbe Bitterkeit in die Lieblichkeit eines überschwänglichen Friedens verwandeln, und ihr werdet mit wahrer Glückseligkeit überhäuft werden.“ (Vorwort, Satzungen der Heimsuchung, 1862, Seite 49-50)
So, meine Kinder, müsst ihr die Übung der Ordensregel, die Übung eures Gelübdes des Gehorsams verstehen. Es sei wohl der Gehorsam des Gottessohnes, der als Mensch den Gehorsam nur durch sein Leide erfahren konnte.
Ich fasse zusammen: Unser Herr will, dass der Gehorsam der Oblatin die Bitterkeit seines Kreuzes, der Galle, die man ihm im Augenblick seines Todes reichte, beinhaltet. So also, meine Kinder, müsst ihr den Gehorsam üben, um die Pläne unseres Herrn für euch zu verwirklichen. Amen.