2. Vortrag: Über den Überblick, den wir über die Gesamtheit unseres Lebens bei unserem Herrn machen sollen
Montag Abend, 29. August 1881
Meine Kinder, unser Herr hat uns heute Vormittag gerufen und gesagt: „Kommt und seht!“ (Joh 1,39). – „Kommt zu mir“. Wir haben heute gesagt, dass wir unserer Zeit bei ihm, in liebender Einheit verbringen sollen. Aber es genügt nicht, einfach nur zu kommen. Unser Herr hat uns nicht nur gesagt: „Kommt!“ Er hat uns auch gesagt: „Seht!“
Was haben wir bei unserem Herrn zu sehen? Wir haben unsere Seele, unser Gewissen, unser ganzes Leben anzuschauen. Wir müssen sehen, was wir sind, was wir gemacht haben. Wohlan! Möge jede von euch, meine Kinder, die da ist, bei unserem Herrn sich Rechenschaft ablegen über alles, was sie gemacht hat. Möge sie ihr Leben beim Heiland betrachten, der die Wahrheit ist, der nicht täuscht und nicht täuschen kann. Möge jede bis zum Grund ihrer Seele hinabgehen und in die Tage ihrer Kindheit zurückgehen! Möge sie sehen, was sie in ihren ersten Jahren bis zu ihrer Erstkommunion gemacht hat!
Deshalb, meine Kinder, sehen wir zuerst die Fanden, die wir empfangen haben, und wie wir ihnen entsprachen. Sehen wir auch, welche Tugenden wir geübt haben, die Akte der Treue, des Großmutes, die wir für den lieben Gott gemacht haben. Schauen wir dann, wie viele Fehler und Sünden uns bis zu unserer Erstkommunion von unserem lieben Gott entfernten, vielleicht sogar trennten.
Die ersten Jahre der Kindheit sind sehr wichtig. Sie haben einen beträchtlichen Einfluss auf unser ganzes übriges Leben. Sehr ein Bäumchen, das der Gärtner gepflanzt hat. Wenn es nicht aufgerichtet würde, wenn es in eine falsche Richtung wächst, wird es später ein Baum sein, der nur dazu gut ist, umgeschnitten und ins Feuer geworfen zu werden. Nun, gehen wir in unser Gewissen hinab und schauen wir nicht nur, ob wir etwas nicht gut gemacht haben, sondern auch, ob wir nicht den lieben Gott beleidigt haben. „Mein Gott, erleuchte meine Seele. Lass mich die ersten Jahre meines Lebens sehen, und welche Fehler ich gegen dich begangen habe.“
Und dann, meine Kinder, unsere erste Kommunion. Wie haben wir sie empfangen? Waren die Anlagen, die wir zu diesem großen Akt mitbrachten, sehr fromm? Und wenn wir nicht alle Anlagen einbrachten, die im Augenblick unserer ersten Kommunion erwünscht sind, wie haben wir die Jahre verbracht, die bis zum Eintritt in dieses Haus erfolgten? Waren es nicht Jahre voller Stolz, Eitelkeit, Sinnlichkeit, Eigenliebe, Jahre voller Untreue zu Gott? Man muss die Sünde fliehen … haben wir sie gemieden? Venite et vidite … Kommt und seht! Prüft das unter dem Blick Gottes.
Betrachtet dann die Zeit, die seit eurem Eintritt in die Gemeinschaft bis jetzt verfloss. Hattet ihr den ganzen Ernst, die ganze Abtötung, die ihr haben solltet? Habt ihr nicht dem lieben Gott den kleinsten Teil gegeben, und den größten Teil eurem Charakter, eurer Sichtweise vorbehalten? Habt ihr während eures Noviziats ernsthaft gelernt, was man euch lehrte? Habt ihr wohl geglaubt, was man euch sagte? Habt ihr euch allen Verpflichtungen der Ordensregel gebeugt? Seht euch das zu Füßen unseres Herrn an, zusammen mit Maria Magdalena, die in ihrem Herzen die Tage der Untreue bedachte und die Zeit beweinte, in der sie Gott nicht geliebt hatte. Und mit welchen Anlagen habt ihr die Profess gemacht? Hattet ich wohl damals die Absicht, euch ganz Gott zu schenken, rückhaltlos, grenzenlos? Habt ihr an jenem Tag eure Opferung vollständig gemacht? Prüft das sehr ernsthaft.
Meine Kinder, seit ihr Nonnen seid, hat euch der liebe Gott bei sich behalten, und seine Liebe verpflichtet euch. Indem ihr Nonnen wurdet, sind eure Verpflichtungen nicht kleiner geworden, ganz im Gegenteil. Es heißt im Evangelium: „Wem viel gegeben wurde, von dem wird viel zurückgefordert werden, und wem man viel anvertraut hat, von dem wird man um so mehr verlangen“ (Lk 12,48). Ja, unser Herr wird mehr von der verlangen, die er mehr geliebt hat, von der, die er mehr mit Gütern überschüttete. Schaut euch vor dem lieben Gott an, ob ihr das gut verstanden habt, ob ihr ganz dem treu ward, was ihr versprochen habt.
Und habt ihr seid eurer Profess Fortschritte in eurem geistlichen Leben gemacht? Denn die Gnade der Profess muss die Seele von Fortschritt zu Fortschritt bringen. Am Tag der Ordensweihe muss man alle Wirrnisse des Jahrhunderts verlassen haben, um unserem Herrn nachzulaufen und den Spuren seiner Schritte zu folgen. Wo sind wir in dieser Beziehung, meine Kinder? Prüft euch darüber. Videte … Seht euch das mit unserem Herrn an. Fragt ihn, was er darüber denkt. Er wird euch sagen: „Das habt ihr ausgelassen, jenes hättet ihr vermeiden sollen.“ Wenn wir uns ganz nahe beim Heiland halten, wird er uns zeigen, wo wir vor ihm sind.
Das ist weitgehend das, womit sich unsere Betrachtung heute Abend und morgen Vormittag beschäftigen wird. Der heilige Franz von Sales sagt, wenn man im geistlichen Leben Fortschritte machen will, muss man die Händler nachahmen. Sie ziehen jeden Abend Bilanz und vor allem am Jahresende. Sie zählen ihr Geld, prüfen ihr Ware, schauen, was sie schulden, was ihnen gebührt, sie stellen ihre Verluste und ihre Gewinne fest. Ebenso muss die Nonne während ihrer Exerzitien ihre Inventur machen, um zu sehen, ob sie gewonnen oder verloren hat.
Meine Kinder, die Exerzitien sind eine wichtige Angelegenheit. Es geht nicht nur um euer Heil, sondern um das Heil vieler in Israel. Ihr seid Oblatinnen nicht nur für euch! Und wenn ihr mit dem lieben Gott nicht alles geregelt habt, ist es unmöglich, dass ihr für die anderen Gnaden haben könnt. Handelt also wie der Händler, der alle seine Geschäfte überblickt. Und so wie ich es euch gesagt haben, dass ihr heute Abend die Jahre eures Lebens mit unserem Herrn prüfen sollt. Das sind die großen Punkte, die wir betrachten werden, die Seiten des Buches, die wir mit dem lieben Gott überfliegen werden. Er wird uns sagen, ob wir gewonnen oder verloren haben. Amen.