Exerzitienvorträge für die Oblatinnen 1881

      

3. Vortrag: Über die Treue zur Gnade der Berufung

Dienstag Vormittag, 30. August 1881

Meine Kinder, gestern Vormittag lenkte ich eure Aufmerksamkeit auf die allgemeinen Pflichten des Christen, auf die allgemeinen Pflichten der Nonnen, gegen die ihr gefehlt haben könnt. Ich rief eure Erinnerungen, euer Gewissen, eure Liebe zum lieben Gott auf, damit ihr euch vor ihm an alle Fehler eures vergangenen Lebens erinnert. Nicht, dass ich die Absicht hätte, dass ihr eine Generalbeichte im wahrsten Sinne des Wortes ablegt, aber ich will, dass ihr wohl seht, worin ihr in den Augen des lieben Gottes gefehlt habt, dass ihr vor ihm darüber Rechenschaft ablegt, was ihr bis jetzt gewesen seid, was er über euch gedacht haben kann.
Heute werde ich weiter auf dieses Thema eingehen, weil ihr nicht nur Pflichten als Christinnen und Nonnen habt, sondern ihr habt auch ganz besondere, weil durch euch die Kongregation beginnt. Ihr seid die Ersten! Die, die nach euch kommen, werden machen, was ihr gemacht haben werdet. Versteht es gut! Eure Fehler, eure Unvollkommenheiten sind sozusagen Ursprungsfehler. Die Oblatinnen, die kommen werden, werden euren Schritten folgen, sie werden euren Geist, eure Seinsweise annehmen. Ihr seht, wie wichtig für euch die Pflichten sind, die ihr ausführen müsst. Warum wachen ein Vater und eine Mutter fürsorglich über ihre Güter? Wohl im Hinblick auf die Zukunft, im Interesse ihrer Kinder. Wenn ihr mir sagen würdet: „Diese Überlegungen berühren mich wenig“, wäre dies ein Beweis, dass ihr nicht viel Herz habt oder wenig Verstand für die Dinge Gottes. Was ihr für die anderen machen werdet, wird euch nützlicher sein, als was ihr für euch allein machen werdet. Ebenso werden euch nicht nur die Fehler, die ihr begehen werdet, sondern auch die, die ihr veranlassen werdet, zur Last gelegt werden. So lange die Kongregation bestehen wird, wird der liebe Gott sie vor Augen haben, und ihr werdet die Verantwortung dafür tragen. Heißt das, dass ihr nicht gerettet werdet? Nein, aber ihr werdet nicht den Platz bekommen, den ihr bei unseren heiligen Gründern haben solltet. Es gibt viele Wohnungen im Haus meines Vaters, hat unser Herr gesagt (Joh 14,2). Es ist also unbedingt notwendig, dass ihr die Pflichten des Ordenslebens gut erfüllt. Legt euer ganzes Herz hinein.
Doch, meine Kinder, was ich euch soeben sagte, ist nicht nur eine Überlegung, die man in Betracht ziehen soll. Hört gut zu! Jedes Mal, wenn der Geist Gottes eine neue Ordensgemeinschaft entstehen lässt, braucht die heilige Kirche diese. Die Vorsehung will damit einem Übel, das beginnt oder sich verschlimmert, Einhalt gebieten und dagegen ein neues Mittel anwenden. Ich habe es euch schon oft wiederholt: als Mgr. Mermillod kam, um die ersten Schwestern einzukleiden, sagte er, dass ihr die Seelen um den Heiland versammeln sollt, sie von weither, von wo immer sie sich befinden, zu ihm führen und durch eure Tugenden, euer Wissen und eure Werke der heiligen Kirche zu Hilfe kommen sollt. Aber ihr gewinnt die Seelen nur durch eure große Treue zur Beobachtung der Ordensregeln, durch eure große Treue zu Gott und durch eure große Liebe zu ihm. Ihr habt also wichtige Verpflichtungen zu erfüllen aufgrund eurer Aufgabe. Und diese Verpflichtungen sind noch ernster wegen der Gnaden, die der liebe Gott euch allen schenkt, und die er so reichlich über die Kongregation ergoss.
Diese Gnaden, meine Kinder, zeugen von seinem Willen, von seinem Tun. Wenn unser Herr selbst zu uns kommt und sagt: „Ich will, dass das geschieht!“, was haben wir da zu antworten, was haben wir zu machen, außer ihm einfach zu gehorchen? Denkt daran: Es kommt oft vor, dass ich sage, dass es am Tag des jüngsten Gerichts Demütigungen geben wird, die schrecklicher sein werden als die der Sünde. Es werden die sein, die vom Mangel an Treue, von dem geringen Herz, das wir für den lieben Gott gehabt haben werden, Demütigungen ähnlich denen des Profeten Jonas. Der liebe Gott strafte ihn nicht für seine Sünden, sondern für seine Untreue zu seinen Befehlen. Der Herr hatte zu ihm gesagt: „Mach dich auf den Weg und geh nach Ninive … und droh ihr das Strafgericht an!“ (Jona 1,2). Und er floh auf ein Schiff, um anderswo hinzugehen.
Überlegt also, meine Kinder, ob nicht auch ihr auf ein Schiff geflohen seid, um anderswo hinzugehen, um euren eigenen Neigungen und Sichtweisen zu folgen; ob ihr nicht andere Gedanken, einen anderen Willen habt als in der Kongregation zu bleiben, deren Teil ihr seid. O, glaubt es, wenn ihr alle eurem Direktorium treu gewesen wäret, wenn ihr alle die Gabe Gottes, die unser Herr euch bereitet hat, gut empfangen hättet, würdet ihr mir sagen: „O mein Vater, fügen sie nichts mehr hinzu, es ist genug. Ich verstehe so gut die Absichten des lieben Gottes für mich, die Liebe, die er zu uns, zur Kongregation hatte, dass ich nicht mehr sehen und hören will, was der liebe Gott für uns gemacht und gesagt hat. Lassen Sie mich mit unserem göttlichen Heiland sprechen. Sein Licht lässt mich verstehen, wie viele Gnaden er in unsere Seelen goss, seine Worte sind mächtig genug, um uns zu zeigen, was wir sein sollen.“
Ja, meine Kinder, die Sache ist wirklich stark. Ich sage euch nicht, glaubt an dies, glaubt an das, ich sage euch: Wenn ihr treu gewesen wäret, hättet ihr die ganze Wahrheit meiner Worte gefühlt, weil es die Kraft, die Fülle des Lichtes des lieben Gottes wäre, die euch sehen und verstehen ließe.
Es ist unnötig, dass ich heute auf die zahlreichen Zeugnisse zurückkomme, die Gott der Kongregation gab, und was er den heiligen Seelen zeigte, die es mir mitteilten. Es ist unnötig, dass ich euch sage, mit welchen Gnaden er versprochen hat, innerlich und äußerlich die Oblatinnen und die Seelen, die zu ihnen kommen werden, zu überhäufen. Ich brauche euch nicht die Worte der guten Mutter Marie de Sales Chappuis und meiner Schwester Marie-Geneviève wiederholen, die mir sagte: „Das will der liebe Gott, dort sollt ihr arbeiten.“ Ich komme so oft darauf zurück! Ich muss euch nämlich verständlich machen, auf welch festem Grund die Kongregation errichtet ist, wie fest der Boden ist, auf dem ihr gehen sollt. Man möge die Kirchengeschichte aufschlagen und die Gründung von Ordensgemeinschaften studieren. Es ist sehr sicher, dass wenige Kongregationen derartige Zeichen des Willens Gottes bekamen. Daher macht es mir Angst, wenn ich sehe, dass ihr diesen Dingen gegenüber gleichgültig seid, wenn ich sehe, dass ihr ihnen keine Bedeutung beimesst. Ich sage dem lieben Gott: „O Herr! Werden so viele Zeugnisse deines Willens, deiner Absichten auf Seelen fallen, die nicht genug Verstand, nicht genug Herz und Großmut haben werden, um in deine Absichten einzuwilligen?“
O, achtet sehr darauf, meine Kinder, der Wille Gottes für euch ist so klar ausgedrückt! Ihr könnt angesichts solcher Zeichen nicht kalt und unempfindlich bleiben. Was wird daher mit den Treulosen geschehen? Ich weißt es nicht, aber ich weiß, dass sie ihr ewiges Glück sehr beeinträchtigen. Bedenkt das wohl. Der Wille Gottes ist klar und positiv. Wenn ich wieder auf dieses Thema zurückkomme, so weil das tief in euer innerstes Herz eingeprägt werden muss. Wenn ihr treu seid, werdet ihr es verstehen. Der Gedanken, den ich ausdrücke, wird euer Gedanke sein, ihr werdet sagen: „Ja, der liebe Gott liebt uns mehr als viele andere.“ Nehmt also euer Direktorium in die Hand, übt es getreu, und ihr werdet den Willen Gottes erfüllen. Ihr werdet also inmitten der Heimsuchungen festbleiben. Es tut wenig zur Sache, was kommen wird, ihr werdet wie ein unerschütterlicher Felsen inmitten der tosenden Wellen sein, die sich an ihm brechen.
Meine Kinder, ihr müsst ganz sein, was ihr sein sollt. Der liebe Gott hat euch zu viele Gnaden verliehen, dass es nicht anders sein könnte. Nehmt zum Beispiel ein Kind ohne Familie, das von mildtätigen Personen angenommen wurde. Dieses Kind wird schlimm, es ärgert ständig seine Adoptiveltern. Was werden sie machen? Sie werden es wegschicken. Und wenn es, nachdem es weggegangen ist, alles Schlechte über die sagt, die es so mildtätig aufgenommen hatten, welchen Platz wird es noch in ihren Herzen haben? Es wird wie ein untreuer Diener sein, wie ein Diener, der wegen Diebstahls fortgejagt wird.
Nun, wir sind die Adoptivkinder unseres Herrn. Wir sind in seiner Vertrautheit. Wir müssen uns wohl hüten, ihm Schmerz zu bereiten, im Gegenteil wir müssen uns ihm gegenüber dankbar zeigen. Wir müssen versuchen, ihn durch die beständige Übung des Direktoriums zu erfreuen. Wenn ihr also eurem Direktorium treu seid, werdet ihr unseren Herrn hören, werdet ihr seine Gegenwart fühlen. Er wird euch trösten, er wird in der Versuchung bei euch sein, zu ihm werdet ihr mühevoll und beladen kommen, und er wird euch erleichtern.
Meine Kinder, welchen Schluss müsst ihr aus dem ziehen, was ich euch soeben sagte? Dass ihr eurer Ordensregel, eurem Direktorium ganz treu sein müsst, dass ihr die großen Aufgaben des Gehorsams genau erfüllen müsst. Habt ihr es gemacht? Eine Sünde wird durch das Blut unseres Herrn getilgt. Aber das böse Wollen tilgt der liebe Gott nur, wenn man sich bessern will. Das Sakrament der Buße wirkt nur durch die Reue und den aufrichtigen Wunsch sich zu bessern. Denkt wohl daran! Es geht um euer Glück, vielleicht um euer Heil. Es ist sehr gefährlich, sich von dem Haus zurückzuziehen, in das man in Folge des Anrufs des Herrn eingetreten ist, als er sagte: „Kommt und seht“ (Joh 1,39). Denken wir heute vor unserem Herrn daran, verstehen wir es gut. Es möge der Beweggrund unserer Vorsätze, unserer Veränderung sein.
Meine Kinder, ich habe vor Gott zu euch gesprochen, und ich tat es in seinem Namen. Ich nehme keine Silbe von dem zurück, was ich euch sagte. Es ist wie das Evangelium unseres Herrn für euch. Wer das Evangelium verachtet, wird verurteilt werden. Betrachtet diese Dinge in der Stille. Schaut, was ihr gemacht habt, klagt euch schon beim Heiland an. Bereitet dann sehr klar eure Beichte vor, und wenn ihr zum Gericht der Buße kommen werdet, werdet ihr mit einigen Worten sagen, was der liebe Gott euch an Mangelhaftem in euch gezeigt haben wird. Verschließt nicht euer Herz dem Licht unseres Herrn. Sagt ihm: „Ich komme in dein Haus zurück, ich will mich nicht mehr entfernen, um in meine Gedanken zurückzukehren, in meine Abneigungen dort, es ist nicht gut. Zu dir, Herr, werde ich gehen, bei dir werde ich für immer bleiben!“ Amen.